Revolverhelden auf Klassenfahrt

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Revolverhelden auf Klassenfahrt
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Hartmut El Kurdi

Revolverhelden auf

Klassenfahrt

Geschichten und Kolumnen

FUEGO

Über dieses Buch

Hartmut El Kurdis Geschichten und Kolumnen sind komische, erfrischend wütende, mitunter selbstironisch-sentimentale Exegesen des alltäglichen deutschen Irrsinns. Sei es in einem Kommentar zur Beschneidungsdebatte, in einem Dankesstoßgebet zum angekündigten Ruhestand des Kinderlieder-Satans Rolf Zuckowski oder in einer satirischen Meditation über Fitnesswürste mit rechtsdrehender Milchsäure – immer wird das Allgemeine mit dem Privaten und Persönlichen verwoben.

Immer wieder für Ulrike und Salima.

Und für Luzie: Que sera, sera.

Aktenzeichen XY reloaded

MANCHMAL IST MAN EINE ZEITLANG WEG, kommt zurück und ist überrascht, dass sich eigentlich nichts geändert hat. Die Betonung liegt auf »eigentlich«, denn zunächst einmal sieht ja alles ganz anders aus. Jeder kennt das vom Heimaturlaub: Wie ein Spätheimkehrer aus russischer Kriegsgefangenschaft irrt man durch die Straßen der Kindheit und wundert sich über Zerstörung und Wiederaufbau: Über potthässliche Multiplexe oder Cinemax­xe zum Beispiel – oder wie diese gigantischen Popcornbuden mit Schmodderfilmbetrieb auch jeweils heißen. Oder über das runtergeranzte Sonnenstudio, dass sich in den Räumen des damals auch schon runtergeranzten Tanzlokals befindet, in dem man zum ersten Mal hirnverflüssigende Rauchdrogen inhalierte. Nichts ist mehr so, wie es war.

Aber irgendwann kommt man immer an die eine Parkbank, erinnert sich an schüchterne und hakelige Zahnklammerküsse und ist verwundert, dass die Bank immer noch existiert. Ob es wirklich dieselbe ist, lässt sich nicht überprüfen und ist eher unwahrscheinlich. Aber sie steht an der selben Stelle und sieht auch genauso aus. Insofern stimmt der erinnerungsbefördernde Eindruck. Das reicht. Und dann wird man ruhig.

Ähnlich geht es mir auch mit medialen Phänomenen wie »Aktenzeichen XY ungelöst«, das ich mir kürzlich nach geschätzten 30 Jahren Abstinenz mal wieder anschaute. Schon als Kind rezipierte ich die Sendung als reines Humorprodukt. In einer Reihe mit »Schweinchen Dick«, »Klimbim«, der »Otto-Show« und Loriot, dessen XY-Parodie übrigens leider nur halb so komisch wie das Original ist.

Das war damals wirklich Schrullen-Comedy pur: Das XY-Mastermind Eduard Zimmermann sah aus wie der Schwippschwager von Heinz Erhardt und sprach wie ein hastig zusammengelöteter Roboter. Und selbst als Sie­ben­achtneunjährigem war mir klar, dass die nachgespielten Einbruchs- und Totmachszenen in ihrer schwarzweißen Schlichtheit nichts mit der Realität, aber auch nichts mit den mir bekannten Fernseh-Krimi-Formaten zu tun hatten, sondern eigenen ästhetischen Gesetzen folgten – die aber sicherheitshalber niemandem verraten wurden.

Ich kenne allerdings Menschen, denen die handgeschnitzten XY-Filmchen wochenlang Angst einjagten. Schon ein aus dem Off gesprochener Einstieg wie: »2. Juli 1974, ein Montag: In Dedensen, einem kleinen Ort bei Hannover, sitzt die Familie Warnke wie jeden Morgen beim Frühstück. Doch etwas ist anders an diesem Tag.«, beschrieb eine von einer schwarzen Wolke verdunkelte Normalität, die manch einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mir nicht. Obwohl ich sonst vor vielem Angst hatte. Aber nicht vor Onkel Ede.

