Buch lesen: «Wirtschaftsgeographie», Seite 12

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4.2.3Zur Bedeutung temporärer Nähe in der globalen Ökonomie

Ökonomische Interaktions- und Kommunikationsprozesse werden besonders komplex, wenn Unternehmen über große räumliche Distanzen hinweg und zwischen verschiedenen kulturellen und institutionellen Kontexten unterschiedlicher Länder Austauschbeziehungen unterhalten. Um die kulturellen und institutionellen Unterschiede zu überbrücken und einen gemeinsamen Interaktionszusammenhang zu schaffen, so könnte man argumentieren, ist es notwendig, Nähe oder Affinität zwischen den Akteuren herzustellen. Dass dies selbst dann nicht gelingt, wenn Unternehmen sich zu einer Fusion oder Akquisition entschließen und damit organisatorische Nähe herstellen, zeigt sich daran, dass viele Unternehmenszusammenschlüsse scheitern (Storper 1997 c). Dabei wird unterschätzt, wie schwierig es ist, unterschiedliche Unternehmenskulturen zusammenzuführen.

Dabei zeigt die ökonomische Realität, dass Transaktionen über kulturelle und institutionelle Grenzen hinweg keineswegs eine Ausnahme darstellen, sondern mit fortschreitender Globalisierung immer mehr an Bedeutung gewinnen. Prozesse der ökonomischen Interaktion und Wissensgenerierung scheinen immer weniger an spezielle lokale oder regionale Kontexte gebunden zu sein, sondern können zwischen Unternehmen in verschiedenen Teilen der Welt stattfinden, wenn es gelingt andauernde enge Beziehungen zwischen Akteuren herzustellen. Diese Form der relationalen Nähe (Amin und Cohendet 2004) ist mit dem Aufbau von Vertrauen, gegenseitigem Verständnis und Reziprozität in spezifischen Beziehungen verbunden und kann aus Strukturen sozialer Gruppen oder Schichten hervorgehen (die im Konzept der sozialen Distanz eine Rolle spielen). Relationale Nähe kann aus gemeinsamen beruflichen und/oder privaten Erfahrungen in der Vergangenheit resultieren, wenn die betreffenden Akteure beispielsweise an demselben Standort über einen längeren Zeitraum zusammengearbeitet und sich kennengelernt haben oder daraus, dass die Akteure regelmäßig an einem Unternehmensstandort oder einem anderen Treffpunkt zusammenkommen, um Details und Probleme der Zusammenarbeit abzustimmen bzw. auszuräumen. Hierbei wird temporäre Nähe genutzt, um institutionelle Unterschiede aufgrund großer räumlicher Distanz zu vermitteln und zu begrenzen (Bathelt 2005 b). Diese temporäre räumliche Nähe kann im Zeitablauf den Aufbau relationaler Nähe begründen und generiert Möglichkeiten, permanente Nähe in Produktionsbeziehungen dauerhaft durch Konfigurationen der Produktion und des Wissenstransfers über Distanz zu ersetzen (Bathelt und Henn 2014). Nach Thrift (2000 b) und Amin und Cohendet (2004) erzeugen globale Wanderungs- und Kommunikationsströme im Geschäftsleben (z.B. Geschäftsreisen; Messebesuche) die Chance, neuartige Transaktionsbeziehungen über räumliche Distanzen hinweg in der globalen Ökonomie aufzubauen. Dies wird durch unterschiedliche Konstellationen begünstigt.

(1) Geschäftsreisende. Sie treffen sich wiederholt und regelmäßig an neutralen Plätzen in verschiedenen Teilen der Welt, wie z. B. in Flughafenhotels, um dort intensive Gespräche face-to-face zu führen (Faulconbridge et al. 2009).

(2) Qualifizierte Ingenieure und Manager. Sie befinden sich für einen gewissen Zeitraum zu Montage- und Schulungszwecken an einem neuen Unternehmensstandort in einem anderen Land und transferieren die vor Ort gemachten Erfahrungen später in das Unternehmen zurück (Glückler 2008).

(3) Transnationale epistemische communities aus Mitarbeitern und Spezialisten. Sie sind durch ihre Erfahrungen in unterschiedlichen kulturellen und institutionellen Kontexten in der Lage, als boundary spanners zu fungieren (Coe und Bunnell 2003; Bathelt und Depner 2005; Torre und Rallet 2005).

