Politiker wider Willen

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In ihr wirken die mächtigen Individuen auf die nicht mächtigen ein. Die Masse ist leichtgläubig, hypnotisiert; sie hat keinen kritischen Geist mehr und sie lügt. Sie geht immer zu den Extremen hin, den Extremen des Guten und des Bösen; sie ist nicht gut oder schlecht, sie ist, was die Anführer wollen.

Wenn man bedenkt, dass der Nationalsozialismus und Hitler dem Bundespräsidenten und Aussenminister Pilet-Golaz dereinst viel Ungemach bereiten werden, hören sich die folgenden Ausführungen des Bellettrien wie eine Vorahnung an:

[Die Menge] ist auch grundsätzlich religiös. Deshalb vergöttert sie ihre Chefs. Und ihre Anführer haben ebenfalls ihre besonderen Eigenschaften. Erstens kennen sie die Psychologie der Masse und wissen, wie sie auszunützen. Ihre Reden enthalten nichts als einfache Behauptungen. Sie haben einen starken, unerschütterlichen Willen. Während Intelligenz für sie nicht unentbehrlich ist, ist der Glaube an sich selber absolut notwendig. Dies ist, was Monsieur Pilet Monsieur le Bon sagen lässt. Und dies ist, was Monsieur Pilet in Monsieur le Bons Buch besonders beeindruckt hat: das Portrait des Führers einer willenlosen Masse.

Mit Le Bons These, dass die Menge immer dumm ist und nur crétineries macht, ist Pilet hingegen gar nicht einverstanden: Die Annahme des Zivilgesetzbuchs beweise, dass die eidgenössischen Räte keine Ansammlung von Dummköpfen sind. Als weiteres Beispiel nennt Pilet die Geschworenengerichte, die ihre Urteile nicht merklich geändert hätten, «seit ihnen Leute aus allen Klassen angehören, weil es in allen Jurys immer Intelligente gibt, welche die Nieten leiten». So sind denn für Pilet Le Bons Schlussfolgerungen falsch:

Le Bon ist ein Sektierer, ein hitziger Gegner des Sozialismus, der versucht, die demokratische Staatsform zu diskreditieren. Indem er mit Wörtern spielt, zieht er aus richtigen Prämissen falsche Ideen. Durch einen argumentativen Kunstgriff macht er aus einfachen Versammlungen von Menschen eine psychologische Masse. Er übersieht die besonderen Umstände, die zur Bildung einer psychologischen Masse erforderlich sind. Weder ein Parlament noch eine Jury versammeln sich unter den ziemlich speziellen Umständen, die eine psychologische Masse erzeugen. Versammlungen sind nicht in dem notwendigen erwartungsvollen Zustand. Es sind Versammlungen von intelligenten Leuten. Individuen sind generell wenig geneigt, sich hypnotisieren zu lassen.

Wir haben hier Kerngedanken in Pilets politischer Weltanschauung, die sich im Laufe seines Lebens kaum ändern werden. Er befürwortet die demokratische Staatsform, er vertraut dem Volk und den intelligenten Individuen, die das Volk führen. Fanatismus und Sektierertum sind ihm zuwider. Infrage gestellte Institutionen wie Parlamente und Geschworenengerichte verteidigt er.

Beim letzten Vortrag, den Pilet im April 1910 vor den Bellettriens hält, überrascht er die Zuhörer durch seine exzentrische Themenwahl. Sekretär Philippe Secretan:

Pilet las uns seine Arbeit, die man mit Ungeduld erwartete. Würde er uns die Biographie eines grossen Mannes wie Sainte-Beuve erzählen oder würde er uns von einem anderen Thema von allgemeinem Interesse sprechen, von einer philosophischen Theorie, von einer geologischen Epoche, von einer Maschine oder von der Elektrizität, wie seine Intelligenz es ihm erlaubt hätte? Denn Pilet – es wird euch nicht entgangen sein – ist sehr intelligent Pilet ist kalt. Er ist ein sehr detachierter Beobachter. Er hat uns von Vauvenargues gesprochen, wie er es von einem Heissluftmotor getan hätte, ohne Emotion, ja ohne seine inneren Gefühle sehen zu lassen, oder wenigstens glaubte er, dass man nichts gesehen habe.