Ich wartete stets auf den ersten schlecht nachgemachten Dialekt, die erste Liveschaltung zu Werner Vetterli in die Schweiz oder Peter Nidetzky in Wien, auf Sätze wie: »Vermutlich hat der Täter sein Aussehen inzwischen verändert und sieht jetzt so aus«, und auf das dann folgende Foto, auf dem man einen Mann mit fetten Koteletten sah, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit meinem Cousin Walter hatte. Und mit zwanzig anderen Halbstarken aus unserer Siedlung.

Und genau so ein Foto bereitete mir auch beim Anschauen des neuen »XY« wieder große Freude. Zwar ist sonst alles anders: Ede ist tot und heißt jetzt Rudi Cerne, das Studio ist groß und bunt und sieht aus wie die Kommandobrücke der »USS Enterprise«, aber die Fotos ...

In diesem Fall zeigte man zwei Bilder des ostfriesischen Tresorknackers Dietmar Linke. Eins von 1996 und dann das gleiche Foto, das – so der Beamte vom LKA Niedersachsen – mithilfe einer aufwendigen »Aging«-Computersoftware bearbeitet worden wäre. Damit könne man den Alterungsprozess simulieren und darstellen, wie Linke wohl heute aussehe. Die einzige Differenz zwischen beiden Bildern war allerdings, dass Linke auf dem neuen Foto leicht graue Haare hatte. Für die hätte man jedoch kein Computerprogramm gebraucht – da hätte es auch ein weißer Edding getan. Das fiel dann auch Herrn Cerne auf, der grummelte, dass da … naja, kein großer Unterschied zu sehen sei, um schnell zum nächsten Punkt überzuleiten: Dietmar Linkes Lache. Die sei nämlich so auffällig, dass man ihn gut daran erkennen könne. Und dann wurde sie eingespielt: die Linke-Lache. Vom Band beziehungsweise vom Computer: fröhliches, ansteckendes, fast pubertäres, glucksendes Vor-sich-hin-Gekicher.

Der Kriminaler versuchte, ernst zu kucken, und Rudi Cerne tat so, als sei er ein seriöser Moderator. Und ich lachte mit Dietmar Linke um die Wette. So, wie ich eigentlich immer schon bei »XY« gelacht hatte. Und alles war gut.

Jetzt neu: Das Ego-Deppen-Ticket der DB

MEIN LIEBLINGSSPIEL IM KINDERGARTEN war: »Mein rechter, rechter Platz ist frei.« Weil man so – »Mein rechter, rechter Platz ist frei, ich wünsche mir die Sabine herbei« – Menschen, die man attraktiv oder gutriechend fand, zumindest kurzzeitig neben sich platzieren konnte. Um vielleicht ein wenig an ihnen zu schnuppern, auch im übertragenen Sinne. Bis sie von jemand anderem wieder weggewünscht wurden. An einen anderen »rechten Platz«. Das war dann jedes Mal ein kleiner, spitzer Trennungsschmerz ...

Manchmal gab es beim Spielen auch Streit – weniger darum, wer wo sitzen sollte, als um die Wortwahl. Gewisse Personen behaupteten, das Spiel hieße »Mein rechter, rechter Platz ist leer«. Und der sich reimende Spruch lautete dann: »Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den Matze her.« Matze oder Mathias hießen bei uns alle Jungs, die nicht Andreas oder Andi hießen. Oder Thomas. Nur ich hieß Hartmut, aber das ist ein anderes trauriges Thema.

Manche meiner Mitkinder waren durch den Streit, ob es nun »leer« oder »frei« heißt, so verwirrt, dass sie sich harmoniesüchtig an beide Seiten anbiederten: »Mein rechter, rechter Platz ist leer, ich wünsche mir den Matze herbei.«

Hmm … Ich glaube, damals entstand meine Aversion gegen reimlose Gedichte: Ob Geschenktext oder Hochkultur, Christiane Allert-Wybranitz, Günther Grass oder Durs Grünbein. Für mich alles der gleiche Schmonzes. Wenn man so etwas schon schreiben muss, warum kann man es dann nicht »rhythmisierte Kurzprosa« nennen? Wieso muss da »Gedicht« draufstehen?

