Revolverhelden auf Klassenfahrt

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Das Gejammer der Doofmenschen

LANGE HABE ICH NICHTS MEHR vom Ungeheuer von Loch Ness gehört. Vielleicht, weil es das drollige, langhalsige Monster Nessie gar nicht gibt? Wer weiß, da könnte ein Zusammenhang bestehen. Aber nicht zwingend. Es gibt ja auch andere Phänomene, die nachweislich nicht existieren, aber ständig aus den medialen Sommerlochs und -löchern auftauchen.

Die beliebteste Legende der letzten Jahre ist die von der Existenz eines funktionierenden Denk- und Sprechverbots namens »political correctness«. Man könnte nun lange über die Geschichte und Wirkung dieses Begriffes im Ursprungsland USA referieren, aber dafür gibt’s ja das Internet. Empfehlenswert sind vor allem einige kluge Artikel, die Diedrich Diedrichsen darüber geschrieben hat.

Aber reden wir lieber über die angebliche politische Korrektheit in Deutschland: Kaum wird eine politische oder publizistische Krawallschachtel wie Hans-Olaf Hen­kel wie Thilo Sarrazin öffentlich kritisiert, sitzt der emeritierte Geschichtsprofessor und hauptberufliche Quatsch-Prediger Arnulf Baring – ein alter, erstaunlich schlecht erzogener Mann ohne jegliche Manieren und Stil – in der nächsten Talkshow und prangert in komplett wirren und entgrenzten Monologen die linke Zensur in Deutschland an. Lustig daran ist, dass der hemmungslose Greis sich dabei benimmt, als wolle er selbst gerne jeder Person, die nicht Arnulf Baring heißt, das Reden verbieten. Wer auch immer in der Runde sitzt: Baring bellt sie alle an wie ein wütender Dackel mit Tourette. Und dennoch wird er regelmäßig in solche Sendungen eingeladen. Wie auch der albern-schnöselige Jan Fleischhauer vom Spiegel, der es für konservativ hält, zu eng sitzende, wurstpellenartige Tweed-Sakkos zu tragen.

Eingeladen wird Fleischhauer, weil er unter dem unglaublichen Trauma leidet, in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts von Sozialdemokraten großgezogen worden zu sein und sich dieses Elend in einem Buch (»Unter Linken: Von einem, der aus Versehen konservativ wurde«) von der Seele geschrieben hat. Außerdem verfasst er auf Spiegel-online die verschwörungstheoretische Kolumne »Der schwarze Kanal«. Aber egal in welchem Medium: Fleischhauers Lebensthema ist die angebliche Existenz einer linken Medien- und Kultur-Hegemonie in Deutschland. Ach Gottchen, möchte man angesichts all der Neokonservativen und Unpolitischen in diesem Gewerbe seufzen, schön wär’s.

Tatsächlich ist es aber seit einiger Zeit sogar hip, herumzukrakeelen, man sei aus Überzeugung »politisch unkorrekt« und spreche nur verbotene Wahrheiten aus. Leider sind nahezu alle Personen, die dies tun, wahlweise stuhldumm, irre oder beinharte Rassisten. Sie sehen es als ihr Menschenrecht an, Arbeitslose endlich wieder als asozial und Homosexuelle als pervers zu bezeichnen – oder eben Orientalen einen geringeren IQ anzudichten. Manche wollen auch einfach ihre nichtarischen Mitmenschen »Neger« oder »Kanaken« nennen. Oder blödironisch »Kulturbereicherer«. Und das hat bitteschön unwidersprochen geschehen zu dürfen. Was da zum Beispiel alles in den Kommentarspalten der Islamhasser-Seite »Politically Incorrect« formuliert wird, passt auf keine Bomberjacke.

Im Zusammenhang mit dem Gejammer über die political correctness fällt auch gerne das Wort »Gutmensch«. Zugegeben: Eine Zeitlang haben auch vernünftige Leute diesen Begriff benutzt, um linksevangelische Heuchelei zu geißeln. Inzwischen ist es aber das Lieblingsschimpfwort von Junge-Freiheit-Redakteuren und NPDlern. Was nicht überrascht, weil es wohl auch Goebbels schon gebrauchte.

