Revolverhelden auf Klassenfahrt

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Revolverhelden auf Klassenfahrt

VOR EINIGEN JAHREN HATTE ICH einmal das zweifelhafte Vergnügen, als Vorband für eine Teenie-Pop-Kapelle namens »Revolverheld« gebucht zu werden, in meiner Funktion als Akustik-Gitarrist und Teilzeit-Banjoist der semi-ironischen Countryband »The Twang«. Der Spaß bei »The Twang« besteht unter anderem darin, dass wir Pop- und Rocksongs von so unterschiedlichen Künstlern wie AC/DC, Adele oder Deichkind durch unseren Countryfizierer drehen und in pedalsteelgitarrenwimmernde, banjopuckernde Wüstenhits verwandeln. Alles in allem ein vielleicht schlichtes, aber dafür auch sehr unprätentiöses und unschuldiges Vergnügen.

Das Management von »Revolverheld« hatte uns aber aus einem anderen Grund gebucht: Ihre Teenie-Popper hießen irgendwas mit »Revolver«, also buchten sie für vorneweg ein paar Cowboys. Egal, ob das Publikum damit was anfangen konnte oder nicht. So weit, so witzig.

Uns war das, ehrlich gesagt, vollkommen wurscht. Wir spielen vor fast jedem Publikum, wenn es nicht grade ein NPD-Parteitag oder eine Satanisten-Convention ist. Schließlich hat man ja einen Bildungsauftrag.

Diesmal also Teenies, die meist noch gar keine Teenies waren. Das Publikum von Teeniebands ist heutzutage ja in der Regel zwischen 9 und 12. Als wir vor der »Loca­tion« ankamen, wurden wir auch schon von den grade erst schulpflichtigen Fans von »Revolverheld« erwartet. Das Öffnen der Schiebetür unseres VW-Sprinters wurde mit einem vielkehligen Kreischen kommentiert, das urplötzlich verstummte, als die Krabbelstubenkinder in unsere verwitterten Gesichter blickten.

»Wo sind denn Revolverheld?«, fragte ihre Anführerin an ihrem Schnuller vorbei.

Wir zeigten in irgendeine Richtung und logen: »Die schummeln sich grade durch den Hintereingang rein.«

Da wir grade erst angekommen waren, hatten wir noch gar nicht überprüft, ob ein Hintereingang überhaupt exis­tierte. Die Fans stürmten trotzdem davon. Dadurch bekamen wir immerhin die Möglichkeit, unser Equipment auszuladen, ohne dabei Kinder schubsen zu müssen.

Dabei fiel mir die Geschichte eines Bekannten ein, der in der Dortmunder Westfalenhalle arbeitet und erzählte, dass sich die Mädchen bei den Konzerten der internationalen Teenie-Stars mit Inkontinenz-Windeln ausrüsten, damit sie ihren durch stundenlanges Anstehen ergatterten Platz vor der Bühne nicht durch einen Toilettengang verlieren. Angesichts solcher Infos beginnt man an der Heiligkeit der Populärkultur zu zweifeln ...

Nach dem Soundcheck aßen wir im Backstagebereich erfreulich lecker belegte Brötchen. Plötzlich statteten uns die Headliner des Abends einen Anstandsbesuch ab.

Die damals noch sehr jungen Burschen (wie gesagt, es ist einige Jahre her, inzwischen dürfen sie wohl auch schon Mofa fahren) versuchten freundlich zu sein, aber unsere Welten waren einfach inkompatibel. Üblicherweise sind die Vorbands von »Revolverheld« wohl noch jünger als sie selbst und wollen dorthin, wo »Revolver­held« gerade ist. Wir aber waren zwischen 10 und 15 Jahre älter und machten ohne Ehrgeiz, aus purem Spaß Musik, noch dazu mit einer gewissen humoristischen Distanz. Niemand von uns muss mit Musik sein Geld verdienen oder will damit berühmt werden.

