Politiker wider Willen

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3. Vom kleinen Cossonay ins grosse Lausanne

Es ist der siebente Juli. Einige Minuten vor acht Uhr betrete ich, mit einer Mappe unter dem Arm und Angst im Herzen, den Eingang des Collège. Werde ich aufgenommen oder nicht? Marterndes Mysterium. Ich drücke noch einmal die Hand meiner Mutter und, aufgemuntert durch ihr «bon courage!», nehme ich meinen Platz im Examenssaal ein. Ich bereite mein Löschblatt und meine Feder vor, dann werfe ich einige Blicke auf diejenigen, die vielleicht meine Kameraden sein werden. Plötzlich Totenstille: Der Direktor ist eingetreten. Er macht Appell; als ich an der Reihe bin, antworte ich mit einem schüchternen «présent». Welche Momente, diese Minuten des Wartens! Als ich mein Diktat beginne, klopft mein Herz mit doppelten Schlägen. Le chameau … schreibt man eau oder au? Eine verfängliche Frage; oder später: à genoux – braucht es ein x, ein s oder gar nichts?

So zu lesen in einem Schulaufsatz mit dem Titel «Mein Eintrittsexamen ins Collège», in dem sich der 14-jährige Gymnasiast Marcel Pilet an einen fünf Jahre zurückliegenden Tag erinnert: Der Rotstift des Französischlehrers notiert am Rande des Aufsatzes: «übertrieben oder schlecht wiedergegeben». Gesamthaft findet Monsieur Biaudet, dass der Junge das Thema «gut gewählt» hat und «die Erzählung klar» ist. Allerdings bewertet er die «Phantasie und die literarische Sensibilität» als «schwach», den Stil als «im Allgemeinen korrekt, aber flach oder gewunden». Die meisten der vom Lehrer bemängelten stilistischen Fehler wird der Student Marcel Pilet ausmerzen können. Nicht alle. Ein gewisser Hang zur Übertreibung wird auch dem Bundesrat bleiben und gelegentlich – nur gelegentlich und an einem schlechten Tag – kann er flach oder gewunden schreiben.

Die Orthografie war nicht Marcels Stärke. Daran erinnert er sich auch noch als Bundesrat – 38 Jahre später. Tägliche dictées, welche die Mutter dem Jungen auferlegte, «hatten ihn – hélas – in dem Gefühl der Schwäche bestätigt». Nachdem am Examenstag das Diktat schlecht und recht beendet ist, geht es weiter mit Rechnen. In der bundesrätlichen Aufzeichnung lesen wir:

Aber die Arithmetik! Hier nimmt er seine Revanche. Er spielt mit den Ziffern – wie heute mit den Defiziten. Auf diesem Gebiet ist er unschlagbar. Man wird es sehen. Die Rechenaufgaben, die den Kandidaten gestellt werden, sind leicht. Einige Minuten des Nachdenkens, bis sie gelöst sind, und die Hand läuft über das Papier. Aber sie läuft schlecht. In ihrer hochmütigen Eile missachtet sie die Zeilen. Der Lehrer nähert sich. Der Lehrer? Ein Männchen, bereits vom Alter zusammengedrückt, mager und verrunzelt. Ein goldenes Herz zweifellos, unter einer bärbeissigen Erscheinung. In seinen Augen geht die Ordnung allem vor. Er beugt sich über das Blatt des jungen Rechners. Die Phantasiestellung der Additionen und Divisionen zieht seinen Blick auf sich und hält ihn fest. Er mag dieses unstabile Gleichgewicht nicht; und mit einer Stimme, die sich bemüht, überheblich zu tönen, knurrt er: «Mein Junge, die Zeilen sind da, um sich ihrer zu bedienen.» Mein Junge senkt den Kopf. Er glaubt sich verloren. Wenn die triumphale Arithmetikprobe seinen Erfolg nicht mehr sichert, was wird ihn retten können? Eine Illusion schwindet. Der alte Lehrer täuschte sich nicht: Im Leben ist das Entscheidende sehr oft nicht, dass die Zahlen stimmen, sondern dass sie sich gut präsentieren.