Deswegen hat es auch keinen Sinn, mit Doofmenschen, die das Wort »Gutmensch« verwenden, zu diskutieren. Paranoiker sind Argumenten nicht zugänglich. Bleibt eigentlich nur, sie zu hänseln, aber auch da muss man aufpassen. Der Doofmensch ist empfindlich. So traute sich Thilo Sarrazin nach Erscheinen seines Buches »Deutschland schafft sich ab« nur noch mit einem ZDF-Kamerateam nach Kreuzberg, selbstverständlich nicht, um in irgendeine Art von Dialog zu treten, sondern um eine »Ich werde verfolgt«-Doku zu drehen. Aber als »Die Hard«- und Bruce Willis-Fan hätte Herr Sarrazin eigentlich wissen müssen, was passiert, wenn man mit einem »I hate niggers«-Schild durch Harlem läuft.

Interessanterweise passierte aber genau das nicht. Viele Menschen, denen Sarrazin in Kreuzberg begegnet, argumentieren dem erbarmungswürdig stammelnden Misanthropen gegenüber sehr sachlich und klar. Nur zwischendurch wurde der Pöbler ein bisschen angepöbelt. Mehr nicht. Und sofort fordert die Springerpresse, Kreuzberg dürfe nicht zur »No-Go-Area« für Sarrazin werden. Was es aber lustigerweise schon lange ist – durch Sarrazins eigene Entscheidung. Seinen Aussagen zufolge hatte er Kreuzberg zuvor das letzte Mal in den 90er Jahren besucht.

Linden. Eine Sommerliebe
Ode an einen besonderen Stadtteil

SEIEN WIR EHRLICH: HANNOVER hat keinen guten Ruf. Es gilt nicht grade als die sexieste Stadt des Universums. Nichts zum Schwärmen, nichts zum Verlieben, nichts zum Oden singen. Trotzdem habe ich mich verknallt. Nicht direkt in die etwas dröge Tante Hannover, aber dafür in ihre charmante Schmuddelnichte Linden.

Passiert ist es vor gut fünf Jahren. Im Sommer. Und ich muss gestehen, die Liebe hält immer noch an. Nur zur Klärung: Obwohl ich ein extrem emotionales Kerlchen bin, neige ich üblicherweise nicht zu übertrieben emo­tionsgeladenen Äußerungen. Vielleicht besteht da auch ein Zusammenhang. Der Araber in mir empfindet und fühlt zwar, äußert sich aber selten. Das tut dann sicherheitshalber meine andere Hälfte, der zum Understatement neigende Nordhesse, der dem stoischen Niedersachsen ja nicht unähnlich ist.

Würde ich meinen mediterranen Gefühlen auch äußerlich freien Lauf lassen, müsste ich den ganzen Tag abwechselnd Leute anschreien, umarmen oder herzen, Ohrfeigen verteilen, verstört den Kopf schütteln oder durch die Straßen tanzen. Das wäre mir zu anstrengend. Und zu albern. Und ist als Standardverhalten in unserer Gesellschaft auch nicht unbedingt akzepiert. Deswegen versuche ich, den Emotionsball verbal flach zu halten. Aber manches muss dann doch mal raus.

Wo wir grade bei Geständnissen sind: Bevor ich nach Hannover zog, wohnte ich vierzehn Jahre in Braunschweig. Den Nichtniedersachsen unter meinen Lesern muss ich jetzt erklären, dass Braunschweig und Hannover ein ähnliches Verhältnis haben wie Gelsenkirchen und Dortmund. Auch, aber nicht nur im Fußball. Und obwohl ich aus guten Gründen von Braunschweig nach Hannover zog, hatte ich keine Lust, den Kronzeugen und Verräter im albernen Niedersachsen-Lokalderby zu geben. Es reicht ja, wenn sich die 96- und Eintrachtfans seit Jahrzehnten regelmäßig auf die Fresse hauen. Bei sowas muss man weder praktisch noch theoretisch mitmachen. Also dachte ich: Bloß weil ich aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Braunschweig leben wollte, musste ich Hannover ja nicht toll finden. Und schon gar nicht wollte ich mich Hannover an den Hals werfen. Tja, und dann kam Linden, das Luder, und warf sich mir an den Hals.