Eine reimlose Gedichtform finde ich allerdings super: das Elfchen. Das Elfchen ist so eine Art Kinder-Haiku. Es besteht aus elf Wörtern: In der ersten Zeile steht ein einzelnes Wort, in der zweiten zwei Wörter, in der dritten drei, in der vierten vier und in der fünften … nein, nicht fünf, sondern wieder ein Solo-Wort. Sonst wäre es ja kein Elfchen, sondern ein Fünfzehnchen.

Elfchen werden gerne in Grundschulen geschrieben, »creative writing« auf ABC-Schützen-Niveau. Ich hab grade mal gegoogelt und sofort was gefunden, geschrieben von Schülern der Klasse 2a in Harheim/Frankfurt: »Rot / Die Rose / Hat spitze Stacheln / Ich piekse mich daran / Autsch!« Oder: » Rot / Das Rotkehlchen / Es legt Eier / Das Männchen passt auf / Familie!« Dagegen kann man doch weder ästhetisch noch inhaltlich etwas sagen. Vor allem das zweite Gedicht ist z.B. gendertechnisch weit fortschrittlicher als die bundesdeutsche Familienrealität.

Aber ich bin schon wieder abgeschweift. Also, warum erzähle ich hier von »Mein rechter, rechter Platz ist frei«? Weil dieses schöne Spiel tot ist. Tot und begraben. Denn es gibt in Deutschland keine freien Plätze mehr. Und niemand wünscht sich irgendjemanden neben sich. Weder rechts noch links. Zumindest nicht in Bussen, U-Bahnen oder Zügen der Deutschen Bahn. Betritt man zum Beispiel einen beliebigen ICE-Waggon, stellt man fest: Alle Plätze sind besetzt, egal, wie viele Fahrgäste sich darin befinden, egal, wie viele zusätzlich einsteigen.

Denn auf den eigentlich freien Plätzen neben den Individualreisenden türmt sich Zeug: Tüten, Taschen, Koffer, Zeitungen, Bücher, Tupperdosen, Wasserflaschen, Unterhaltungselektronik, Mäntel, Jacken, Reptilien ... Und die ignoranten Sitzplatzinhaber tun so, als bemerkten sie die Sitzplatzsuchenden nicht. Oft muss man sie auf den Kopf hauen oder ihnen unsanft die mp3-Hörer aus den Ohren zutzeln, damit die Frage: »Ist der Platz frei?« überhaupt einen Adressaten beziehungsweise Empfänger findet.

Neulich sah ich jemanden, der auf dem Platz neben sich einen mittelgroßen schwarzen Plastikwürfel abgestellt hatte. Für einen orthopädischen Bandscheibenblock aus dem Sanitätshaus zu klein, für ein Kinderspielzeug zu groß. Es war klar: Dies war ein einzig zu diesem Zweck entworfener und hergestellter Platznebensichblockierer. Im Manufaktum-Katalog wahrscheinlich auch in »Erle Natur« oder »Bakelit« zu bestellen.

Denn das fällt auf: Oft ist es die akademische Laptop- und Tablet-Mittelschicht, die anderen die Sitzplätze zumüllt. Statt einfach 1. Klasse zu fahren, wenn sie es denn geräumiger und leerer haben wollen. So geschäftig, wie die tun, müsste es dazu doch reichen.

 

Aber vielleicht ist das ganze Phänomen auch nur ein von mir unbemerkt gebliebenes Spar-Angebot der Bahn: das günstige »Ego-Deppen-Ticket – einen Platz bezahlen, zwei blockieren!« Zumindest würde das zum geis­teskranken Gesamtkonzept der Bahn passen, dessen innere Logik man nur noch verstehen kann, wenn man sich von der äußeren Logik dieser Welt verabschiedet. Für immer.