Nachdem die kleinen Popstars uns also ein paar nett gemeinte, aber doch irgendwie herablassende Tipps zum Umgang mit dem Publikum gegeben hatten, erzählten sie noch, dass sie am Nachmittag schwimmen gewesen seien. Einfach so, ohne dass es im »schedule« gestanden habe und ohne das Management zu informieren. Spontan und heimlich. Und darauf schienen sie sehr stolz zu sein. Allerdings habe es hinterher etwas Ärger gegeben ...

Plötzlich fühlten wir uns genötigt, den Jungs zu sagen, dass das okay ist. Dass man sich nicht alles vorschreiben lassen darf, dass man auch ruhig mal widersprechen darf, zur Not müssten sie eben den Vertrauenslehrer oder die SV einschalten. Zumindest klang es wohl so. Alles in allem ein verstörendes Gespräch.

Trotzdem gelang es uns, das Publikum angemessen zu unterhalten, obwohl dieses nicht im geringsten kapierte, was wir da taten. Nach einem albernen Winnetou-Faust-aufs-Herz-Ritual mit ihrem Manager bestiegen schließlich die »Revolverhelden« die Bühne, begannen jedes Lied mit einem kurzen Grunge-Gekrache, um es dann für den Strophen-Gesang in die typische deutsche Schlagerpopmatsche à la SilbermondJuliLuxuslärm abrutschen zu lassen.

Bei der Abfahrt wurden wir wieder von kleinen Mädchen umringt, aber nur weil sie wissen wollten, in welchem Hotel ihre Götter abgestiegen waren. Wir sagten: »Im Holiday Inn«. Eine Aussage, die erneut zwischen Vermutung und Lüge oszillierte. Denn natürlich wussten wir nicht einmal, ob es in der Stadt ein »Holiday Inn« gab.

Als wir durch die Menge der kreischende Minderjährigen fuhren, die zum Teil noch ihre am Merchandise-Stand erworbenen, ihrem Alter unangemessenen Tangas mit Revolveraufdruck in den Händen hielten, dachten wir: Gut, dass wir, wenn schon nichts vernünftiges, so doch immerhin etwas anderes gelernt hatten als Popstar.

Howard X und die schwarze Macht des ZDF

VOR UND KURZ NACH SEINER WAHL sahen wir Europäer Barack Obama als links-liberalen Messias, als eine Mischung aus Kennedy, Willy Brandt, Olof Palme und Che Guevara. Aber schon in der ersten Amtszeit wurde klar: Auch er wird Guantanamo nicht auflösen, weiter sinnlose Kriege führen und gnadenlos die Interessen der großen amerikanischen Konzerne vertreten. Als er dann quasi persönlich Angela Merkels Handy abhörte, war die Liebe endgültig enttäuscht. Das Ausmaß der Enttäuschung kann man aber nur verstehen, wenn man die vorangegangene, maßlose Verehrung genauer betrachtet.

Ich kann mich zum Beispiel nicht erinnern, dass es vorher jemals einen deutschen Schlager über einen amerikanischen Präsidenten gegeben hätte. Mal abgesehen vom Abrüstungsschunkler »Sonne statt Reagan« von Joseph Beuys: »Aus dem Land / Das sich selbst zerstört / Und uns den »way of life« diktiert / Da kommt Reagan und bringt Waffen und Tod«. Nun gut, Beuys wurde ja auch nicht als Singer-Songwriter auf die Documenta eingeladen.

An Barack Obama allerdings gibt es eine Ode von einem unserer ganz großen Musikschaffenden: Howard Carpendale. Rätselhafterweise wurde das Lied kein Hit. Auch ich hätte es fast nicht wahr genommen. Glücklicherweise aber neige ich manchmal zu unkontrolliertem TV-Genuss, und so zappte ich mich im Dezember 2008 desorientiert in Carmen Nebels ZDF-Weihnachts­show, wo ich Carpendale nachdenklich auf einem Barhocker sitzen sah. Und Musik hob an. Schon in diesem Moment spürte ich, dass gleich etwas Besonderes passieren würde.