Ich habe mich wirklich widersetzt, habe mich mit Händen und Füßen gewehrt, habe gezischt: »Baby, das wird nix mit uns.« Ich habe klargestellt, dass ich mich nicht verarschen lasse, dass Linden doch nur hilflos versucht, Kreuzberg zu spielen oder die Schanze nachzuäffen, dass ich zu alt für diesen Scheiß bin, für dieses pseudo-südländische Rumgebummel, dieses Späthippie-Getue. Ich wollte als geborener Skeptiker auf Distanz bleiben und nicht auf diesen Ganzjahreskarneval reinfallen. Alles Kokolores. Alles umsonst. Ich bin in die Knie gegangen – und hab mich Hals über Kopf verschossen.

Und nichts konnte bisher meine Verknalltheit in Frage stellen. Weder der sich auf geheimnisvolle Weise selbst­reproduzierende Sperrmüll auf der Straße, noch die sorgfältig und nach einem raffinierten Muster verteilten Hundekackhäufchen, auch nicht überflüssige Biosupermarkt­ketten-Filialen oder Schnöselbauprojekte, nicht das allwöchentliche, chaotische Gelbe-Sack-Elend, nach dem jedesmal der Müll durch Lindens Straßen weht wie Tumbleweed durch eine verlassene Westernstadt. Oder das an meinem Fenster vorbeiziehende, breitgekiffte halbstarke Teenie-Partyvolk. Auch nicht die alternativen Alt-Linde­ner, die rentneresk jammern, früher sei alles besser gewesen in Linden. Und selbst diesem hirnlosen musikalischen Marodeur, der im letzten Sommer direkt hinter unserem Haus mitten in der Nacht (!) Dudelsack (!) spielte, ist es nicht gelungen, mir meine romantischen Gefühle zu vermiesen.

Interessant ist: Meine Liebe zu Linden färbt auch auf den Rest Hannovers ab. Nicht, dass ich jetzt zwingend die Bausünden hinter dem Hauptbahnhof, die Passarelle (die einzige mir bekannte tiefergelegte Fußgängerzone der Welt) oder einen Stadtteil wie Roderbruch toll finde. Aber eine Stadt, in der so etwas wie Linden möglich ist, kann nicht ganz böse sein.

Deswegen lebe ich inzwischen auch recht gerne in Hannover und bewege mich durchaus auch außerhalb meines Stadtteils. Und fairerweise muss man sagen: Linden wäre ohne Hannover ja nicht lebensfähig. Auch wenn Linden früher eine eigene Stadt und dort schon immer »alles anders war«, wie viele nicht müde werden zu betonen, ist der gelegentlich aufflammende Lindener Kommunal-Separatismus und das ahistorische Wichtiggetue mancher seiner Bewohner mehr als albern. Hätte sich die Arbeiterstadt Linden 1920 nicht freiwillig Hannover angeschlossen, wodurch es Teil einer Großstadt wurde, dann wäre es vermutlich nur ein heruntergekommener ehemaliger Industriestandort wie Castrop-Rauxel oder Wanne-Eickel und nicht das, was es heute ist, nämlich das bunte, durchgeschepperte, laute, dreckige, lebenslus­tige Rückzugsghetto für einen in sich sehr heterogenen Menschenschlag, den die Halbmillionenstadt Hannover zwar aufgrund ihrer Größe zwangsläufig produziert, dem sie aber sonst nicht viel anzubieten hat.

 

Hannover wiederum wäre ohne Linden so etwas wie Bielefeld. Und das ist gar nicht so fies gemeint, wie es klingt. Auch Bielefeld ist okay, ich kenne Menschen, die da ganz gerne leben. Wenn man einen Grund hat, dort zu wohnen, kann man es sich ganz nett einrichten. So wie in Hannover. Aber Linden kann man eben auch gut finden, ohne dass einen die Lebensumstände gezwungen haben, hier seine Zelte aufschlagen zu müssen. Ich habe immer wieder auswärtige Gäste, die sagen: »Och Gottchen, hier ist es aber nett. Damit haben wir jetzt aber gar nicht gerechnet ...« Und das hat nichts mit Gentrifizierung, einem modischen »Szene«-Hype oder Linden als »Partyzone« zu tun, sondern schlicht mit dem unaufgeregten, pluralis­tischen und stimmungsaufhellenden Alltag hier.