Wohl kaum einer der Bellettriens hat von Vauvenargues (1715–1747) gehört, der im Dienste des Königs an zahlreichen Feldzügen teilnahm, bevor ihn eine Kriegsverwundung zum Invaliden machte. Die letzten vier Jahre seines kurzen Lebens verbrachte er zurückgezogen mit Schreiben von Aphorismen. Für Pilet ist Vauvenargues ein wichtiger Philosoph. Die Denker des 17. Jahrhunderts «wollten, dass die Menschen von Natur aus schlecht, böse und pervers seien». Als Mann des nächsten Jahrhunderts habe Vauvenargues dagegen an die natürliche Güte der Menschen geglaubt, auf die Macht der Vernunft und «die Idee des Vertrauens des Menschen in sich selbst – alles, was den Individualismus schafft».

Secretan kann nachempfinden, was in Pilet vorgeht. Pilet bewundert den kühnen Soldaten Vauvenargues und strebt selbst nach la gloire – Ruhm, Ehre. Es folgen im Protokoll Sätze, die deutlich auf Vereinspräsident Pilet gemünzt sind und die sich geradezu hellseherisch anhören:

Ob im hitzigen militärischen Leben oder in den heftigen Kämpfen, die manchmal Studentenvereine in Aufregung versetzen, sieht man Männer, welche die gloire derart dienstfertig umwerben, dass sie sie zu ihrer tyrannischen Geliebten machen, und die bei ihnen oft bloss Bitterkeit und Abscheu zurücklässt, wenn sie ihr einmal nicht mehr gefallen.

Secretan bemängelt in Pilets Arbeit «mangelnde Originalität» und streut als Zugabe Salz in die Wunde:

Der Stil, dem Pilet anscheinend grosse Sorgfalt hat angedeihen lassen, ist weit entfernt davon, perfekt zu sein, er ist nicht einmal gut. Er hat gewisse Schwerfälligkeiten, die freilich beim Lesen mehr auffallen als beim Zuhören, und zudem verunstalten ihn einige Französischfehler.

Sein Stil soll schwerfällig sein, Französischfehler soll er gemacht haben? Pilet, der dünnhäutiger ist, als er zu sein vorgibt, wird die ätzende Kritik nicht goutiert haben.

9. Eine Demoiselle aus Orbe

Die belle histoire d’amour, die Marcel Pilet fürs Leben mit Mathilde Golaz verbinden wird, beginnt prosaisch an einem düsteren Dezembersamstag 1909. Die im Zug mit Hallo und Gesang aus Lausanne aufgebrochenen Bellettriens kommen um 17 Uhr im Städtchen Orbe am Fuss des Juras an. Statt des erhofften Empfangs mit Musik und Blumen steht am Bahnhof bloss ein Ehrenmitglied ihres Vereins, «begleitet von einem Herrn in Schwarz und einer leichten, aber kalten Bise.» In Gruppen von zwei oder drei begeben sich die Studenten zu den «guten Familien» in Orbe, die sie zum Abendessen eingeladen haben. Die einen geniessen dort den guten Wein, andere die Gesellschaft von charmanten Begleiterinnen.

Verspätet tröpfeln die Schauspieler im Casino ein, kleiden sich rasch um, kleben Schnäuze und Bärte an. Derweil schauen sich im Saal um die hundert Personen gegenseitig an und warten darauf, dass der Vorhang sich hebt. Hundert sind wenig, aber wenigstens sind es des gens biens! Endlich erschallt, vom Dorforchester gespielt, der Belles-Lettres-Marsch und «zweifellos zum ersten Mal» singen die Bellettriens le Sapin vert, «begleitet und beinahe richtig».

Sekretär Gagnaux, der die Exkursion protokolliert, spart seine Kritik an den Schauspielern für ihren Hauptauftritt in Lausanne auf. Dort wird das Stück Gringoire das Publikum «vibrieren» lassen. Und dort wird Pilets lebhaftes und wahres Spiel manch hübsche Augen zu Tränen rühren. «Unser Präsident bestätigte seinen Ruf als glänzender Schauspieler und verschaffte sich frenetischen Beifall.»

Ob die hundert Zuschauer in Orbe auch frenetisch Beifall geklatscht haben und ob auch dort die Mädchenaugen feucht wurden, verschweigt der Chronist. Jedenfalls war das Publikum «entzückt». Nachher wird der Saal für den Ball hergerichtet.

Plötzlich scheint das Casino zusammenzukrachen. Die Scheiben zittern, die Türen wackeln in ihren Angeln. Keine Angst! Es ist bloss das Tanzorchester, das die schönsten Stücke seines Repertoires spielt. Jeder stürzt sich auf die Schönheit seiner Wahl. Der Ball beginnt. Die Bellettriens tanzen wenig und die dreissig Fräuleins von Orbe geniessen mehr, als ihnen lieb ist, das Glück, sitzen zu bleiben.