Carpendale nennt seinen Sound in Interviews gerne »internationale Popmusik«, wir anderen, die wir nicht in Howies kleiner Parallelwelt leben, nehmen den Klang anders war: Es ist eine erbsensuppige, urdeutsche 80er-Jahre-Geräusch-Matschepampe. Wenn man ganz still ist und sich mit einer superheldenartigen Energie konzentriert, glaubt man zwar mitunter, echte Musikanteile heraushören zu können, die aber so verkocht und mit dem ESGE-Zauberstab püriert wurden, dass nur noch Moleküle davon übrig geblieben sind.

Das Intro des Songs wurde von einer jungschnatzigen, durchschnittsattraktiven Mietmusikerin gespielt, die in einem schulterfreien Abendkleid am Flügel saß und so einen schönen Gegensatz zum verlebten, bernhardinergesichtigen Carpendale bildete, der das Lied gesanglich mit folgenden Worten eröffnete: »Ich kenn ihn aus dem Fernsehen / Seit über einem Jahr / Am Anfang war ich skeptisch / Doch am Ende war mir klar / Wenn einer etwas ändert / Dann ist es sicher er ...« Und spätestens jetzt wusste ich, worum es ging, und hatte Angst vor jeder weiteren Zeile. Das konnte der doch nicht wirklich ernst meinen. Aber Howie kannte keine Gnade: »Und ich hätt auch mitgeschrien / Wenn ich dabei gewesen wär: Yes we can!«

Oh mein Gott! Howard Carpendale, der weiße Bub aus dem ehemaligen Rassistenland Südafrika, versuchte hier offensichtlich, ein Lebenstrauma aufzuarbeiten. Selbstverständlich stammt der Text dieser »Hymne der Superlative im orchestralen Soundgewand« (Presseinfo) nicht von Carpendale selbst, sondern von seinem »Freund und Texter« Joachim Horn-Bernges, auch »liebevoll Knibbel genannt« (Carpendale-Fan-Seite), der den Song allerdings auf Carpendales Aufforderung hin schrieb. Dazu Carpendale: »Ich habe in letzter Zeit mit vielen Freunden in Deutschland gesprochen und konnte die negative Stimmung nur noch schwer ertragen. Also habe ich Joachim angerufen und ihm gesagt, wir brauchen für die Weihnachtstour noch einen Song, der nach vorne geht, der den Menschen in dieser schweren und unsicheren Zeit wieder Mut macht. Ich sagte ihm einfach ›Yes We Can‹ und der Song war geboren.« Und so textete Knibbel, von Howie aufgepeitscht, gehorsam und vollrohr nach vorne: »Es war die Nacht der Nächte / Und ich war bis morgens wach / Und ich wünschte mir nichts mehr / als dass dieser schwarze Mann es schafft ...«

In Carmen Nebels Fernsehshow kam dann passend zu dieser Textzeile der schwarze Mann ins Bild beziehungsweise eine Gruppe schwarzer Menschen, die man für die Fernsehkamera in wallende Gospelkostüme gesteckt hatte. Um das Wohlwollen des weißen Mannes am Mikrofon zu illustrieren, mussten die Chormitglieder dann im Refrain »Yes we can« playbacken und dazu ihre Fäuste in die Luft recken, wie dereinst die schwarzen Lauf-Helden Tommie Smith und John Carlos bei der Olympiade in Mexiko.

Zum großen Finale dieses verstörenden Black-Power-Mini-Musicals ließ der Regisseur den Chor dann auch noch nach vorne zum Bühnenrand stampfen als befänden sie sich auf dem Marsch nach Washington. Und Howard Luther King hob an zur Moral des Songs: »Schreibt es groß auf Häuserwände / Malt die Straßen damit voll...« Ja, was denn, womit denn? Keine Macht für Niemand? Neue Männer braucht das Land? Nein: »Wir können alles, wenn wir’s woll’n«. Wer würde da widersprechen wollen? Selbstverständlich können wir alles! Sogar einen FDP-Schlager über Oba­ma schreiben, damit im Fernsehen auftreten und im Hintergrund einen Gospelchor als Schmonzettenhopse missbrauchen. Man muss nur abgefuckt genug sein. Es bleibt zu hoffen, dass Obama wenigstens auch Carpendales Erwartungen enttäuscht hat. Das wäre immerhin etwas.