Man kann im Sommer bei schönem Wetter auf die Limmerstraße gehen – auch ohne dies modisch »limmern« zu nennen – und sich einfach daran freuen, dass man genau zu diesem Zeitpunkt an just diesem Ort ist. Man sitzt wahlweise auf einer Bank, einem Treppchen, in einem vermeintlich oder tatsächlich hippen Café oder in der eher prekären »Backfactory«, sieht das Lindener Panoptikum an sich vorüberziehen und denkt zufrieden: Wer hätte gedacht, dass Niedersachsen, die Heimat Christian Wulffs und Eckhart von Klaedens, so vielfältig sein kann. Man bewundert großflächige, freskenartige Tätowierungen, gewagte Piercing-Experimente, erwachsene Männer in Tretautos mit Hunden auf dem Beifahrersitz, blumengeschmückte Fahrräder, Jesus-Lookalikes, seiden­glänzende Jogginganzugskollektionen, gigantische Wal­rossschnauzbärte, Afro-Mikrofonfrisuren und kuriose Kopfbedeckungen zwischen Religiosität und Exzentrik.

Man kann auch diversen Selbstgesprächen in teils nichtexistenten Sprachen lauschen oder die Auswirkungen von THC und anderer Substanzen auf das Gastronomie-Servicepersonal bestaunen. So wartet man mitunter schon einmal eine halbe Stunde auf sein Heißgetränk oder muss es drei Mal bestellen, weil man von der selig grinsenden männlichen Bedienung drei Mal freundlich gefragt wird, ob man schon bestellt hat. Aber hey: Wenn ich schnell einen Kaffee will, trink ich ihn zuhause. Wenn ich rausgehe, möchte ich etwas geboten bekommen. Lindener Alltags-Entertainment.

Wobei zwischen den ganzen Künstlern, Irren, Exzentrikern, Multikulturalisten und verstrahlten, dreadlockigen, veganen Studenten und -innen ja erstaunlich viele »Normalos« jedes Aggregatzustands und Milieus leben, die aber in Linden offensichtlich auch gut klarkommen. Aber vielleicht ist der Normalo auch gar nicht normal beziehungsweise wird sich durch das kuriose Umfeld seiner eigenen Besonderheit bewusst. Und fügt sich so wunderbar ins Geschehen ein. Ganz im Sinne Rio Reisers: »Ich bin anders, weil ich wie alle bin und weil alle anders sind.«

Das »Besondere« und »Andere« an Linden und den Lindenern ist ja nicht, dass sich hier alle lieb haben, kein Multikulti-Eiapopeia, kein gruppenübergreifendes Händchenhalten, sondern dass die Menschen, die hier wohnen, offensichtlich absichtlich hier wohnen. Die wollen hier sein. Freiwillig.

Und deswegen lassen sie sich auch in der Regel gegenseitig in Ruhe, was eine große Qualität darstellt. Manche sind sich dieser Qualität nicht einmal bewusst und besitzen sie trotzdem.

Neulich regte sich mal wieder ein »gebürtiger Lindener« – wie er betonte, wohlgemerkt aus dem alternativen Milieu – mir gegenüber auf, dass es hier schon lange nicht mehr so wäre wie einst. Es handelt sich dabei nicht um eine Klage über die Gentrifizierung, ganz im Gegenteil. Ihm gingen eher die Umsonst-Ritter und Tagesfreizeitaktivisten auf die Nerven. Und der Dreck nach dem 1. Mai. Nun habe ich noch in den 70ern und 80ern gelernt, was man in Deutschland sagt, wenn sich jemand über die hiesigen Verhältnisse beschwert. Ich sagte also: »Geh doch nach drüben!«, und meinte damit die List, die Südstadt oder andere Gegenden in Hannover, wo es sich sicher ruhiger leben lässt, die Straßen sauberer sind und nicht so viele Leute mit Bierflasche in der Hand als Ausgeh-Accessoire herumlaufen. Mein Gesprächspartner schaute mich verstört an. Er sagte, ja, er hätte schon mal über die Nordstadt nachgedacht, aber irgendwie ... Und ich spürte, dass er eigentlich meinte: »Was soll ich denn woanders?«