Die letzten Akkorde der Musik sind verklungen, langsam leert sich das Casino. Die Braven nehmen programmgemäss den Frühzug von 5 Uhr, andere schlafen im «Hôtel des deux Poissons», wieder andere unter der Casinobühne und wieder andere überhaupt nicht. Verfolgt von den wenig freundlichen Blicken der einheimischen Passanten, wandern sie übernächtigt und müde in den Morgenstunden durch die mittelalterlichen Strassen von Orbe, bis der Lausanne-Zug sie erlöst.

Ein paar jungen Fräuleins, Töchtern aus den guten Familien von Orbe, haben die frechen baladins, die Wanderschauspieler von der Uni Lausanne, imponiert. Darunter ist die aparte 22-jährige Tillette Golaz – die eigentlich Mathilde heisst, die aber niemand so nennt. Ihr vor neun Jahren verstorbener Vater war der mächtigste Politiker von Orbe: Sieben Jahre Militärdirektor, bevor er im Staatsrat einem Liberalen Platz machen musste und als Ständerat nach Bern abgeschoben wurde. Tillette lebt mit ihrer Mutter in einer eleganten Villa mit gepflegtem Garten, la maison carrée, von wo man auf den tief unten liegenden Fluss Orbe schaut.

Das Mädchen ging in Orbe in die Primarschule, die sie mit besten Zeugnissen immer als Klassenerste abschloss. In Lausanne besuchte Tillette das Gymnasium, wo sie «Kurse in der französischen Sprache, der deutschen Sprache, der englischen Sprache, Arithmetik, Geschichte, Geografie, Botanik und Physiologie belegte: Sie zeigte sich fleissig und ihr Betragen war in allen Belangen ausgezeichnet.»

Mit ihren Zeugnissen hat sie auch einen Zeitungsausschnitt aus dem Journal des Jeunes Filles aufbewahrt, eine Graphologierubrik:

Geordneter Geist, ordentlich, sparsam, kennt den Wert des Geldes. Misstrauisch, vorsichtig. Hat Stolz, eine sanfte Beharrlichkeit. Ist hingebungsvoll, hilfsbereit, andererseits ein wenig eigen. Hat Geschmack, Feingefühl, Schwung, ein bisschen Ehrgeiz, liebt die intellektuellen Dinge.

 

Die 16-jährige Tillette hatte der Zeitschrift unter einem Pseudonym geschrieben und um eine Beurteilung ihrer Schrift gebeten. Wenn man der Graphologie glauben will, war sie von «wohlwollender, sanfter, intelligenter, korrekter, liebevoller Natur», aber auch von «etwas wandelbarer Laune».

Die junge Dame ist gebildet, hat Sprachaufenthalte in England und Deutschland hinter sich, kennt auch bereits Paris und das Mittelmeer. In Orbe, wo sie sich um ihre Mutter kümmert, bei Wohltätigkeitsanlässen mitwirkt und vermutlich auf einen standesgemässen Ehemann wartet, langweilt sie sich.

In einem der damals üblichen Schulhefte mit schwarzem Deckel findet sich ein eigenartiges, von Tillette geführtes «Protokoll». Daraus ersieht man, dass in Orbe fünf

fröhliche junge Leute «von sprudelndem Geist» auf den Gedanken kamen, eine Vereinigung zu gründen mit dem «ganz einfachen Zweck», zusammen einige gute Stunden zu verbringen.

Das Fanion, Fähnchen, wie sich die jungen Leute nennen, ist eine Art Belles-Lettres, eine mit Frauen. Die Lausanner Sektion hat kurz zuvor die Aufnahme weiblicher Mitglieder abgelehnt. Die treibenden Kräfte sind die 21-jährige Tillette, und der 18-jährige Jusstudent Henry Vallotton. Wie eine «richtige» Studentenverbindung hat das Fanion Statuten, ein Wappen – in den Kantonsfarben Grün und Weiss –, eine Devise – amitié, gaîté, franchise. Weil Henry in Lausanne bei den Zofingern ist, übernehmen sie auch Bräuche dieser Vereinigung. Sie geben sich Couleurnamen und schaffen das Amt des Fuchsmajors, das Tillette übernimmt, während Henry «zum Unglück aller» als Sekretär verknurrt wird. Die unerforschlichen Wege des Schicksals wollen es, dass der Fuchsmajor und der Sekretär dieses eigenartigen Fähnchens, Tillette Golaz und Henry Vallotton, dereinst in Marcel Pilets Leben eine Hauptrolle spielen werden.