Die Leute von der Ossi-Ranch

VIELE MENSCHEN FÜHREN PARALLEL-EXISTENZEN. Weil ein einzelnes Leben oft nicht genug ist. Aber nicht alle Zweitleben sind so verstörend, wie die der fast schon sprichwörtlichen Politiker und Manager, die sich abends von gelangweilten Dominas die Harnröhre mit drahtigen Pfeifenreinigern durchbürsten lassen, weil man das offensichtlich braucht, wenn man selbst den ganzen Tag Untergebene anschreit.

Meine Parallel-Existenz ist viel zivilisierter, aber mitunter doch prickelnd bizarr. Sie besteht darin, dass ich mit einer postmodernen, freundlich-ironischen Countryband durch die Lande ziehe und Orte aufsuche, where no man has gone before. Zumindest »no man« ohne Stetson und Cowboy-Boots.

Wichtig ist dabei, dem Country-Universum stets mit Neugierde und nie mit Hochmut zu begegnen. Das bürgerliche Dasein ist viel zu langweilig, als dass ich es nicht zu schätzen wüsste, wenn Menschen auf so sympathisch durchgeknallte Ideen kommen wie z.B. in eine Lagerhalle mitten in einem niedersächsischen Gewerbegebiet einen kompletten Western-Saloon einzubauen und dort defizitäre Country-Konzerte zu veranstalten.

Von außen denkt man: Oh, der Schuppen gehört bestimmt einem Serienmörder, der darin Frauentorsi stapelt, dann aber tritt man durch die Tür – und es ist wie bei »Alice im Wunderland«. Man steht mitten in einer Märchenwelt: Die Industrie-Blechwände sind von oben bis unten im Blockhausstil holzverkleidet, Pferdehalfter über­all, vor der Bühne stürzt ein künstlicher Wasserfall von der Wand und pünktlich um 20 Uhr taucht der örtlichen Line-Dance-Club auf, schreit »Yehaaw!« und positioniert sich tanzbereit vor der Bühne. Und die Band ist glücklich, weil sie eine praktische Aufgabe hat und nicht bloß l’art pour l’art produziert.

Am gleichen Abend – passend zur vierzehnten TV-Wie­derholung von »Brokeback Mountain« – erscheinen dann noch zwei überraschend homosexuelle Cowboys, wippen erfreut zu unserer langsamen »tear-jerker«-Ver­sion von YMCA und machen beim Aftershow-Bier klar, dass sie nur zu gerne zwei bis vier Bandmitglieder mit nach Hause nehmen würden. Und während man das Angebot zum erotischen Herren-Rodeo möglichst höflich ablehnt, freut man sich, dass die Welt nicht so eindeutig ist, wie sie oft erscheint.

Schön ist es auch, wenn man freitags im Prenzlauer Berg in einem Rock-Club von gepiercten Jung-Hedonis­ten ob des humoristischen Ansatzes bejubelt wird und am nächsten Tag als Höhepunkt des Sommerfestes eines todernsten ostdeutschen Western-Vereins spielen darf. Auf diesem Fest – das auf einem ehemaligen NVA-Gelände stattfindet – sind alle verkleidet: so weit das Auge reicht nur Hüte, Staubmäntel und Western-Petticoats. Natürlich wird man dort wegen des abends zuvor gefeierten Ironieanteils misstrauisch beäugt. Und dann erfährt man auch noch, dass der Verantwortliche für die Auswahl der Band seine stattliche Country-Vokuhila-Frisur (in Amerika heißt diese Haartracht übrigens »Tennessee Waterfall«) für uns verpfändet hat: »Jungs, wenn die eure Musik Scheiße finden, dann muss ick mir’n Kopp rasieren. Dit is der Deal!« So bangt man das komplette erste Set um die Haare des Veranstalters und hofft, dass die Colts, die die Ost-Cowboys mit sich herumtragen, nicht vielleicht doch echt sind. Und es regnet. Und das Konzert ist Open Air.