Klar war: Da bleibt er doch lieber hier und meckert ab und zu vor sich hin. Denn natürlich lässt er die Leute, die ihm anscheinend so auf die Nerven gehen, ansonsten auch in Ruhe. Weil sich das einfach so gehört. Das Lindender Credo lautet: Man kann alle doof finden, aber solange niemand direkt in mein Leben eingreift, greife ich auch nicht in andere Leben ein. Und das ist tatsächlich eine erstaunlich urbane, großstädtische Haltung.

Dafür und deswegen habe ich mich in Linden verknallt. Kurzzeitig dachte ich, ich müsse meine Geliebte verlassen. Nachdem mir vor einiger Zeit eine Kündigung ins Haus flatterte, hatte ich erfolglos nach einer neuen Wohnung in Linden gesucht. Und nichts gefunden. Linden war es wohl egal, diesem promisken Flittchen. Die hat ja viele andere. Nur mir hätte es wehgetan. Aber kurz bevor ich einen Mietvertrag für die Nordstadt unterschreiben wollte, fand sich doch noch was. Also machen wir weiter miteinander rum. Noch sind wir übrigens beim Knutschen. Bald kommt Petting. Ich freu mich schon.

Zu fett für Fair Trade

JE OFFENSICHTLICHER ES WIRD, dass Politik nicht von Politikern gemacht wird, noch nicht einmal von einzelnen fetten Wirtschaftsbossen mit Zigarre und Melone auf dem Kopf (wie sie gerne auf Karikaturen aus den Zwanzigern dargestellt wurden), sondern von den ominösen, unfassbaren »Finanzmärkten«, desto lustloser wird man und gibt sich dem Modesport »Politikverdrossenheit« hin. Irgendeiner von diesen Zumutungen, die sich da einem als »Parteien« vorstellen, seine Stimme zu geben, erscheint zusehends sinnloser.

Wenn man zum Beispiel keine verlogenen Kriege führen will und meint, dass eine etwas fairere Gesellschaft und mehr demokratische Beteiligung doch möglich sein müsste – dann wählt man eine von den Parteien aus dem vermeintlich linksliberalen Spektrum, nur um hinterher festzustellen, dass auch die, kaum sind sie an der Macht, Soldaten in Kriegseinsätze schicken, Sozialkürzungen vorantreiben, irre unterirdische Maulwurfsbahnhöfe bauen oder die Idee einer gerechten Schule für alle schnell mal wieder kippen – weil die Sachzwänge und Bündnisverpflichtungen das angeblich so verlangen oder weil sie Angst vor ihren eigenen Bildungsbürger-Wählern haben, die ihre Kinder nun mal auf Gymnasien schicken wollen, weil sie selbst ihr lächerliches bisschen Bildung da erworben haben.

Will man aber trotzdem politisch nicht aufgeben, stellt sich die Frage: Was tun? Wenn der Kapitalismus die Menschen nur als Konsumenten ernst nimmt, muss man eben als Konsument politisch agieren. Das heißt: keinen Scheißdreck mehr kaufen, der die Natur kaputt macht, Menschen ausbeutet oder die Infrastruktur von kleinen Läden um die Ecke zerstört. Also auf Ökostrom umstellen, beim inhabergeführten Bioladen oder beim Tante-Emma-Türken kaufen, beim richtigen Bäcker statt in der »Back-Factory« etc. pp.

Man muss ja nicht gleich zum Komplett-Ghandi werden, aber wenn man ein bisschen drauf achtet, geht in der Regel eher mehr als weniger. Und wer jetzt behauptet, dass könnten doch nur die wohlhabenden Gutmenschen, ist in der Regel ein wohlhabender Doofmensch: Keiner nimmt einem Harz-IV-Empfänger das Einkaufen beim Discounter übel, aber die Hälfte der Gesellschaft, die ordentlich verdient, könnte schon einiges erreichen, wenn sie auf ökologische und soziale Mindeststandards beim Konsumieren achten würde. Das wäre doch mal ein Elite-Begriff, der einen Sinn hätte.