In den Fanion-Protokollen bemüht sich Henry, geistreich und literarisch zu sein, und macht dabei «Miss Tillette» diskret den Hof: «Ich hätte Ihnen tausend Dinge zu sagen – gute und schlechte –, aber dies ist überhaupt nicht der richtige Augenblick.» Und weiter schreibt der vorwitzige Henry oder «Harry», wie er sich trendig nennt:

Die Mondnächte verlocken Sie zu sehr. Um dies zu verbergen, machen Sie eine leichtfertige Miene, aber Ihre Kameraden haben Sie durchschaut, sie haben Ihre Absicht erraten – erröten Sie nicht, dies ist sehr gut und passt zu Ihrem Alter!

Weil sie immer tout émue, ganz gerührt, zu sein scheint, erhält sie den Couleurnamen Tante Emue, Tante Gerührt.

Obschon die Mitglieder nach welscher Sitte schmolitz – deutschschweizerisch Duzis –, gemacht haben, spricht Harry, vulgo Rossard – frei übersetzt Rotznase –, Tillette weiter mit vous an. Er ist sich des Altersunterschieds bewusst und sie ebenfalls. An der letzten «schläfrigen» Sitzung vor den Sommerferien liest Tillette ihren Aufsatz vor. Im Protokoll macht sie in gespielter Bescheidenheit. Sie erzittere vor ihrer «aus markanten Persönlichkeiten zusammengesetzten Jury», die ihre «schreckliche Pfuscherei» lesen werde. Sie neckt «Rossard», der Lieder mit dem ewig gleichen Refrain summt und damit die Geduld der Versammlung strapaziert. Vergeblich habe man ihn ersucht, «mit diesem Radau aufzuhören»; ihn um Gnade gebeten, ihn angefleht, doch «nichts konnte den jungen Halbwüchsigen beruhigen».

Dann wird die Protokollführerin sentimental. Wenn ihre «ungeschickte Feder» den zweiten Teil des Abends erzähle, verliere dieser «all seinen Charme und seine Poesie».

Es war einfach köstlich, meine Lippen sind unfähig, die Gefühle von Dankbarkeit auszudrücken, die im Grund unseres Herzens ruhen. Danke, Rossard, für deine Liebenswürdigkeit. Wir hoffen, dass wir noch oft die unendliche Freude haben werden, deine warme, vibrierende und sympathische Stimme zu hören. 14. Juli 1910. Vice-Secrétaire Tante Emue.

Hat sich Tillette in Henry – den schönen «Halbwüchsigen» – verguckt?

Vielleicht. Aber auch ein anderer junger Rechtsstudent hat es ihr angetan, der Präsident von Belles-Lettres und Hauptdarsteller von Gringoire, dem sie ein halbes Jahr vorher, an jenem kalten Winterabend, in Orbe begegnet ist und mit dem sie – vielleicht – getanzt hat. Im Februar erhält der Präsident von Belles-Lettres eine an die Adresse Brasserie de Lausanne geschickte, unsignierte Karte. Darauf ist zu lesen, dass das petit comité du fanion sich «vor dem neuen Präsidenten von Belles-Lettres tief verneigt» und ihm Glück wünscht.

Pilet hat die Identität der Absenderin erraten und flirtet zurück:

Da ich nur die Adresse des Sekretärs des petit comité kenne – ich verdächtige ihn übrigens auch, Präsident zu sein –, viele Chargen für ein so kleines Köpfchen, schicke ich ihm meinen besten Dank für die liebenswürdige Karte. Wirklich, Mademoiselle, Sie sind mehr Bellettrienne, als man dies überhaupt sein kann, und es ist mir angenehm, eine Verbindung zu präsidieren, der Sie so viel Interesse entgegenbringen.

Zum Schluss schreibt Pilet: «Weil wir in den nächsten Jahren in Orbe keine Abendveranstaltungen mehr organisieren werden, weiss ich nicht, was mich bewogen hat, Präsident zu bleiben. Vielleicht Faulheit. Merci noch einmal.» Keine Unterschrift.

Den Entwurf ihrer kecken Antwort – sie hat sich mit der Formulierung viel Mühe genommen – bewahrt die spätere Mme Pilet-Golaz auf.