Schein und Sein. Zurück zum Gymnasiasten, dessen Erinnerung an den Examenstag noch frischer ist als diejenige des Bundesrats:

In einem kleinen, ein bisschen dunklen Saal befragt uns ein grosser Herr mit gütiger Nachsicht. Er fordert mich auf, das Leben von Davel [dem waadtländischen Freiheitshelden] zu erzählen. Ich kenne es in- und auswendig, so dass er mich bald mit einem «Allez seulement, es ist gut so» stoppt. Jetzt kommt die Geografie an die Reihe.

Marcel muss die Hauptorte der Kantone Glarus und Aargau nennen, quält sein Gedächtnis und ist nicht sicher, ob er die richtige Antwort gefunden hat. Bleibt das Französisch, wo er sich nicht allzu schlecht aus der Affäre zieht. Hat er das Examen bestanden? Mutter und Kind gehen ins Schulhaus, wo im «dunklen Gang» die Examensergebnisse angeschlagen sind. Beide haben Angst, der Bub «wagt nicht mehr, ans Glück zu glauben». Vergeblich suchen sie Marcels Namen auf einer an die Wandtafel gehefteten Liste der 39 «Auserwählten».

Resigniert legt die Mutter eine tröstende Hand auf die Schulter des Sohns: «Mein armer Kleiner, du bist nicht drauf.» «Sind Sie sicher, Madame?», schaltet sich eine Männerstimme ein, «Wie heisst Ihr Sohn?» – «Marcel Pilet. Oh, ich bin nicht überrascht. Er kommt vom Land. Ich habe ihn nicht vorbereiten können.» – «Aber doch, Madame, er hat es geschafft. Marcel Pilet, er ist aufgeführt. Sehen Sie da, der 23.» Es ist wahr, sein Name steht wirklich dort. In ihrer Aufregung hatten sie ihn nicht gesehen.

Der Junge ist intelligent und hat alle Voraussetzungen pour bien faire, um Erfolg zu haben. Die Eltern halten grosse Stücke auf ihn und fördern ihn, so gut sie können. So schenken sie dem Elfjährigen eine illustrierte Schweizer Geschichte – Histoire de la Suisse – racontée au peuple par Albert Gobat – mit einer handgeschriebenen Widmung von papa et maman:

Unserem lieben Sohn Marcel Pilet. Lese, denke nach und arbeite, und du wirst ein echter Schweizer Bürger werden; suche in der Geschichte die edlen Taten und lasse dich vom Beispiel, das sie dich lehren, inspirieren. Dann wirst du un homme d’honneur, utile à ton pays, ein Ehrenmann, der seinem Land nützlich sein wird.

Wir schreiben das Jahr 1901. Im noch jungen Bundesstaat misst man der Rückbesinnung auf die Geschichte hohe Bedeutung bei. Drei Jahre zuvor hat in Zürich das Landesmuseum die Tore geöffnet, im Waffensaal das Fresko Hodlers, das den Rückzug von Marignano beschwört. Die Waadtländer sind patriotisch. Nicht von ungefähr steht auf ihrem Wappen: Liberté et Patrie. Stolz des Kantons sind zwei von Charles Gleyre im Auftrag der Stadt Lausanne geschaffene Historiengemälde: Eines zeigt den Sieg des Helvetiers Divico über die Römer, die murrend unter dem Joch hindurchgehen; das andere die Hinrichtung des Waadtländer Rebellen, Major Davel. Liberté et Patrie, Freiheit und Vaterland, ebenso wie die Demokratie, werden für den späteren Politiker Pilet-Golaz unverzichtbare Werte bleiben. Sie auch nur zu diskutieren, hält er für überflüssig.

Mit dem Umzug von Cossonay nach Lausanne vertauschen die Pilets das Leben im ländlichen Provinzstädtchen mit demjenigen in der aufstrebenden, pulsierenden Metropole. Jetzt gehören sie nicht mehr zur Lokalprominenz und Vater Pilet muss sich erst einmal beruflich und sozial emporarbeiten. Der neunjährige Marcel merkt, dass er in eine andere Welt versetzt worden ist, mit anderen Sitten und mit Schulkameraden aus einer feineren Gesellschaftsschicht. Als Bundesrat wird er sich an sein früheres Ich erinnern:

Er [Marcel] hatte immer so gesprochen, wie er es gehört hatte. Die Sprache seiner Heimat, seines kleinen Städtchens; naiv glaubte er, dies sei die französische Sprache. Er sprach die aigus als graves und die graves als aigus aus. Er sprach ein wenig schleppend. Er liess die letzte Silbe fallen. Er sagte «Bonjou» und «Regarde-voi». Gleich wie seine Kameraden und wie der régent. War dies nicht richtig? Wie sollte man denn sagen? Er würde es lernen. Schlagartig würde er sehen, wie sich vor ihm der Abgrund öffnete, den seine Sprache von derjenigen Voltaires trennte.