 

Aus Sparschweinchens Oktavheft

ALS FREISCHAFFENDER KÜNSTLER hat man ständig Angst vor dem Verarmen. Immer, wenn ich einen Obdachlosen sehe, denke ich: So könntest du auch mal enden. Und das ist kein Spaß. Deswegen werfe ich auch jedem Bettler etwas in den Plastikkaffeebecher. Und das, obwohl ich zur extremen Sparsamkeit erzogen worden bin. Diese Knauser-Erziehung wiederum bewahrt mich davor, permanent panisch zu sein, weil ich weiß, dass ich zur Not auch mit wenig auskomme.

Ich bin nämlich ein Kriegskind. Nicht wirklich, also alterstechnisch, sondern in der Generationenfolge. Da meine Mutter 1924 geboren wurde, hätte ich theoretisch auch 1942 auf die Welt kommen können. Praktisch erblickte ich aber erst 1964 das Licht der Welt, weil sich meine Eltern im hohen Alter dann doch noch einmal zum Geschlechtsverkehr entschlossen. Ich hoffe, sie taten es nicht nur um meiner Willen, sondern hatten auch ein wenig Spaß dabei.

So wurde ich aber quasi von der Generation der Großeltern meiner Schulkameraden aufgezogen. Einer Generation, die noch von den harten Entbehrungen des Krieges und der Nachkriegszeit geprägt war und diese Erfahrungen an ihre Kinder weitergab.

Während meine Altersgenossen Tri-Top tranken, Kinderschokolade mampften, kaputtes Spielzeug einfach weg­schmissen und im Sommer auf dem Rücksitz des neuen VW-Jahreswagens nach Italien in den Urlaub fuhren, sahen meine 60er- und 70er-Jahre folgendermaßen aus: Schimmel wurde einfach vom Brot weggeschnitten oder von der Marmelade abgelöffelt und dann: rein mit dem Zeugs! Alte Seifenreste sammelte meine Mutter mit der Passion eines manischen Eichhörnchens und presste sie unter Hochdruck zu neuen kunterbunten und olfaktorisch verwirrenden Patchwork-Waschklötzen. Restaurants und selbst Stehimbisse kannte ich nur von außen oder aus dem Fernsehen. Wenn unsereins aus dem Haus ging und befürchtete, von Hunger und Durst überrascht zu werden, dann hatte man gefälligst eine Schmalzstulle und eine Thermoskanne mit ungesüßtem Hagebuttentee mitzuführen.

Ach, und »UHU« war für mich ein Begriff aus der Ornithologie – für Bastelarbeiten, zum Papierkleben rührte ich in einem ausgewaschenen Joghurtbecher (»ohne Geschmack«!) ein wenig Mehl mit Wasser an.

So nützlich solche Low-Budget-Erfahrungen letztlich sind, um die irrationale Angst vorm Verhungern zu vertreiben, so schwierig machen sie aber auch oft den Alltag. Eine Zeitlang musste ich aktiv gegen die Unfähigkeit, Dinge wegzuschmeißen, angehen. Ich bin nämlich nicht nur sparsam – ich bin leider auch eine Schlampe. Und diese fatale Kombination kann schnell zum Messietum eskalieren. Deswegen schmeiße ich neuerdings alles weg, was ich nicht innerhalb des nächsten Monats gebrauchen kann.

Na ja ... das würde ich gerne ... Aber schon das Formulieren einer solch radikalen Ausmist-Haltung macht frei und gibt Mut für den nächsten beherzten Wegschmiss. Genauso wie vollkommen haltlose öffentliche Geständnisse.

So behauptete ich vor einiger Zeit in einer Kolumne, dass ich alle Teebeutel sieben bis neun Mal benutze, um sie anschließend auf der Wäscheleine zu trocknen, mit einem Überzug aus den Resten dünngeschneuzter Stoff-Taschentücher zu versehen und als Federdeckchen für die Playmobilfiguren meiner Tochter zu verwenden. Meine Tochter schüttelte nur den Kopf über diesen Unsinn. Vor allem, weil sie nie Playmobilfiguren besaß. Die sind nämlich zu teuer. Nein, war nur Quatsch, natürlich hatte sie Playmo, so schlimm bin ich nun auch wieder nicht.