(4) Neue Argonauten (New Argonauts). Im Kontext von transnationalen Beziehungen und Unternehmensgründungen spielen die sogenannten Neuen Argonauten, die in der Arbeit von Saxenian (2006) thematisiert werden, eine zentrale Rolle (Henn und Bathelt 2017). Am Beispiel der Hightech-Regionen Silicon Valley und Hsinchu, Taiwan, lässt sich zeigen, wie Neue Argonauten Erfahrungen aus einem neuen geographischen Kontext durch Unternehmensgründungen in einen früheren Kontext zurücktransformieren (Hsu und Saxenian 2000). Wie auch das Beispiel der Familiennetze jüdischer und indischer Diamantenhändler in globalen Transaktionsbeziehungen zeigt, nutzen die Akteure ihre Wettbewerbsvorteile, um auf beiden Seiten Wachstumsimpulse zu generieren (Henn 2010; 2012 a; 2013).

(5) Spezifische Internet-interfaces. Sie fungieren als Denkstudios und ermöglichen effiziente Problemanalysen in Produktion und Entwicklung über beliebige Entfernungen hinweg.

(6) Internationale Leitmessen (→ Box 4-2). An ihnen nehmen weltweit führende Unternehmen einer Branche oder Wertschöpfungskette teil, um Informationen über Marktentwicklungen und Innovationen auszutauschen (Maskell et al. 2006; Schuldt und Bathelt 2011; Bathelt et al. 2014) und neue Geschäftsbeziehungen zu knüpfen oder bestehende Beziehungen weiterzuentwickeln (Brailly 2016; Panitz und Glückler 2017).

Box 4-2: Internationale Leitmessen als globale Knotenpunkte

Messeveranstaltungen werden in der betriebswirtschaftlichen Literatur vorwiegend als Marketinginstrument zum Anwerben neuer Käuferschichten, zur Markenbildung und zum Imageaufbau sowie als Verkaufs- bzw. Vertriebsinstrumente zur direkten oder indirekten Steigerung des Absatzes diskutiert (Meffert 1993; Backhaus und Zydorek 1997; Kirchgeorg 2003). Tatsächlich ist der Abschluss von Verträgen in fast allen Branchen traditionell eine zentrale Funktion von Messeveranstaltungen und auch heute noch auf vielen Veranstaltungen von Bedeutung. Aber kommen Akteure immer nur mit unmittelbaren Kauf- oder Verkaufsabsichten auf Messeveranstaltungen? Dies ist bei Weitem nicht so – weder bei den Besuchern noch bei den Ausstellern. Die Zielsetzungen der teilnehmenden Akteure sind im Gegenteil sehr vielschichtig und heterogen. Viele kleine Unternehmen nutzen Messen beispielsweise als Ideengeber und beabsichtigen, sich einen Marktüberblick zu verschaffen. Sie versuchen Trends aufzuspüren, die sie später in der eigenen Produktion nutzbar machen können (Bathelt und Zeng 2015). Ausländische Unternehmen sind bestrebt, durch Messepräsenz etwa den Markteinstieg in einem anderen Land vorzubereiten. Unternehmen aus weniger entwickelten Ländern und Schwellenländern (z. B. aus Osteuropa und Südostasien) versuchen Designideen oder Muster zu erhalten, die sie für ihren Heimatmarkt (sowie im Hinblick auf weitere Märkte) imitieren können. Andere Un­ternehmen streben während einer Messeveranstaltung vor allem an, ihre Beziehungen zu bestehenden Kunden und Lieferanten zu vertiefen. Wiederum andere Hersteller nehmen teil, um Kooperationspartner für den Einstieg in neue Technologiefelder oder Marktregionen zu finden. Konkrete Ein- oder Verkaufsgespräche finden in diesen Fällen eher selten statt. Eine wesentliche Rolle spielen zudem Intermediäre bzw. Multiplikatoren, die z. B. als Journalisten oder Verbandsvertreter durch das Anbahnen von relevanten Gesprächen und Meinungsbekundungen über die Erfüllung ihrer subjektiven Erwartungen den Erfolgsverlauf von Messen beeinflussen können (Schuldt und Bathelt 2011; Bathelt et al. 2014).