An einem der ersten Tage in der neuen Schule liess der Lehrer die Schüler der Reihe nach vorlesen:

Für den kleinen Provinzschüler dauerte die Vorstellung nicht lange. Einige Sätze und ein kurzer Befehl unterbrach ihn: «Genug, syndic von Cossonay.» Syndic von Cossonay. Er, der den Gemeindepräsidenten immer für eine grosse Persönlichkeit gehalten hatte! Er begriff, dass weder er noch sein Städtchen anderswo Eindruck machten. Er begriff auch, dass er l’accent vaudois hatte. Er schämte sich.

Die Scham, wenn es denn eine war, verfliegt rasch. Die vierköpfige Familie Pilet wohnt in Ouchy, das, obwohl von der Stadt eingemeindet, seinen dörflichen Anstrich behalten hat. Die Wohnung der Pilets liegt unweit vom See in unmittelbarer Nähe der Zahnradbahnstation Les Jordils. Das funiculaire zwischen Ouchy und dem Flon-Quartier in der Stadtmitte ist das älteste der Schweiz und erinnert Marcel an das ähnliche Bähnchen von Cossonay, dessen Bau er noch miterlebt hat.

In Ouchy geht Vater Edouard Pilet mit Erfolg seinen Geschäften als Rechtsberater und Verwalter von Immobilien nach – er gibt neben agent d’affaires, auch gérant als seinen Beruf an und später régisseur, was dasselbe ist, aber vornehmer tönt. Rasch macht der Zuzüger auch in der Politik Karriere. Bereits 1901 wird er ins Lausanner Gemeindeparlament gewählt, wo er sich für Anliegen des Quartiers einsetzt, zum Beispiel die Errichtung einer Badeanstalt am Seeufer. Den Einzug in den Waadtländer Grossrat verfehlt er 1905 knapp. Vier Jahre später schafft er es. Bereits 1912 wird er den Rat präsidieren.

Politik und Beruf lassen Edouard Pilet wenig Zeit für die Familie. Er liegt am Sonntag oft müde auf dem Sofa, Frau und Kinder müssen still sein. Der feinfühlige Marcel sieht, wie die geliebte Mutter unter der «Diktatur» des herrischen Vaters leidet, und leidet mit ihr. Das Verhältnis Vater – Sohn ist oft gespannt. Allerdings hört Marcel aufmerksam zu, wenn der Vater von seinen Geschäften, seinen Gerichtsfällen und der Politik erzählt. Er lernt dabei Dinge, die keine Schulstunden vermitteln können. Er lernt, wie es auf der Welt wirklich zugeht. Andererseits zieht sich der Junge gern in sein schmuckes Zimmerchen zurück, träumt und vertieft sich in seine Bücher. Er kann nicht warten, bis er am Sonntagnachmittag aus dem Haus kann, um mit Freunden oder dem Cousin am See spazieren zu gehen.

 

4. Musterschüler

C.-F. Ramuz, Waadtlands bedeutendster Schriftsteller, der zwölf Jahre vor Marcel Pilet das Collège cantonal besuchte, war am Tag des Eintrittsexamens auch nervös. Er stolperte auf den Stufen des Schuleingangs und zerbrach sein schönes, gefülltes Tintenfass, das man ihm eigens gekauft hatte. Ramuz gefiel das bescheidene alte Schulhaus, «ein grosses viereckiges Gebäude, ohne hinzugefügte Verzierungen, strikte für den Gebrauch bestimmt, mit seinen grünen und weissen Fensterläden … Von der Höhe seiner Stützmauer stürzten wir auf die Riponne [den Marktplatz von Lausanne] hinunter», wo man «plötzlich das Schreien eines Esels hörte, denn es gab damals noch Esel.»

Ramuz fand an der Schule wenig Gefallen:

Man geniesst nicht mehr; man denkt bloss daran, die Examen zu bestehen. Man will wissen, statt zu fühlen. Man füllt das Gedächtnis mit Dingen, die man nicht einmal mehr versteht.