Interessant ist allerdings, dass das Thema Sparsamkeit eine sehr widersprüchliche gesellschaftliche Komponente hat: Einerseits funktioniert unser Wirtschaftssystem nur durch hemmungslosen Konsum, das heißt, indem der Bürger das verdiente Geld augenblicklich mit schaufelbaggerartigen Gesten zurück in den Umlauf bringt. Sonst schwächelt die Konjunktur, die Wirtschaft krankt. Folge: Verlust des Wohlstands, gesellschaftliche Destabilisierung, Abendland kopfunter! Asketischer Lebenswandel ist somit Subversion, Sparsamkeit ist Sabotage. Andererseits verherrlichen die gleichen Politiker, die mich zum Konsumieren auffordern, den öffentlichen Geiz. Dann heißt es, der Staat müsse sparen, vorzugsweise an der Kultur und am Sozialen. Da meine Einnahmen als Künst­ler allerdings oft von genau diesen weggesparten Subventionen abhängen, katapultieren sie mich damit in ein klassisches Dilemma. Was soll ich denn dann ausgeben? Das soll mal einer verstehen. Da presse ich doch gleich wieder revolutionäre Seifenklötzchen.

Backen mit Blutfett

AM ENDE DES LETZTEN JAHRTAUSENDS veranstaltete ich im niedersächsischen Universitätsstädtchen Hildesheim mehrere Jahre lang einen Literaturwettbewerb, den »Och­tersumer Literaturpreis«. Ochtersum ist ein dörflicher Stadtteil von Hildesheim, in dem ich damals wohnte. In der ehemaligen Knechtwohnung eines großen Bauernhofes. Sachen macht man manchmal ...

Egal, der Literaturpreis war postmodern angelegt, irgendwo zwischen Parodie und ernst gemeint. Wir hatten echte Sponsoren, die bescheidene Geld- und Buchpreise stifteten, wir veranstalteten sogar richtige Preisverleihungen. Vielleicht auch nur Parodien von Preisverleihungen, unter anderem im Stadttheater – mit Lesungen der prämierten Texte und Wichtig-Wichtig-Popichtig-Kultur­pro­gramm. Ich erinnere mich unter anderem an Streicherensembles mit Zwölftonmusik, pathosgeschwängerte Chanson-Darbietungen und furchtbar schlechte Betroffenheits-Liedermacher ... Also eigentlich alles tofte.

Am Ende der Veranstaltung gab’s fürs Publikum Häppchen (halbe hartgekochte Eier mit Remoulade und falschem Kaviar) und für jeden Zuschauer ein Buch zum Mitnehmen. Das konnte man sich aus einer Grabbelkiste fischen, in der alle Bücher lagen, die dem örtlichen Stadtmagazin – mit dem ich den Wettbewerb veranstaltete – im Laufe des vergangenen Jahres von den PR-Abtei­lun­gen der Verlage zur Besprechung zugeschickt worden waren.

Die meisten Bücher kamen übrigens von Bastei-Lübbe oder Heyne. Keine Ahnung wie die darauf kamen, dass wir nichts besseres zu tun hatten, als regelmäßig und andauernd die Neuerscheinungen von zwar großen, aber doch eher mäßig beleumundeten Verlagen zu besprechen. Unser Publikum nahm die Geschenke, meist obskure Lebens-Ratgeber, freudig an. Einmal allerdings blieb ein Buch in der Kiste zurück. Mehr aus Mitleid denn aus Interesse steckte ich es selbst ein. Nicht ahnend, wie lieb und teuer dieses Werk mir noch werden würde.

Es hieß »Cholesterinarm backen« von Ingrid Malhotra (Heyne 1994, DM 12,90) und zunächst wusste ich nicht, was ich damit anfangen sollte. Ich wollte ja gar nicht cholesterinarm backen. Weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass cholesterinarm Gebackenes auch nur andeutungsweise schmecken könnte. Das klang für mich wie alkoholfreies Bier, nikotinfreie Zigaretten oder Rock­musik ohne E-Gitarren. Alles möglich, aber nicht wirklich reizvoll. Da lasse ich die entsprechende Sache doch lieber gleich ganz.