Grade als man beschließt, noch schnell alle backstage in einem Oster-Körbchen dekorierten Kirschbrände und Mini-Pflaumenschnäpse (»In eurem Vertrag steht doch, ihr wollt’n Obstkorb in der Garderobe!«) auszutrinken und dann heimlich in der Konzertpause zu türmen, fängt es an, dem Publikum zu gefallen. Wieder wird gelinedanced, dass das Stiefelleder kracht. Hinterher im NVA-Sa­loon wird man selbst auf die Tanzfläche gezerrt. Nach diversen Jim Beams dann Geständnisse: »Erst hamwer jedacht, ihr seid arrogante Wessis, aber ... aber jetzt seid ihr doch echte Kumpels!« Und dann wird’s irgendwie noch nett.

Zum Abschluss steht dann ein kleiner Mann mit Schlapphut vor einem und sagt: »Ick bin Festus Junior uss Berlin, ick steh uff New Country und FKK«, und man schaut ihm ins Gesicht und versteht sofort, warum er sich ausgerechnet diesen Kampfnamen ausgewählt hat.

Am nächsten Morgen wacht man auf, nimmt eine Hand voll Aspirin und fährt zurück in die wirkliche Welt, wo ein Mann selten noch das tut, war er tun müsste ...

Gott ist Zigaretten holen

WENN DIE EIGENE MUTTER in die Demenz abrutscht und ins Heim muss, hält sich die Komik dieses Vorgangs, gelinde gesagt, in Grenzen und ist daher vielleicht auch nur bedingt kolumnentauglich. Zumindest wenn man davon ausgeht, dass eine solche Kolumne nicht ernst gemeint ist. Nur weil sie überwiegend humoristisch daherkommt. Da ich aber schon immer der Meinung war, dass man die wichtigen Themen, egal ob sie politisch, kulturell oder einfach nur menschlich sind, nicht den literarischen Bedeutungshubern und Stirninfaltenlegern, also den allseits bekannten Ernsthaftigkeits-Darstellern überlassen darf, muss man auch über ein solch persönliches Ereignis schreiben. Sicher bin ich mir da allerdings nicht, aber wie sollte man das auch sein?

Mal abgesehen davon, dass es die kleinen überraschend komischen und absurden Momente tatsächlich ja auch gibt, wenn Muttchen zum Beispiel berichtet, dass sie am Vormittag »weg« gewesen sei. »Wo warst du denn?«, fragt man interessiert nach und erwartet eine Antwort wie »Bei der Krankengymnastik« oder »Beim Kartenspielen im Speisesaal«. Sie aber denkt kurz nach und sagt dann bestimmt: »In Palästina!«

»Aha«, nickt man und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. »Und was hast du in Palästina gemacht?«

Sie überlegt wieder einen Augenblick. »Nix, ich war da so. Mit ein paar Leuten.«

»Und zum Mittagessen warst du wieder hier?«

»Klar, was denn sonst? Es gab doch Würstchen!«

Und obwohl man es erst nicht will, muss man dann doch lachen. Und vermutlich ist das in Ordnung, aber auch dabei fühlt man sich wackelig auf den Beinen ...

Ansonsten ist man vor allem verblüfft, dass im mensch­lichen Gehirn bestimmt Areale genauso gelöscht werden können wie auf einer Computerfestplatte. So erinnert sich meine Mutter an ihre Kindheit in Oberhessen, an ihre Jahre in Jordanien – und das war’s. Sowohl ihr Leben im 60er-Jahre-England wie auch ihre letzten Jahrzehnte in Kassel – im Nebel eines Schlaganfalls verschwunden. Was vor allem verschwunden ist – und das hat bei aller Tragik doch etwas mild ironisches – ist die Erinnerung an die von ihr in den letzten vierzig Jahren gnadenlos ausgeübte Hardcore-Religion.