Marcel Pilet will wissen und füllt sein Gedächtnis. Anders als Ramuz, der «als Erster meiner Klasse ins Collège eintrat und als einer der Letzten es verliess», hält er sich von Anfang bis Schluss im Spitzenfeld. In seinem letzten Trimester ist er gar Klassenprimus, Erster von siebzehn. Ein Musterschüler, der auch immer wieder die für besondere Leistung ausgesetzten Geldpreise gewinnt, vor allem in der Mathematik – einmal in der unfassbaren Höhe von 27 Franken. Meist gab es einen Fünfliber.

Bedacht darauf, dass ihre Untertanen die Bibel lesen, hatten schon Leurs Excellences de Berne den Schulunterricht für obligatorisch erklärt. Der junge Kanton Waadt betrachtet die Erziehung der Jugend als eine seiner vordringlichsten Aufgaben. Er will im Schulwesen den ersten Rang einnehmen, was von Kanton und Gemeinde schwere finanzielle Opfer verlangt:

Dies spielt keine Rolle: Der Waadtländer will kenntnisreich, gelehrt, kultiviert sein, und wenn es sein muss, blutet er dafür aus allen Venen. Die Schule ist heilig.

So der Historiker Paul Maillefer, später Stadtpräsident von Lausanne, gescheiterter offizieller Bundesratskandidat und Fraktionskollege von Pilet im Nationalrat.

Am 10. Juli 1902 wird Marcel Pilet in die 3. Klasse befördert. Die jährliche Feier am Schluss des Schuljahrs ist ein Ereignis von öffentlichem Interesse. In der Gazette de Lausanne kann man lesen, wie sich genau um Viertel vor neun der Umzug von Lehrern und Schülern in Bewegung setzt, um vom Collège zur Kathedrale St-François zu marschieren, voran die Trommler, die Pfeifer und die neue Fahne. In der Kirche folgen sich Darbietungen des Schulchors und des Schulorchesters, Grussadresse der Kantonsregierung, eine Lesung und diverse Reden.

Schuldirektor Edouard Payot ermahnt die Schüler zur «Arbeit, die der Zweck des Lebens sein muss». Der zwölfjährige Marcel, der später als Bundesrat selber verschiedentlich in der Kathedrale St-François das Wort ergreifen wird, nimmt sich die Worte des directeur zu Herzen. Mangelnden Fleiss wird man ihm nie vorwerfen.

Edouard Payot, der mit starker Hand und Einfühlungsvermögen die Schule leitet, geniesst in der Öffentlichkeit hohes Ansehen. 35 Jahre nach der beschriebenen Abschlussfeier erweist auch Bundesrat Pilet-Golaz seinem ehemaligen Schulvorsteher die Reverenz. In einem Erinnerungsartikel erzählt er, wie er als Junge durch die hohe und düstere Doppeltüre ins Zimmer tritt, wo beim hellen Fenster, mit dem Rücken zum Cheminée er vor seinem Arbeitstisch sitzt:

Er der Direktor. Ah! Ja, Direktor, das ist er. Kein gravitätischer Direktor, der aus seinen erhabenen Lippen langweilige Sermone fallen lässt. Auch kein dilettantischer und überheblicher psychoanalytischer Direktor, der an seinen «Fällen» interessiert ist, wie ein Laborarzt an seinen Meerschweinchen; kein Erfinder von Theorien, kein Zerstörer von Charakteren. Nein, er ist Direktor, weil er dirigiert, weil er befiehlt, weil er will. Was will er? Oh, dies ist sehr einfach, so einfach, dass es unsere fortschrittlichen Geister nicht mehr verstehen. Er will, dass die Kinder, die ihm anvertraut sind – und es sind Kinder, er behandelt sie wie Kinder und er liebt sie gleichermassen –, arbeiten; dass sie auf Leistung trainieren; dass sie lernen, dass nichts Dauerhaftes ohne Mühe erlangt werden kann, dass die Arbeit ihren Reichtum in sich trägt, wenn sie nicht nachlässt, und ihren Lohn, wenn sie mit frohem Herzen verrichtet wird. Er will, dass die Guten gelobt, die Schwachen ermutigt und die Bösen bestraft werden. Er will, dass diese langsamen, unentschlossenen, rasch zufriedenen kleinen Waadtländer lebhaft, genau und sich selber gegenüber anspruchsvoll werden. Er will aus ihnen Männer machen.