Soweit die Theorie und die etwas zu lange Einleitung für meine im Titel schon angedeutete Wehklage. Werden wir konkret: Da ich aus oben erwähnten Gründen keine Lust mehr habe, Klamotten zu tragen, die von grotesk unterbezahlten Menschen unter gesundheits- und umweltschädlichen Bedingungen in Zwölf- bis Sechzehnstunden-Schichten hergestellt werden, dachte ich mir: Kaufste mal Fair-Trade-Kleidung.

Die gute Nachricht ist: Da gibt es inzwischen eine ganze Menge hübscher Dinge. Und wenig davon sieht aus, als müsse man sich beim Kauf zu einem afrikanischen Trommelkurs oder einem Tantra-Wochenende verpflichten. Jetzt aber zum Elend: Okay, ich gebe zu, ich bin nicht der Allerschlankeste (zumindest zur Zeit nicht, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt), aber es kann doch nicht sein, dass es fast unmöglich ist, eine Fair-Trade-Hose oder einen Fair-Trade-Kapuzenpulli (unter uns Berufsjugendlichen »Hoodie« genannt) zu bekommen, die/ der einem leicht amöbigen Mittelmops wie mir passen. Normalerweise kann ich mich sogar in »L« grade noch so – mit ein bisschen Baucheinziehen – hineinmorphen, aber spätestens in handelsüblicher »XL«-Kleidung kann ich entspannt durchatmen, mich bücken, Ausdruckstanz betreiben; ich könnte sogar noch wärmende Ski-Unter­wäsche drunter ziehen, wenn ich sowas besäße. Nicht so bei Fair Trade.

Oft gibt es es gar kein »XL«, und wenn man dann aus Verlegenheit »L« anprobiert, fragt man sich, ob Fair Trade nur etwas für bulimische Teenie-Topmodel ist. Aber selbst, wenn es »XL« gibt, passe ich nicht hinein. Bei einem Bremer Fair-Trade-Versand bestellte ich einen todschicken Hipster-Hoodie doppelt, einmal in »XL« und einmal in »XXL«, in der Hoffnung, dass mir wenigstens die vermeintliche Reiner-Calmund-Größe passen könnte. Was soll ich sagen: XL war perfekt für meine schlanke, großgewachsene vierzehnjährige Tochter, ich aber sah in »XXL« aus wie Peter Altmann im Gymnastikanzug.

Liebe politisch korrekte Textilhändler: Habt ihr sie eigentlich noch alle? Wollt ihr mich bewusst demütigen? Gelte ich mit meinen dezenten Rettungsringen bei Euch schon als nicht einkleidbare Speckwurst? Bin ich wirklich zu fett für Fair Trade? Ich bitte um eine nicht verletzende Antwort ...

Deutschland.
Ein Hitlermärchen

EIN FREUND ERKLÄRTE MIR NEULICH, nun sei er soweit, sich »Deutschland. Ein Sommermärchen« von Sönke Wortmann anzutun. Denn erst jetzt, mit dem Abstand von mehreren Jahren, könne man das groteske Propaganda-Machwerk über die Bundesjugendspiele 2006 endlich mit Humor würdigen, weil sich der nationalbuddhistische Messias Klinsmann auch in der öffentlichen Reflektion wieder in den kieksenden, schwäbischen Hanswurst zurückverwandelt habe, der er schon immer gewesen sei. Da gelte nach wie vor das Woody-Allen-Diktum »Komödie ist Tragödie plus Zeit«. In diesem Sinne verspreche das Elend der klinsmännischen Existenz inzwischen einen hysterisch-komischen Fernsehabend.

Das fand ich einleuchtend. Es gibt nun mal Dinge, die man in dem Moment, in dem sie passieren, ignorieren muss. Sowohl aus politischen wie aus ästhetisch-moralischen Gründen; und weil die Mainstream-Reaktion darauf so bescheuert, aber einfach zu dominant ist, um gegen sie anzukommen. Widmet man sich diesen Phänomenen jedoch später, sieht es oft ganz anders aus. Mitunter können sie einem dann sogar viel Freude bereiten.