Irgendwann aber, vielleicht ein oder zwei Jahre später, war ich in der Verlegenheit, für eine Feier einen Kuchen backen zu müssen. Ein Käsekuchen sollte es sein, ich aber besaß kein Käsekuchenrezept. Und damals auch noch keinen Internetzugang. Ja, so lange ist das her. Aber, so fiel mir plötzlich ein, ich hatte doch ein Buch mit Backrezepten! Wenn auch für Backwaren mit zweifelhaften Surrogatzutaten. Ich nahm es zur Hand, suchte eine Anleitung zur Herstellung eines Käsekuchens, fand sie (unter dem Namen »Elsässer Quarktorte«), las mir die Zutatenliste durch – und kam augenblicklich auf eine glor- und folgenreiche Idee: Wie wäre es, wenn ich konsequent und gnadenlos alle cholesterinarme Zutaten durch cholesterinreiche Zutaten ersetzte? Also Becel-Margarine durch eine ordentliche Menge guter Süßrahm-Butter, die Becel-Kaffeesahne durch einen Becher Schlag­sahne und den angeblich im Reformhaus zu erwerbenden Ei-Ersatz für insgesamt fünf Eier durch, logo, fünf echte Eier.

Ansonsten hielt ich mich beim Backen strikt an die Angaben. Und was soll ich sagen: Die Elsässer Quarktorte wurde großartig. Atemberaubend schmackhaft, in Form und Konsistenz maßstabsetzend und vor allem: Sie wurde mein Back-Trademark.

Inzwischen habe ich sie sicher über hundert Mal gebacken, sie gelingt immer, sie schmeckt immer, erfreut jeden Gast, macht Frauen gefügig, lässt Schwiegermütter dahinschmelzen, Kinderherzen höherschlagen und Russen Kasatschok tanzen. Inzwischen wird sie in meiner Familie schon in der zweiten Generation gebacken.

Als meine Tochter kürzlich ihr mehrtägiges schulisches Sozialpraktikum in einem Kindergarten beendete, schenkte sie den Kindern und Erziehern zum Abschied eine selbstständig und ohne Hilfe hergestellte und vor allem ordentlich cholesterinreiche »Elsässer Quarktorte«. Und wurde dafür mit stehenden Ovationen gefeiert.

So, und wer mir jetzt noch erzählt, was man aus dieser Geschichte lernen kann, außer dass Flexibilität immer von Vorteil ist, bekommt von mir das Rezept der Quark­torte als pdf zugeschickt oder – falls ich super drauf bin – sogar die Torte selbst, die natürlich nicht als pdf, sondern in echt. Mal kucken.

Das Laberstromnetz

BEVOR MICH JEMAND ALTKLUG ANRAUNZT: »Ja, dann meld dich doch ab!«, erkläre ich hiermit an Eides statt, dass ich genau das tun werde. Demnächst. Oder vielleicht doch nicht. Mal kucken. Schließlich ist es ja so: Wenn man eine Haltung zum Geruckel des Weltenlaufes entwickeln will, kann man nicht immer abseits stehn, sondern muss sich mitunter auch mit wackeligen Knien mitten hinein begeben. Oder wie es im Sportreportersprech heißt: »Man muss dahin gehen, wo es weh tut!« Zum Beispiel in die sogenannten »sozialen« Netzwerke.

Da ich damals schon zu alt für Studi-, Schüler-, KiTa- und Krabbelgruppen-VZ war, begann für mich alles mit MySpace. Das gehörte damals zwar dem reaktionären Super-Kapitalisten Rupert Murdoch – einer Art australisch-amerikanischem Axel Springer, nur leider in lebendig –, hatte aber für mich einen großen Vorteil gegenüber den Mitbewerbern, nämlich einen veritablen Inhalt.