Meine Mutter trat nämlich Anfang der 70er Jahre den Zeugen Jehovas bei. Und ich wurde mitbeigetreten. Fortan feierten wir weder Geburtstag noch irgendeins der anderen üblichen, im Verständnis der Sekte nur pseudochristlichen, eigentlich ja durch und durch »heidnischen« Feste wie Weihnachten oder Ostern. Es gab keine Blutwurst mehr zu essen, meine Mutter hörte mit dem Rauchen auf, entließ ihren ungläubigen Freund – und selbst ich als kleiner Junge musste von Tür zu Tür gehen und die frohe Botschaft eines bald drohenden Weltuntergangs verkünden. Und ich durfte keinen engeren Kontakt zu Menschen aus der sogenannten »Welt« pflegen, keine dämonische Rockmusik hören und musste aus dem Fußballverein austreten.

Als ich schließlich pubertierte und sich damit ein weiteres Verbotsfeld auftat, ging ich zunächst kurz in die innere Emigration und desertierte dann endgültig aus der Sekte. Aber meine Mutter blieb beinhart dabei. Bis vor einem Jahr. Seitdem ist alles weg. Deleted. Zum Geburtstag wünschte sie sich Käsekuchen und ein gesungenes »Happy Birthday« und genoss sichtlich unser stolperiges Gratulationsgesummse. Beim Anblick der Schokohäschen und gefärbten Eier im Osternest lächelte sie, als begegnete sie lang vermissten alten Bekannten. Und der zu Weihnachten im Heim aufgestellte Tannenbaum erzeugte bei ihr kein angewidertes Kopfschütteln, sondern nur ungetrübte Freude und die Bemerkung: »Ja, ja, ein Weihnachtsbaum muss sein, sonst ist es ja kein richtiges Weihnachten!«

Überraschenderweise aber empfindet meine aus einsichtigen Gründen agnostische Seele keinerlei Triumph. Nur echte Verwunderung darüber, wie schnell eine solch fundamentale Veränderung passieren kann. Ein wenig erinnert mich das religiöse Reset meiner Mutter an den Fall des eisernenen Vorhangs. Gestern noch Maiparaden und Trabbis, heute schon Aldi-Nord und Toyota-Vertre­tungen.

Das einzige, was mich nervös macht, ist die Vorstellung, dass bei mir – sollte ich später mal dement werden – der ganze Zeugen-Jehovas-Schmodder aus meiner Kind­heit quasi im Gegenzug wieder hochkommen könnte. Sollte ich dann mit dem Wachtturm vor Ihrer Tür stehen, denken Sie dran: Ich war zwischendurch auch mal anders.

Wir ham euch etwas mitgebracht: Hess, Hess, Hess!

MANCHMAL IST MAN SICH SELBST EIN RÄTSEL. Obwohl mich die klassische schlampig-schlumperige Öko-Ästhe­tik nie angesprochen hat, überrasche ich mich doch immer wieder dabei, in Katalogen irgendwelcher Ökoversandhäuser zu blättern und den Erwerb von dort angebotenen Kleidungsstücken zumindest in Erwägung zu ziehen. Kurios ...

Wobei man dabei auch Interessantes lernen kann. Zum Beispiel, dass der amorphe und rustikale oldschool Öko-Style gar nicht so schlimm ist – im Vergleich zum halb­anthroposophischen, spießigen Öko-Businessschick des modernen, gutverdienenden Mittelschichtakademikers, wie ihn zum Beispiel »Hessnatur« anbietet.

Am widerlichsten in diesen Katalogen sind die Models, wobei mich selbstverständlich nicht die Künstlichkeit der professionellen Damen und Herren stört – das ist ja sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal dieses Berufsstandes –, sondern grade die gefakte »Natürlichkeit«, die ihnen dort verpasst wird.