Insbesondere internationale Fachmessen in den Bereichen Investitionsgüter, Dienstleistungen und Konsumgüter mit Leitcharakter haben eine bedeutende Funktion für den Wissensaustausch in einer Branche und dienen als Plattform der globalen Interaktion für Prozesse der Wissensgenerierung und des Lernens (Bathelt und Zakrzewski 2007; Bathelt und Schuldt 2008). Sie erzeugen einzigartige Bedingungen zur Kommunikation und zum Informations- und Wissensaustausch (sog. global buzz) (Bathelt und Schuldt 2010). Die während dieser Veranstaltungen stattfindenden Events, das innovative Niveau und die Größe der Messen verbunden mit einem hohen Anteil an internationalen Ausstellern und Marktführern machen diese Veranstaltungen zu zeitlich begrenzten, regelmäßig wiederkehrenden Spitzenereignissen der jeweiligen Branchen. Solche weltweit bedeutenden Veranstaltungen sind zugleich Vorreiter für kleinere, national oder regional begrenzte Messeveranstaltungen. Auf internationalen Leitmessen konzentrieren sich nicht nur Außendarstellung und Innovationen einzelner Unternehmen. Ganze Branchen arbeiten auf diesen Höhepunkt hin, auf dem weichenstellende Kontakte generiert, Verträge geschlossen und Trends präsentiert und ausgetauscht werden. Da sich auf diesen Veranstaltungen ein wesentlicher Teil der technischen Spezialisten und der Entscheider der betreffenden Branchen aus aller Welt trifft, findet ein globaler Wissensaustausch statt, der die zukünftige Entwicklung ganzer Branchen beeinflusst. Gerade persönliche Kontakte, die nicht durch technologische Lösungen ersetzbar sind, spielen dabei eine zentrale Rolle. Häufig werden die Gespräche zwischen Herstellern, Zulieferern und Abnehmern nach dem Ende einer Messeveranstaltung weitergeführt, konkretisiert und bilden die Grundlage für globale Vernetzungen (Bathelt und Zakrzewski 2007; Bathelt et al. 2014) bzw. die Verschaltung (sog. rewiring) bestehender und neuer Geschäftsbeziehungen (Panitz und Glückler 2017).

4.3Räumliche Disparitäten: ­Verdichtungsräume und ­ländliche Räume

Die räumliche Diversität gesellschaftlicher Wirklichkeit kann als Legitimation für die geographische Analyse ökonomischer und sozialer Phänomene aufgefasst werden (Sayer 1985; Johnston 1991 a; 1991 b; Massey 1994). Zentraler Ausgangspunkt wirtschaftsgeographischer Studien ist die empirisch gewonnene Erkenntnis, dass unausgeglichene Raumstrukturen bestehen. Räumliche Disparitäten bezeichnen allgemein Abweichungen bestimmter als gesellschaftlich bedeutsam erachteter Merkmale von einer gedachten ausgeglichenen Referenzverteilung (Biehl und Ungar 1995; Stiens 1997). Der Zusatz der gesellschaftlichen Relevanz ist hierbei wichtig, um diejenigen regionalen Unterschiede anzusprechen, die sich auf die als notwendig geschätzte Lebensqualität und die Lebenschancen der Bevölkerung auswirken. Der wirtschaftliche Entwicklungsstand einer Region wird mit zen­tralen Indikatoren, wie z. B. dem Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, der Arbeitslosenquote, dem Einkommensniveau und der Qualität der Infrastruktur, erfasst. Dennoch sind räumliche Disparitäten nicht notwendigerweise räumlich bedingt. Sie resultieren z. B. daraus, dass wirtschaftliche Produktion nicht überall gleichartig organisiert ist, weil etwa Normen und Gesetze sowie Erfahrungen in verschiedenen Volkswirtschaften unterschiedlich sind und auch auf regionaler Ebene voneinander abweichen. Indus­trielle Ballungen sind in ein bestimmtes regionales Umfeld eingebettet und daraus hervorgegangen. Ihr Entstehungsprozess ist ohne dieses Umfeld oft nicht begreifbar.