Die Werte des Schuldirektors Payot sind bald einmal die Werte des Schülers Marcel Pilet und werden auch die Werte des Politikers Pilet-Golaz sein. Was tut der beflissene, strebsame Schüler in der Freizeit?

Unter den collégiens, die jeden Tag gruppenweise auf der place de St-François eintreffen, ist einer, der gerne einen kleinen Abstecher macht, um die Auslage der Buchhandlung anzuschauen. Es ist ein Braunhaariger mit feinen Gesichtszügen und lebhaften Augen. Sein gestärkter weisser Kragen liegt oft schief, seine Künstlerkrawatte aufgeknöpft – dies ist ihm gleichgültig –, und um die verlorene Zeit einzuholen, läuft er im Galopp die rue du Petit-Chêne herunter.

Festgehalten wird die Szene dreissig Jahre später in einer welschen Schülerzeitung von einer aufmerksamen Nachbarin.

Nachdem der Junge seiner verständnisvollen maman die Tagesereignisse – seine Erfolge und Enttäuschungen – erzählt hat, spielt er gerne mit seiner kleinen Schwester Indianer. Er träumt davon, später einmal Mexiko zu kolonisieren, auch auf die Gefahr hin, skalpiert zu werden. Er wird nicht allein gehen, zwei seiner Freunde haben versprochen mitzukommen.

Einstweilen erweist sich Marcel als intelligenter, genauer, gewissenhafter Schüler. Sein grösstes Vergnügen ist es, in den süssen und tiefen Augen seiner Mutter verdientes Lob zu lesen. Bereits jetzt erwacht der kritische Geist und formt sich das Urteilsvermögen des Schülers – dies dank der gescheiten Geschichten seines Vater, eines umtriebigen und fröhlichen Geschäftsmanns, der sich in die öffentlichen Angelegenheiten Lausannes einschaltet. Zu den Spielen im schattigen Park, zu der Lektüre von Abenteuerromanen, die ein Element der Phantasie ins Leben des Kindes bringen, gesellt sich die Musik. Erste und zweite Geige mit Klavierbegleitung. Das gleiche Trio, das die ferne Expedition vorbereitet, tritt im Salon an der Ouchy-Strasse auf.

Nach dem Abschlussexamen im Collège ist die Zeit für eine grosse Reise gekommen.

Die drei Freunde zählen ihr Vermögen, das sie grösstenteils Marcels guten Noten verdanken: 120 Franken. Man geht los, nicht in die Neue Welt, sondern in die Urschweiz, und weil man aufs Portemonnaie schauen muss, geht man zu Fuss los. Furka, Göschenen, Altdorf, Stans, am Schluss das Abschiedsbankett in Luzern, vis-à-vis dem Wasserturm: 1.50 Franken pro Kopf. Die jungen Patrioten haben die Luft von Wilhelm Tell und Winkelried so gut eingeatmet, so dass sie ihre letzte Mahlzeit mit würdiger Gravität einnehmen.

Sommerferien? In seiner Gymnasialzeit verbrachte Marcel zweimal sechs Wochen in der Deutschschweiz, einmal bei einem Gärtner auf dem Zürichberg. Das «stattliche Dorf im Berner Mittelland», von dem er als Bundespräsident 1934 in seiner 1.-August-Rede erzählen wird, war vermutlich der Bucheggberg —, auch wenn dieser im Kanton Solothurn liegt und bloss an den Kanton Bern grenzt:

Den ganzen Tag an der Arbeit, wie es sich gehört. Die Sense und der Rechen pfiffen und quietschten in der blonden Ernte. Unter der Last ächzend, die Garben golden schimmernd, kehrten die schweren Wagen zurück. Unter der brennenden Sonne schnauften und scharrten die von Mücken geplagten Gespanne vor Anstrengung. Dann plötzlich schwieg alles. Obwohl es ein Wochentag war, hatten sich die Männer rasiert. Angetan in sauberen Blusen und runden Hüten, sammelten sie sich. Die Frauen hatten ihre von der Stärke steifen Trachten mit ihren weiten kurzen Ärmeln und schweren glänzenden Ketten angezogen.