Vor allem die Damen sehen einen wohlkalkulierten Tick unfrisierter und weniger geschminkt als im herkömmlichen Versandhaus-Katalog aus, dabei aber immer porentief rein, slipeinlagengewindelt, mit gewienerten und glänzenden Bäckchen, gerne auch mal mit keltisch rotem Haupthaar. Aus irgendeinem rätselhaften Grund gilt echtrotes Haar, wenn’s geht auch noch naturgelockt, wohl als besonders ökologisch. Nur alt dürfen die weiblichen Models auch hier nicht sein. »Öko« und »bessere Welt« hin oder her – alte Frauen sind wohl auch für die kapitalistischen Mode-Wollsocken von »Hessnatur« nicht diskutabel beziehungsweise – sagen wir, wie es ist – fuckable. Denn nur darum geht es ja im Model-Geschäft – um sexuelle Attraktivität.

Bei den Herren ist das, wie überall in der Gesellschaft, offensichtlich anders. Hier mogelt »Hessnatur« auch mal einen Silberrücken unter die juvenilen, muskulösen Naturburschen. Wobei der alte Sack – auch dies dem gesellschaftlichen Trend entsprechend – genauso aussieht wie die Jungen, nur eben mit grauem Haar – das aber nicht weniger voll und casual-mähnig ist als das der Twen-Models.

Ganz anders ist dies alles bei meinem Lieblingsökoversand, der eigentlich kein Ökoversand ist, sondern eine Schäfereigenossenschaft aus dem Allgäu. Wenn ich es dem Katalog richtig entnehme, wurde der »Finkhof« irgendwann Ende der 70er Jahre als Aussteigerkommune und Wohngemeinschaft von Mensch und Schaf gegründet und ist inzwischen ein erfreulich florierendes Unternehmen.

Aber noch immer werden hier die alten Werte hochgehalten, zumindest ästhetisch, wahrscheinlich aber auch sonst. Die Kleidung wird im Katalog größtenteils von auf dem Hof arbeitenden Menschen präsentiert, der Rest der »Models« scheinen dazu engagierte Freunde, Nachbarn oder Zufallsbekanntschaften zu sein.

Von Frisuren im herkömmlichen Sinn kann im »Finkhof«-Katalog nicht gesprochen werden, den Menschen wachsen eben Haare aus dem Kopf, mal in die eine Richtung, mal in die andere – und manchmal auch gar nicht mehr.

Bei der Unterwäsche-Präsentation fasziniert die vollkommene Abwesenheit der in diesem Bereich eigentlich schwer vermeidbaren Erotik, was nicht nur an den mäßig erregenden Produkten wie der langen Herren-Wollseide-Unterhose »mit Eingriff« liegt. Auch der »Blaue Damenpanty« und der »Rote Wollslip« werden erstaunlich keusch und unsexualisiert präsentiert. Das Höchste an Emotionalisierung ist ein romantisierendes Gegenlicht-Foto.

 

Dafür aber wird viel gelächelt auf den Bildern – und zwar das bekannte amateurhafte »Huch, ich werde ja fotografiert«-Lächeln. Auch Falten, graue Haare, Bauchansätze und sogar einen 1A-Siebziger-Retro-Schnauzbart gibt es. Was will man mehr?

Ich muss allerdings gestehen, dass ich auch beim »Finkhof« nur selten etwas bestelle, weil die Einsatzgebiete für diese Art der Mode außerhalb des Allgäus doch etwas begrenzt sind. Wobei: Vor Jahren erwarb ich dort eine Schaffellweste, die so großartig warm ist, dass sie ruhig scheiße aussehen darf. Egal, ob unter einem dünnen Jöppchen oder zur Erwärmung meines verspannten Rü­ckens – diese Weste ist unschlagbar. Als sie mir einmal abhanden kam, bestellte ich eine neue, die just ankam, als meine Freunde Wolfram und Ulrike mit ihrem Border Collie Abby zu Besuch waren. Die neue Weste stank so unglaublich nach Schaf, dass der arbeitslose Hütehund mich erst verstört anbellte und dann versuchte, mich ins Badezimmer zu treiben. Ich vermute zum Scheren ...