Monsieur mon collègue …, weil Sie mich mit dem Titel Präsident ehren … seien Sie in Zukunft mit Ihren Liebenswürdigkeiten vorsichtiger! Scheint Ihnen mein so kleines, winziges Köpfchen so wenig fähig, schwere Lasten zu tragen? Sie müssen wissen, dass es sehr schlimm ist, auf diese Weise einen Anfänger, einen Schwachen, einen Unerfahrenen niederzumachen – und erst noch Sie, den ich für ein bisschen intelligent und gutartig hielt! – wie immer trügt der Schein! Sie verdienen Strafe … jedoch verzeihe ich Ihnen, hier der Beweis: die beiden Fotos, die Sie an die Wand Ihres Zimmers anstecken können, in Erwartung des Originals, vielleicht! Und ich grüsse Sie ganz herzlich, der Sekretär, nein, der verdächtigte Präsident!

«In Erwartung des Originals, vielleicht!» Hohe Kunst des schriftlichen Flirtens.

10. Romanze

Samstag, 26. Juni 1909

Ein Jahrmarkt in Orbe liefert dem im Militärdienst weilenden Präsidenten von Belles-Lettres den Vorwand, um mit den jungen Leuten des Fanion zusammenzukommen. Wie er Mlle Golaz ein Jahr später aus Deutschland schreibt, erinnert Marcel Pilet sich noch genau an jene «glückliche kermesse auf der Terrasse unter den schattigen Kastanienbäumen bei den alten römischen Türmen».

Es war für mich ein grausamer, aber süsser Tag. Ja, auch ich liebte Sie bereits. Ich liebte die Anmut Ihrer Gesten, das Leichte Ihres Haars, die träumerische Güte Ihres Lächelns. Ich liebte Sie schon sehr stark und nur für Sie allein bin ich hingegangen.

Grausam ist der Tag, weil er nicht weiss, ob Tillettes Herz schon einem andern gehört. Vergeblich wartet Pilet auf ein Zeichen der Zuneigung, mindestens ein Zeichen, dass er ihr nicht unsympathisch ist. Nichts dergleichen. Sie scheint ihm gar aus dem Weg zu gehen. Wieso also in Orbe bleiben? Er sagt zu seinem Kollegen Weitzel, er werde mit dem Siebenuhrzug nach Lausanne heimkehren.

Dann kommt sie zu ihm und sagt ganz einfach: «Sie werden sehen, am Abend ist es immer viel besser. Bleiben Sie, ich garantiere es Ihnen!» Und er bleibt. Marcel redet mit Tillette, hört ihr zu, geht dorthin, wo sie hingeht. Er bewundert, wie im Tanz ihre Schritte gleiten, wie ihr Rock sich kokett und anmutig dreht. Dann ist die Reihe an ihm, sie «um den Gefallen eines Walzers zu bitten». Zum Schluss verabschiedet sie sich: «Auf Wiedersehen, auf bald einmal, in den Ormonts, hoffe ich.» In den Ormonts in den Waadtländer Voralpen besitzt die Familie Golaz ein Chalet.

Man schreibt sich. Als une vieille amie, als alte Vertraute, gratuliert sie ihm zum Leutnantsgrad. Sie bittet ihn – als Kenner der Literatur und erfahrenen Theatermann – um Rat. An einer privaten Abendgesellschaft in Orbe möchte sie eine Stelle aus einem Theaterstück rezitieren und ersucht ihn um Vorschläge.

Mittwoch, 1. September 1909

An einem sonnigen Spätsommerabend hat der in den Manövern weilende Leutnant Pilet in einem Waadtländer Kaff Wachdienst. Gelangweilt liegt er im Stroh auf dem Bauch. «Mon lieutenant, ein Brief für Sie!» Tatsächlich, ein Brief, adressiert an «Monsieur le lieutenant Pilet, in den Manövern». Ein Brief nicht mehr von T. Golaz an den Präsidenten von Belles-Lettres, sondern von Tillette Golaz an Marcel Pilet. Ein Brief, der ihn an das maliziös hochgestülpte Näschen der heimlich Angebeteten erinnert und in ihm Träume von gemeinsamen Spaziergängen unter den Pappeln des Moores von Orbe weckt. Der Brief beginnt mit «Ihnen zu Befehl, mon lieutenant, würde ich antworten, wenn ich einer Ihrer kleinen Soldaten wäre und nicht eine demoiselle, die Sie zu wenig … oder zu gut … kennen».

Genau ein Jahr später wird er der zu ma Tillon gewordenen Freundin schreiben:

Schon liebkoste mich das Parfum Ihrer exquisiten Seele und berauschte mich. Ich war zufrieden, zufrieden, zufrieden. Ich wollte grundlos lachen, singen, schreien, mich im Heu wälzen.