Wortlos, in stillschweigender Übereinkunft, hatte sich das ganze Dorf auf den Hügel begeben, von dem aus man die Alpen sieht. Ein alter, vom Gewitter gefällter Baum bildete den Scheiterhaufen. Gerade schoss die Flamme hoch und warf bei angebrochener Nacht Licht und Schatten auf die andächtigen Gesichter. Der Gemeindepräsident, ein trockener, ruhiger und langsamer Bauer, mahnt uns – mit der Autorität seiner fünfzig Jahre Rechtschaffenheit und Arbeit –, dass wir unseren Vorfahren viel verdanken, dass wir das, was sie für uns getan hatten, unsererseits für unsere Nachfahren tun müssen; dass unser Boden nur frei bleiben wird, wenn wir dessen würdig sind. Er sprach aus dem Herzen, er war kurz. Nachher sangen die Männer mit einer einzigen vollen, starken und ernsten Stimme «Oh, mein Heimatland, oh mein Vaterland». Das war alles. Unter den Sternen ging das Feuer aus. Die kleine Schar kehrte zu den Bauernhöfen zurück.

5. Ein Hauch von Phantasie

In der Hochkonjunktur, die 1903 beginnt und ihren Höhepunkt 1913 erreicht, ist Lausanne eine riesige Baustelle. Die alte historische Stadt muss den Bedürfnissen der neuen Zeit angepasst werden: Schaffung eines Kanalisationsnetzes, Ausdehnung des öffentlichen Verkehrs, Bau von Brücken, Untergrundpassagen, Boulevards. Alte Gebäude werden abgerissen, neue palastartige Bauten – der Palais de Rumine, der Bahnhof, die Galeries du Commerce, das Royal Hôtel in Ouchy – erheben sich und verändern das Stadtbild. Die verschiedensten Baustile – Neogotik, Neobarock, Art nouveau – wetteifern miteinander. Auffallend an der Lausanner Architektur jener Jahre sind die Suche nach Monumentalität, die raffinierte Ausstattung der Intérieurs, die reich geschmückten Fassaden. Ohne seine Geschichte zu verleugnen, will Lausanne eine moderne, elegante Grossstadt sein.

An den reizvollen Gestaden des Léman gelegen, gesegnet mit einem milden, fast mediterranen Klima, beseelt von einem reichen intellektuellen und kulturellen Leben, übt Lausanne eine magnetische Anziehungskraft auf Reisende aus aller Herren Ländern aus. Touristen strömen in seine sich rasch vermehrenden Hotels, Studenten drängen sich an seine an Ansehen gewinnende Universität und Pflegebedürftige lassen sich in Lausannes modernen Spitälern von medizinischen Kapazitäten behandeln. Von 1905 bis 1910 steigt die Zahl der Hotelübernachtungen von rund 200 000 auf rund 400 000.

Bereits im Mittelalter war der Bischofssitz Lausanne eine Stätte der Bildung und ein Begegnungsort für Gelehrte. Seine Bewohner fanden Geschmack an Kunst und Literatur. Im 18. Jahrhundert waren sie «von einem Verlangen verzehrt, zu lernen und zu glänzen», man hatte, wie ein Kritiker sagte, nicht nur «einen Hunger, sondern eine Hungersnot nach Geist.» Voltaire, einer von Lausannes berühmten Gästen, lobte die «Intelligenz seiner Bewohner, die sein Talent so gut beurteilen und seine Werke so glänzend interpretieren konnten». Der grosse englische Geschichtsschreiber Gibbon, der viele Jahre in Lausanne lebte, schätzte «den Charme dieses so gastlichen und distinguierten Milieus». Historiker Maillefer beschreibt die Lernbegierde seiner Mitbürger:

Die öffentlichen Kurse werden gestürmt; ausländische und einheimische Referenten können ihre Veranstaltungen noch so vermehren, die Zuhörer bleiben unermüdlich. Nirgends liest man mehr. Nirgends in der Schweiz werden mehr Zeitungen, Zeitschriften, Bücher gedruckt. Und dies nicht etwa zum Nachteil der Lektüre ausländischer Werke. Lausanne kauft mehr französische Bücher als eine französische Stadt von 100 000 Einwohnern.