Disparitäten können auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen auftreten. Sie können als weltweite Zentrum-Peripherie-Gegensätze erscheinen, in Deutschland als Nord-Süd- oder Ost-West-Unterschiede, als Stadt-Land-Gegensätze oder als Ballungs- und Entleerungsprozesse in unterschiedlichen räumlichen Dimensionen.

Anhand des Gegensatzes von Stadt und Land lässt sich zeigen, dass räumliche Disparitäten das Ergebnis räumlich differenziert wirkender sozialer Prozesse sind. So setzte zur Zeit der Industrialisierung im Zuge einer Landflucht bei wachsender Bevölkerungszahl eine starke Verstädterung ein. Die Sterberate sank (→ Abb. 4.3) aufgrund neuer Erkenntnisse bei der Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbekämpfung (Berry et al. 1987, Kap. 3; Bähr et al. 1992, Kap. 5.2). In landwirtschaftlich geprägten Regionen fanden die Menschen in der Folge keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten mehr. Dies galt in Deutschland insbesondere für Regionen mit Anerbenrecht, wie z. B. das Münsterland, während in Regionen mit Realerbteilung, wie z. B. Hessen, zumindest für eine gewisse Übergangszeit die in der Erbfolge verbliebenen Einzelgrundstücke groß genug waren, um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren. Im Unterschied dazu gab es in städtischen Gebieten durch die Expansion von Handwerk und Manufakturen eine wachsende Anzahl von Arbeitsplätzen. Hier kam es deshalb zum Zuzug von Menschen aus ländlichen Regionen und aufgrund der wachsenden Bevölkerung entstanden hier die wichtigsten Märkte.


Abb. 4.3 Modell des demographischen Übergangs

Aus der Existenz solcher Disparitäten ergeben sich wichtige Untersuchungsfragen für die Wirtschaftsgeographie: Welche räumlichen und regionalen Disparitäten gibt es und durch welche sozialen und ökonomischen Prozesse werden sie ausgelöst? Um Fragen dieser Art zu beantworten, ist aus wirtschaftsgeographischer Sicht beispielsweise eine Analyse der unterschiedlichen räumlichen Ausprägungen von Unternehmensgründungen und -verlagerungen sinnvoll. Weitergehend könnte man fragen, welche sozialen und ökonomischen Prozesse einen Ausgleich oder eine Verstärkung solcher Disparitäten fördern. Wichtig ist hierbei, die richtige räumliche Maßstabsebene zur Betrachtung der konkreten Prozesse zu wählen, weil ansonsten die interessierenden Disparitäten nicht sichtbar werden. Bei einer Untersuchung sozialer Segregationsprozesse ist beispielsweise die Stadtteilebene als Ausgangspunkt der Untersuchung sinnvoll und nicht das Bundesland.

Resultat räumlich ungleichmäßiger Wirtschaftsprozesse sind räumlich ungleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen. Diese sind eine Folge von Wechselwirkungen zwischen Kapitalkonzentration, Bevölkerungskonzentration und Lebenschancen. In einer Demokratie wie Deutschland, die auf dem Prinzip der Chancengleichheit beruht, ist es nicht akzeptabel, dass durch räumliche Ungleichheiten unterschiedliche individuelle Entwicklungsmöglichkeiten vordefiniert werden. Deshalb leitet sich in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Grundgesetz das Ziel ab, gleichwertige Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu schaffen (Art. 72 und Art. 106, Abs. 3 GG). Dieses Ziel wird im Raumordnungsgesetz (§ 2 ROG) und in weiteren Gesetzen und Bestimmungen erläutert und präzisiert (Stiens 1988; Ernst 1995; 1997). Auch im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Art. 4 und Art. 174) bildet die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bzw. die Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts eine wichtige Norm der Gesellschaftsordnung.

4.3.1Verdichtungsräume

Die beiden Extreme räumlicher Disparitäten sind Ballung und Entleerung. In räumlichen Ballungen kommt es zu einer Konzentration von Menschen und damit zu einer Ballung sozialer und ökonomischer Aktivitäten. Dies trifft insbesondere auf große Metropolen und sogenannte Verdichtungsräume zu. Nach Gaebe (1987, Kap. 7) lassen sich unterschiedliche Merkmale zur Abgrenzung von Verdichtungsräumen verwenden:

 städtebaulich-morphologische Merkmale wie die Wohndichte und Geschosshöhe,

 demographische Merkmale, z. B. Mindestbevölkerung und Bevölkerungsdichte,

 ökonomische Merkmale der Arbeitsplatz-, Einkommens- und Berufsstruktur,

 ökologische Merkmale, wie etwa Immissionen, Frei- und Erholungsflächen,

 Verflechtungsmerkmale mit dem Umland, z. B. in Form von Berufspendlerverflechtungen.