Leutnant Pilets Ordonnanz – der «impertinente Dupont, der sich mit mir alles erlaubt, aber ein guter Bursche, rauer Soldat, der für seinen Leutnant durchs Feuer gehen würde» – kommt zu ihm, zwinkert mit den Augen und bemerkt halb respektvoll, halb spöttisch: «Ganz gewiss ist der Brief von der bourgeoise, mon Monsieur, dass Sie so herauslachen.» Bourgeoise ist ein familiärer Ausdruck für Frau, Gattin, Freundin. Weiter fragt Dupont: «Ist sie hübsch?» Pilet hätte Lust zu antworten: «Eh, oui, Dupont, Du hast richtig geraten, wegen dieser Bourgeoise bin ich so fröhlich. Und ob sie hübsch ist? Oh, hübsch, hübsch wie eine Rose am Morgen.» Aber als Offizier, der auf seinen Rang achtet, erwidert er halb scharf, halb amüsiert, es sei schmählich für eine Ordonnanz, die etwas auf sich halte, derart dumm daherzuplappern und seinen Monsieur zu unterbrechen. Ausserdem sei sein Offiziersäbel dreckig und Dupont in seinem Zug der Faulste aller Faulpelze …

Dupont nimmt den Verweis nicht ernst. Beim Weggehen gibt er seinem Leutnant einen leichten Ellbogenstoss und sagt, er solle «sie» bitte von ihm herzlich grüssen lassen. Während des Rests der Manöver ist der Leutnant in aufgeräumter Stimmung.

Von jenem Tag an gelang es mir, meine Männer besser zu nehmen. Am Schluss haben alle mir, dem Leutnant, den die meisten nicht ausstehen konnten – den anfänglich alle, bis zum Letzten, nicht ausstehen konnten – mit einem «bis zum nächsten Jahr» freundlich die Hand gegeben.

Donnerstag, 13. Oktober 1910

Telefon eines Freunds aus Yverdon, der mit Mutter und Schwester die Landwirtschaftliche Ausstellung in Lausanne besuchen will, die sich Pilet auf Drängen des Vaters bereits unwillig angeschaut hat. Kann Marcel ihr Führer sein? Er macht gute Miene zum bösen Spiel, steuert die Gesellschaft durch die Stände, als er kurz vor Mittag im Saal der Weine ein bekanntes, liebes Gesicht erblickt. Er sagt bonjour und geht weiter – «man ist Führer oder man ist es nicht». Schliesslich kann er sich von den Yverdonern verabschieden, setzt sich auf eine Bank «nicht weit von den Blumen, nicht weit von den Weinen», und wartet. Dort kommt ein Herr auf ihn zu: «Bonjour Monsieur Pilet, was tun Sie hier?» – «Wie Sie sehen, suche ich jemand!» – «Genau wie ich, suchen wir doch zusammen.» Der Herr, ein ehemaliger Bellettrien, jetzt Schuldirektor in Aigle, unterhält sich angeregt mit Pilet, bis dieser unvermittelt aufsteht, einige Worte stammelt und wegläuft. Er hat sie entdeckt!

Tillette hat ihre Entourage verloren, ist allein, schlecht gelaunt, sagt sie. Immerhin nimmt sie seine Begleitung an. Ein Jahr später erinnert sich Pilet noch an alles: die Vögel im Stroh, das Holz aus Orbe, den säuerlichen Most, die Stickereien, die «Maggi»-Pastinake, deren kulinarische Verwendung sie beide nicht kannten, das Portemonnaie, das sie ihm anvertraute, ihren Mantel, den er «mit einer Mischung von Glück, Heroismus und Ehrfurcht» auf seinem Arm trug. Ja, und dann hat sie halt ihren Zug verpasst. So spaziert man zusammen zur Buchhandlung Lapie und zu einem Laden, in dem sie Stickereien kauft. Zum Abschied sagt sie: «Und wenn Sie zum Artillerieschiessen kommen, verpassen Sie es nicht, bei uns im Haus vorbeizuschauen. Dies würde uns freuen.»

 

Sonntag, 30. Oktober 1910

Pilet kommt zum Pierrefleur-Ball nach Orbe. In den frühen Morgenstunden begleitet er Tillette nach Hause. Geplauder beim «weissen Rauch eines letzten Tees.» Am Nachmittag Spaziergang mit Freunden und Freundinnen im Tal der blauen Orbe, am Abend erstes langes Gespräch zu zweit unter Kastanienbäumen auf einer kleinen Terrasse.