Dreh- und Angelpunkt des Lausanner Geisteslebens ist die 1537 von Bern zum Zweck der Ausbildung reformierter Pfarrer gegründete Akademie, die im 19. Jahrhundert schrittweise zur Universität ausgebaut wurde. Dank der dort lehrenden, renommierten Professoren erlangte sie in ganz Europa einen ausgezeichneten Ruf.

Für die Familie Pilet ist es selbstverständlich, dass Marcel nach Erlangung des bachot – der Matura – ein Studium an der Lausanner Uni antritt. Wieso wählt nun aber der begabte Mathematiker und an Musik, Literatur und Theater interessierte Junior das Studium der Jurisprudenz? Vater Edouard Pilet, der aus zu bescheidenen Verhältnissen stammte, um die Universität besuchen zu können, hat sich autodidaktisch erstaunliches juristisches Wissen angeeignet. Er möchte, dass Marcel Jurisprudenz studiert und in die Politik geht. In der Waadtländer Politik führt der Weg nach oben über den Anwaltsberuf und die Studentenverbindung Helvetia. Der im Kanton hochverehrte Ruchonnet, le grand Louis, dessen Statue 1906 In Lausanne mit Pomp eingeweiht worden ist, war Advokat und Helveter gewesen. Seine unmittelbaren Nachfolger als Waadtländer Bundesräte, Ruffy und Ruchet, ebenfalls Juristen und Helveter.

 

Marcel fügt sich dem Wunsch des Vaters und immatrikuliert sich an der juristischen Fakultät. In einem drei Jahre nach seinem Studienbeginn verfassten Brief an Freundin Tillon behauptet Marcel allerdings, dass er sich schliesslich aus freien Stücken und Idealismus für die juristische Laufbahn entschieden habe. Er beschreibt, wie er sich nach einem nächtlichen Spaziergang zu einer einsamen ländlichen Kapelle in der Nähe von Châtel-Saint-Denis auf einen Fels gesetzt hat, «um unsere Schweizer Erde, die sich unten, in weiter Ferne ausbreitete, um Kraft und Mut zu bitten». Auf den ersten Blick hat für Marcel diese Schweizer Erde «nichts Herzliches, ist kalt, glanzlos, von den winterlichen Windstössen ein wenig schmutzig». Aber unter den Bauernhöfen und Feldern, unter dem Boden und dem gelben Gras spürt der einsame romantische Träumer die «liebende und treue Heimat, eine Art Mutter».

Und es ist eben diese heimatliche Erde, die mitgeholfen hat, ihn zum Rechtsanwalt zu machen. Er habe gezögert, schreibt er, sich lange dem «dringlichen Wunsch» seines Vaters widersetzt. Advokat schien ihm ein hohler und einfältiger Beruf. Nun las er eines Abends, «vor einem unserer Waadtländer Bauernhöfe sitzend», den heute vergessenen Roman Les Rocquevillard von Henry Bordeaux. Darin bittet ein alter Anwalt vor dem Gut seiner Familie Gott um die Kraft, tags darauf vor Gericht «gross zu plädieren». Er muss nämlich als Verteidiger seinen eigenen Sohn vor den Folgen einer «verruchten Vergangenheit» schützen. Und kann damit «das Heiligste und Grösste das es gibt, die Familie», retten.

An diesem Abend habe ich begriffen, dass ein Anwalt nützlich sein kann, dass er Segen bringen kann, und wenn es mir später gelingen sollte, die Scherben eines entzweigerissenen Haushalts zu retten, Unglücklichen ein wenig Mut zurückzugeben, würde ich es Bordeaux und unserem guten pays vaudois verdanken.

Das Jusstudium wird es also sein. Zur Zufriedenheit von Papa. Aber obschon der Vater ihn dazu drängt, will Marcel nicht zu den Helvetern, sondern zu den Belles-Lettres. Aus dieser 1806 von fünf Halbwüchsigen gegründeten, ältesten aller Lausanner Studentenverbindungen sind Pastoren, Lehrer, Professoren, Ärzte, Anwälte, Literaten, Journalisten hervorgegangen, aber nur wenige Politiker.