Erste Abgrenzungsversuche von Verdichtungsräumen waren vorwiegend technischer Art. Sie erfolgten anhand weniger, oft subjektiv ausgewählter Merkmale und waren stark simplifiziert. Beispielsweise legte Scott (1912) einen 10-km-Radius um den Verkehrsmittelpunkt einer Großstadt fest und bezeichnete diesen als Agglomeration. Als Großstädte galten dabei Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern. Es ist klar, dass sich derartige Abgrenzungen nicht beliebig auf andere Länder übertragen lassen und nicht im Zeitablauf unverändert erhalten bleiben. Inhaltlich hatte Scott (1912) eigentlich etwas anderes abbilden wollen: Als Agglomeration wollte er eine Großstadtgemeinde und die durch ihre Sozial- und Bevölkerungsstruktur beeinflusste Umgebung zusammenfassen, die z. B. in ihrer Wohnweise, Verkehrsinfrastruktur und Pendlerstruktur spezifische Ausprägungen aufweist (Gaebe 1987, Kap. 7).

In der Nachkriegszeit erkannte man, dass Verdichtungsräume keineswegs homogene Einheiten sind, sondern dass sie eine innere Gliederung besitzen. Für diese Sichtweise war die Abgrenzung von Boustedt (1975, Kap. 8) besonders charakteristisch (→ Abb. 4.4). Boustedt (1975, Kap. 8.4) definierte eine Stadtregion anhand von Strukturmerkmalen (Agrarquote, Einwohner-Arbeitsplatzdichte) und Verflechtungsmerkmalen (Auspendler). Er unterschied vier Zonen der Stadtregion: Das Kerngebiet umfasste die Kernstadt und ihr Ergänzungsgebiet, welches aus angrenzenden Gemeinden mit ähnlicher Struktur besteht. Nach außen folgte darauf eine verstädterte Zone mit stärker aufgelockerter Siedlungsweise und einer hohen Zahl von Auspendlern in das Kerngebiet. Hiervon unterschied Boustedt (1975) noch eine Randzone mit zunehmendem Anteil landwirtschaftlicher Erwerbspersonen (Heineberg 1989, Kap. 2). Auch dieser Gliederung fehlt jedoch letztlich eine theoretische Begründung. Zudem wurde eine kreisförmige Struktur der Städte um ihren Mittelpunkt unterstellt. Die Ministerkonferenz für Raumordnung definierte Verdichtungsräume im Jahr 1970 in der Bundesrepublik Deutschland nach nur einem einzigen Merkmal, der Einwohner-Arbeitsplatzdichte (d. h. der Anzahl der Einwohner plus Beschäftigten je km2).


Abb. 4.4 Abgrenzung einer Stadtregion in Deutschland (nach Boustedt 1975, S. 344)

Daneben gibt es eine Vielzahl alternativer Abgrenzungsversuche von Verdichtungsräumen und Stadtregionen (Lichtenberger 1986, Kap. 2.1; Gaebe 1987, Kap. 7; Tönnis 1995). Außerdem bestehen in verschiedenen Ländern voneinander abweichende Festsetzungen von Verdichtungsräumen, die nur schwer miteinander vergleichbar sind. In den USA werden beispielsweise sogenannte metropolitan statistical areas abgegrenzt. Die Grenzziehung erfolgt auf der Ebene von counties und basiert auf den Merkmalen Mindestgröße, Mindestdichte und Mindestpendleranteil in die zentralen counties der Agglomeration.

Insgesamt sind Abgrenzungen von Verdichtungs- und Ballungsgebieten problematisch. So ist die Wahl der Abgrenzungsmerkmale und der Abschneidegrenzen selten zwingend. In der Regel wird eine pragmatische Vorgehensweise bevorzugt, weil eine theoretisch begründete Methodik nicht existiert. Vielfach wird die Bedeutung von Verflechtungsmerkmalen für solche Abgrenzungen hervorgehoben, jedoch in der Praxis zu selten tatsächlich verwendet. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Abgrenzungen in der Regel von der Existenz eines Verdichtungskerns ausgehen, zu dem hin Verflechtungen von außen bestehen. Das hierbei unterstellte ringförmige Städtemodell trifft aber auf nordamerikanische Städte nur noch bedingt zu.