Sie sassen neben mir, ein wenig müde, halb ausgestreckt auf einem Schaukelstuhl, Ihr Fuss spielte mit nichts in der Luft. Ich war beinahe am Boden, auf einem kleinen gestickten Schemel, und mit zitternder Hand habe ich ein Band, das sich von Ihrem Stiefelchen gelöst hatte, wieder zurechtgerückt oder getan als ob … Ich liebte Sie schon, von vollem Herzen.

Donnerstag, 10. November 1910

Bevor er ins Bett geht, schreibt er Tillette einen mehrseitigen Antwortbrief:

Ihr Brief! Sie können nicht glauben, welche Freude er mir gemacht hat, oder vielleicht können Sie es spüren. Ich wollte ihn lesen und nochmals lesen in meinem freundlichen, warmen Zimmer. Hier an meinem Arbeitstisch, wo ich meine gewohnten Chrysanthemen streichle und von meinem ganzen vertrauten und intimen chez moi umgeben bin; hinten in der Ecke meine grosse Pendule, welche ein wenig grob die Sekunden zählt, wie eine alte, durch ihre Aufgaben verhärtete Magd.

Dann wird der junge Mann noch poetischer. Er schreibt von den ruhig fallenden Blättern – den feuilles mortes (viele Jahre bevor Kosma und Prévert ihr weltberühmtes Lied schreiben werden):

Sie fallen, um auf ihrem geliebten Boden zu sterben, in einer bekannten Erde, die sie innig empfängt. Und das erinnert einen an die schönen Alten, die dort unten in dem unter der Sonne lächelnden Friedhof ruhen, am Rande der Strasse ganz am Ende des Dorfs. Wissen Sie, einer dieser kleinen bescheidenen Landfriedhöfe, die von einer Hecke von schwarzen Tannen umgeben sind. Mit einem alten Tor, das nicht mehr gut schliesst und wacklig der Hand nachgibt, die es aufstösst. Ich habe immer gehofft, auch an einem so friedlichen und ruhigen Ort in den grünen Feldern zu ruhen.

Marcel erklärt, wieso er im Monat zuvor an der Abendgesellschaft in Orbe geschwiegen hatte, als Tillette das Gedicht La Brise aus Les Bouffons rezitierte. Ein Stück von Miguel Zamacoï, das mit Sarah Bernhardt in der Hauptrolle 1907 in Paris uraufgeführt wurde. Sehr gerne hätte er ihr ein Kompliment gemacht:

Sie sind so zierlich dahergekommen in Ihrem rosafarbenen, diskret engen Kleid, um uns von der Liebe dieses unglücklichen «Zephyr» zu erzählen; Ihre Stimme war der Reihe nach so liebwert, so ernst, so zornig, dass man sich genussvoll gehen liess, um der Legende des Gedichts nachzuträumen.

Er habe geschwiegen, weil er fürchtete, sie würde ein Kompliment als törichte Galanterie auffassen, «als die Höflichkeit eines Tänzers, der schmeicheln und den Geistreichen spielen will». Weil ihn Tillette um sein gerechtes Urteil gebeten hat, liefert er es:

Ausser zwei kleinen, ganz geringen Fehlern – der Sorge um perfekte Artikulation, die ein wenig weit getrieben wurde und die das Gefühl einer schwierigen und mühsamen Arbeit hinterlässt, und einer gewissen Eile im Redefluss – Sie markieren den Takt nicht genug – hat mich Ihre Brise absolut entzückt und dies ist der Grund, wieso ich Ihnen dazu kein Wort gesagt habe.

Liebe macht nicht ganz blind. Bellettrien bleibt Bellettrien, Schulmeister Schulmeister.

Zum Schluss seiner langen Epistel erwähnt Marcel noch, was ihn im Augenblick am meisten beschäftigt, die Theaterproben und das näher rückende Doktorexamen:

Unsere Theaterproben haben begonnen und fast jeden Abend gehen wir zum «Guillaume» hinauf, um uns die schwere Prosa des Avare in den Kopf zu hämmern. Dies ist nicht einfach und tatsächlich fehlt mir dieses Jahr die gewohnte Begeisterung. Mit Schuldgefühlen denke ich an meine bevorstehenden Examen. Beim blossen Gedanken durchzufallen, habe ich keine Lust mehr zu spielen – adieu, Molière, Belles-Lettres, Beifall und Kränze.