Bei MySpace ging es eine Zeitlang hauptsächlich um Musik. Man konnte sich von einer Bandseite auf die nächste klicken, skurrile Indie-Folk-Blues-Garagenbeat-Bands aus Minnesota, Rio, Wattenscheid oder Peine entdecken – und so auf angenehme Weise Zeit verplempern.

Dass nebenbei auch Menschen darum baten, meine »Freunde« werden zu dürfen, war okay. Meistens war ich mit denen schon im echten Leben befreundet, bekannt oder verschwägert – oder es waren interessierte Fremde, die mal was von mir gelesen hatten. Auch sowas freut den zur Vereinzelung neigenden Autor mitunter. Außerdem lebt man ja als Schreibender in einer Art Halböffentlichkeit, muss erreichbar und zum Beispiel auch für Lesungen buchbar sein – und da war MySpace eine gute Möglichkeit, sich »im Netz« zu präsentieren.

Irgendwann stellte ich aber erstens fest, dass die meisten MySpace-Seiten vollkommen unleserlich geworden waren, weil sich da jeder sein eigenes Layout »designen« konnte beziehungsweise eben nicht konnte. Bei manchen Seiten hatte man Angst, schlagartig zu erblinden ob der irren Farbgestaltung, die man sonst nur auf Leggins aus dem »kik«-Sortiment findet. Und zweitens: Plötzlich war niemand mehr bei MySpace, alle waren bei Facebook. Ich also auch hin.

Und was soll ich sagen: Was meine echten Freunde und die anderen Menschen angeht, mit denen ich mich dort höflich, dezent und sparsam austausche, verhält sich Facebook wie sein Vorgänger MySpace: unspektakulär. Um Musik geht es leider kaum, was schade ist. Obwohl neuerdings immer mehr Leute irgendwelche YouTube-Musik-Videos posten, aber meist handelt es sich dabei um Künstler, die man schon kennt, und nicht um schrullige Geheimtipps. Schlimm aber ist der nie abreißende Laberstrom mancher Facebook-Netzwerker. Was treibt jemanden dazu, stündlich zu posten, wo er ist oder mit wem er sich trifft? Diese Informationen könnten doch höchstens interessieren, wenn sie Leute beträfen, die sie niemals preisgeben würden: Auftragskiller, Geheimagentinnen oder blutrünstige Diktatoren. Obwohl selbst bei denen vermutlich siebzig Prozent der Einträge langweilig wären: »Café Latte bei Starbucks – Mhm lecker« oder »Strumpfhose gekauft – Mist und schon ne Laufmasche drin«.

 

Am gruseligsten aber sind die in Büros arbeitenden Menschen, die Facebook im Hintergrund laufen lassen, während sie schludrig ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen. Da kann man nur hoffen, dass es sich dabei um Werbetexter, Eventmanager oder Trendforscher handelt und nicht um Sicherheitsbeauftragte der Deutschen Bahn, Krebsforscher oder Risikocontroller der »Hypo Real Estate«, falls die sowas überhaupt haben.

Wenn dann aber im dritten Fenster noch ein Nachrichtenportal geöffnet ist, wird’s unterirdisch: Da werden dann aus der Hüfte politische Kommentare in die Welt geschossen, gegen die sogar Mario Barths Analysen der Geschlechterbeziehungen philosophisches Niveau erreichen. Und wenn man diesen Menschen dann sachlich widerspricht, hört beziehungsweise liest man diesen typisch patzigen, geist- und witzfreien Internet-Troll-Ton, den früher nur schlecht erzogene Menschen in meist anonymen Leserbriefen benutzten. Aber vermutlich handelt es sich bei diesen Meinungspostern sowieso um charakterlich verkrachte Existenzen, denen aufgrund ihrer ungehobelten Art im Privat- und Berufsleben schon lange keiner mehr zuhört und die deswegen im Netz rumstänkern müssen.

Gradezu mysteriös aber ist das Phänomen der frisch verliebten Pärchen, die über ihre Facebook-Pinnwand mit­einander turteln. Filmen sich solche Leute auch beim Römpömpeln und laden das dann bei YouPorn hoch? Was nur konsequent und vermutlich sogar unterhaltsamer wäre. Taten sagen ja oft mehr als Worte.

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