Die Raumentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland war in der Nachkriegszeit durch drei Prozesse geprägt (Gaebe 1987):

(1) Urbanisierung (Verdichtung der Kerngebiete),

(2) Suburbanisierung (städtische Expansion ins Umland),

(3) Entleerung (Abwanderungen aus strukturschwachen, dünn besiedelten Regionen, die oft auch als ländliche Räume (Maier und Weber 1995) bezeichnet werden).

Das Raumordnungsgesetz aus dem Jahr 1965 bejahte Konzentrationen und strebte explizit sogar eine weitere Verdichtung von Wohn- und Arbeitsstätten an. Die Grenze des Verdichtungsprozesses wurde darin über gesunde Strukturen und ausgewogene Lebensverhältnisse allerdings eher verschwommen formuliert. Wann und unter welchen Bedingungen Verdichtungen als unausgewogen zu betrachten waren, wurde nicht operationalisiert. Bei der Abgrenzung von Verdichtungsräumen als Regionen mit einer Bevölkerungsdichte von mehr als 1250 Einwohnern pro km2 – einer Abgrenzung, die häufig Verwendung fand – entfielen auf diese Raumkategorie im Jahr 1970 etwa 7 % der Fläche der Bundesrepublik Deutschland, 45 % der Wohnbevölkerung und 55 % der Beschäftigten.

In den 1970er-Jahren erkannte man aber auch, dass es Gebiete mit negativen Verdichtungsfolgen gab. Ausdruck hiervon waren eine zu starke bauliche Nutzung in Relation zu den bestehenden Freiflächen, ein zu hoher Zeitaufwand beim Zurücklegen der Entfernungen zwischen Wohn- und Arbeitsstätte sowie eine Überlastung der Infrastruktur. Bei der Novellierung des Raumordnungsgesetzes Ende der 1980er-­Jahre wurden derartige Verdichtungsnachteile berücksichtigt und der Vorrang der Verdichtung aufgegeben (Tönnis 1995). Ziel der Raumordnung ist demnach einerseits die Vermeidung zu starker Verdichtung, andererseits aber auch die Verhinderung von Zersiedlungserscheinungen. Unter dem Prinzip der dezentralen Konzentration wird eine begrenzte Konzentration der Funktionen Wohnen und Arbeiten auf Verdichtungskerne, eine Entlastung dieser Verdichtungen durch kleine Konzentrationen am Verdichtungsrand und außerhalb der Verdichtungen sowie eine Konzentration der Infrastruktur auf bestimmte Achsen angestrebt (Stiens 2004). Grundlage dieser räumlichen Steuerung ist die Klassifikation siedlungsstruktureller Regionstypen die von der Ministerkonferenz für Raumordnung (MKRO) 1993 beschlossen und auf Ebene der Gemeinden abgegrenzt wurde (BBSR 2009). Die Abgrenzung basiert auf den beiden Kriterien der Siedlungsdichte (Einwohner je km² Siedlungsfläche) und des Anteils der Siedlungs- und Verkehrsfläche an der Gesamtfläche. Aus der Kombination dieser Kriterien werden insgesamt sieben Regionstypen differenziert, die von hoch verdichteten Agglomerationsräumen bis hin zu ländlichen Räumen geringer Dichte reichen (→ Abb. 4.5). Zu den Verdichtungsräumen gehören Gemeinden, deren Fläche im Vergleich zum Bundesdurchschnitt überdurchschnittlich als Siedlungs- und Verkehrsfläche genutzt wird und die gleichzeitig eine über dem Bundesdurchschnitt liegende Siedlungsdichte aufweisen. Wesentliches Kriterium eines Verdichtungsraums ist ferner, dass dort mehr als 150 000 Einwohner leben. Insgesamt ist über die Hälfte der bundesdeutschen Bevölkerung in Verdichtungsregionen konzentriert.


Abb. 4.5 Verdichtungsräume in Deutschland (nach BBSR 2009)

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