Mittwoch, 16. November 1910

Düsterer Regentag. Beerdigung. Ein Cousin von Marcel ist gestorben. Nachher trifft man sich bei Henry. Marcel hat das Gefühl, das Tillette ihn vielleicht ein wenig, ein klein wenig, liebt, und er freut sich, sie wiederzusehen. Doch sie ist reserviert, behandelt ihn gleich wie die andern Kollegen, mit der auserlesenen kameradschaftlichen Liebenswürdigkeit, die ihren Charme ausmacht und «die tötet», weil er mehr erwartet. Schweren Herzens kehrt er nach Hause, verflucht den Tag, verflucht das Leben. Er ist sicher, dass Tillette ihn nicht liebt, ihn nie lieben wird.

Freitag, 18. November 1910

Auf den späteren Abend verabredet Marcel sich mit Henry Vallotton, den er durch Tillette kennengelernt hat, den er zwar noch kaum kennt, dessen «offenes Herz, Aufrichtigkeit und Liebenswürdigkeit» ihn stark anziehen. Beide haben Proben, Pilet für den «Geizigen», Vallotton für einen Gesangsauftritt mit den Zofingern. Um zehn Uhr ist Pilet fertig, verlässt den «Guillaume», stapft durch den schweren schmelzenden Schnee, die Kälte, die leeren Strassen, um Henry am Sitz der Zofinger, der «Maison Blanche», abzuholen. Er wartet, wartet lange, einige unbekannte Zofinger treten heraus und das ist alles. Kein Henry. Auch kein Licht mehr im Haus. Kommt er nicht? Will er nicht kommen? Wie ein Dieb schleicht Pilet ins Zofinger-Haus. Dunkel, kein Mensch.

Er geht zum Bel-Air-Platz, wo Vallotton wohnt. Nichts. Kein Licht. Er wartet vor dem Hauseingang. Schliesslich erscheint Henry, hastig und nervös. Auch er hat den Kollegen überall gesucht. Man steigt in sein warmes Zimmer hinauf, beginnt leise miteinander über Tillette zu reden. Henry beruhigt Marcel, ermahnt ihn, heitert ihn auf. Dann wird alles zu viel für Henry, er bricht zusammen und gesteht: Auch er ist in Tillette verliebt gewesen, er hat auf seine Liebe verzichtet, gelitten – jetzt sind sie wie Bruder und Schwester:

An jenem Abend habe ich einen heroischen, übermenschlichen Menschen gesehen, ein edles Wesen, loyal, von perfekter Güte – ich, der ironische Causeur, der vorgibt, an nichts zu glauben, der beinahe sicher ist, dass das «Gute» und das «Schöne» nicht existieren, hatte er doch im Leben derart viel Hässliches gesehen, er, dessen drei Falten um den Mund seine ganze Desillusionierung und Verachtung für die Welt verrieten …

Und Pilet erkennt, dass es eine Pflicht gibt, dass nur die Pflicht gut und schön ist. Intelligenz, Kraft, Geist zählen nichts, wenn sie nicht gut, rein und edel sind. In der Morgendämmerung fühlt sich Marcel erschlagen, vernichtet, aber er ist «ein verklärter Marcel, ein besserer Marcel». Henry ist jetzt sein Freund und er ist stolz auf diese Freundschaft. Das Leid hat sie auf ewig vereint. So glaubt er.

Montag, 5. Dezember 1910

Pilet steht im grossen Lausanner Theatersaal auf der Bühne. Der Prolog, der über die an der Landwirtschaftsausstellung auftretenden Notabeln spottet, schlägt ein: «Einige Situationen sind von absolut unwiderstehlicher Komik» (Gazette de Lausanne). Vor seinem Auftritt hat ihm Tillette einen lieben und zärtlichen Brief geschrieben, der ihn ermunterte. In der Pause nach dem 4. Akt gibt sie ihm ihr Händchen, um ihm Mut zu machen, und am Schluss wirft Henry ihm spontan seine Mütze zu, diejenige, die sie mit «Tillette» signiert hatte.

Montag, 26. Dezember 1910

Marcel hat von Tillette einen «guten, tiefen, vollen, erlesenen» Brief erhalten, das schönste Weihnachtsgeschenk, das er sich vorstellen kann. Wenn er ihn liest und wieder liest, scheint er weit in der Ferne im Nebel die Glocken seiner Jugend zu hören. Er dankt ihr «unendlich» auch für ihr Portrait, das er in seinem Schuh gefunden hat.