So auch »Der Untergang« von Oliver Hirschbiegel. Sechs lange Jahre bin ich dem Film geschickt aus dem Weg gegangen, weil mir die Grundidee, »Hitler als Mensch« zu präsentieren, schon immer rätselhaft, suspekt und hochgradig ekelhaft erschienen war. Und atemberaubend überflüssig: Selbstverständlich war Hitler ein Mensch – und kein Frettchen oder probiotischer Fruchtjoghurt, aber was hat man von dieser Erkenntnis? Genauso abschreckend wie die »Der Führer als Mensch«-Prä­misse des Films waren jedoch die klischeeschauspielerdoofen Interviews, die damals aus dem Hauptdarsteller Bruno Ganz heraussuppten.

Am verstörendsten für mich waren jedoch die Rezensionen, die den »Untergang« wahlweise positiv als das politische Bewusstsein erweiternd beschrieben oder negativ als raffinierte Geschichtsklitterung. Auf alle Fälle nahmen die Kritiker den Film tatsächlich ernst! So oder so. Zu allem Überfluss wurde der Hitler-Quatsch dann auch noch für den Oskar nominiert! Spätestens hier war mir klar, sowas kann und darf man sich nicht anschauen.

Inzwischen sieht das alles anders aus. Niemand interessiert sich mehr für den »Untergang«. Er wird dafür benutzt, Lücken im nächtlichen Fernsehprogramm zu stopfen (dafür wurde der Film sogar von ursprünglich 150 auf 175 Minuten verlängert) oder er wird auf YouTube paro­diert.

 

Deswegen – und weil ich zu faul war, aufzustehen und meine Fernbedienung zu suchen – zappte ich jetzt einfach mal nicht weg. Und was soll ich sagen? Selten habe ich so herzhaft gelacht und mich rundum bestätigt gefühlt. Es handelt sich wirklich um den schlechtesten Film aller Zeiten – von »Die Unberührbare« mit Hannelore Elsner mal abgesehen.

Aber Respekt: Die Figuren-Darstellungen, nicht nur von Onkel Adolf, sind tatsächlich so naiv »menschlich« geraten, dass man sich dauernd bei Gedanken ertappt wie: »Och Menno, der arme Hitler, dass der auch so schlimm Parkinson haben muss!« Oder am Schluss, wenn nichts mehr geht – und man ja sowieso weiß, dass das Ganze böse endet –, bangt man trotzdem, wie in jedem anderen emotionsgeladenen Filmschinken, mit den Hauptfiguren und drückt ihnen unwillkürlich die Daumen: »Vielleicht schaffen sie es ja doch noch und kommen irgendwie alle heil aus dem Bunker raus.« Schließlich hat man ja fast drei Stunden mit ihnen verbracht und sie doch a bisserl lieb gewonnen ...

Nur eins beziehungsweise einen habe ich vermisst: Götz George. Der hätte in diesem Deutschstar-Aufgebot von Bruno Ganz über Corinna Harfouch und Heino Ferch bis Juliane Köhler eigentlich nicht fehlen dürfen. Aber unter Hitler himself hätte es George vermutlich nicht gemacht. Irgend so einen popeligen SS-Mann geben zu müssen, wäre für George wahrscheinlich ebenso demütigend gewesen wie die Situation damals in Jugoslawien, als er im »Schatz im Silbersee« nicht Old Shatterhand spielen durfte, sondern eine Figur namens »Fred Engel«, an die sich heute zu Recht niemand mehr erinnert.

George wäre allerdings auch ein großartiger Stalin, Herr Hirschbiegel, nur mal so als Idee. Wenn Sie den Film jetzt drehen, würde ich ihn mir in zwanzig Jahren glatt ankucken, versprochen!

PS: Um Götz George zu demütigen, könnte man den großen Sowjetführer allerdings auch mit Mario Adorf besetzen. Der würde schnauzbartmäßig ebenfalls sehr gut passen ...