Man darf annehmen, dass Marcel als neugieriger Gymnasiast in der voll besetzten Universitätsaula sitzt, in der am 5. Juni 1906 der hundertste Geburtstag von Belles-Lettres gefeiert wird. Das festlich gestimmte Publikum beklatscht einige der beliebtesten Literaten der welschen Schweiz, darunter den brillanten Benjamin Vallotton, der Rückblick auf die Geschichte des Vereins hält. Der Redner verteidigt die freche heutige Generation der Bellettriens, die nicht mehr wie ihre Vorgänger vor ihren Sitzungen beten und die sich auch nicht mehr siezen.

Sie haben Ideen, Theorien, Argumente zu allem und jedem; sie gefallen sich darin, einen ironisch amüsierten Blick durch die Welt spazieren zu führen; sie sind von Respektlosigkeit beflügelt, aber trotzdem arglos.

Benjamin Vallotton preist die Unerschrockenheit der Bellettriens, die sich weder von Autoritätspersonen noch von kirchlichen Gardinenpredigten einschüchtern lassen und die die fragwürdigen deutschen Trinksitten der andern Studentenverbindungen verachten. Die Bellettriens besuchen zwar – meistens – ihre Vorlesungen, aber lieber schlendern sie blühenden Hecken entlang:

Sie verabscheuen es, im Schritt zu marschieren sie setzen ihre Sitzungen auf acht Uhr an, aber sie würden sich entehrt fühlen, wenn sie vor acht Uhr fünfunddreissig erschienen. Sie haben in ihren Archiven und Bibliotheken eine gewollte und kalt berechnete Unordnung. Ja! Sie tun all das und noch viel anderes, was die braven Leute missbilligen. Worauf die Bellettriens ihnen frech antworten, dass ein Hauch von Phantasie, Disziplinlosigkeit und Ungenauigkeit die Welt mit Poesie schmückt und dass die Zeit noch früh genug kommen wird, wo man brav mit trotten muss.

Wer kann da widerstehen? Nicht Marcel Pilet, der zusammen mit drei Klassenkameraden im folgenden Jahr den Antrag auf Aufnahme in den Verein stellt.

Jeder Mensch bleibt im Laufe seiner Existenz mehr oder weniger sich selber ähnlich, sein zugrunde liegendes Temperament ändert sich kaum und seine Handlungen und Reaktionen werden von tiefen inneren Kräften gesteuert, deren Prinzip gleich bleibt Das Fundament seines Charakters ist mit sechzig Jahren ungefähr dasselbe wie mit zwanzig.

Die Sätze stammen aus einer 1947 von alt Bundesrat Pilet-Golaz an der Universität Lausanne gehaltenen Vorlesung. Wenn es stimmt, dass der einmal geformte Charakter eines Menschen sich kaum mehr ändert, lohnt es sich, das Tun und Treiben des Studenten Pilet genauer unter die Lupe nehmen.

Aus der Zeit seiner aktiven Mitgliedschaft bei Belles-Lettres, von Ende 1907 bis Anfang 1911, sind ausführliche Protokolle, genannt acta, erhalten geblieben. Sie geben Auskunft über die séances, die allgemeinen wöchentlichen Sitzungen, über die huis clos, die geschlossenen Beratungen des fünfköpfigen Vorstands, und über besondere Anlässe wie Theateraufführungen, Feste und Ausflüge. Der Sekretär des Vereins protokolliert jeweils die Sitzungen, die nach einem festen Ritual ablaufen: Vortrag eines Mitglieds über ein frei gewähltes Thema, Diskussion des Vortrags, Vorlesung eines Gedichts oder einer Passage aus einem Buch mit anschliessender Kritik am Rezitierenden. Folgt der gemütliche zweite Teil, meist beim Bier, manchmal auch bei anderen alkoholhaltigen Getränken.

Er ist nicht mehr das verschüchterte Reh, der Provinzbub aus Cossonay, der gleich an der ersten Belles-Lettres-Sitzung, an der er – noch als Kandidat – teilnimmt, die Anwesenden mit seinem Referat verblüfft. An jenem Mittwochabend, 13. November 1907, führt im «Guillaume Tell», dem Stammlokal der Verbindung, der Medizinstudent André Répond als Sekretär das Protokoll:

Monsieur Pilet, Kandidat, hat die Ehre, der Gesellschaft Belles-Lettres eine Arbeit über «Pascal – Mathematiker und Christ» zu präsentieren. Ich empfand einige Mühe, eine knappe Analyse dieser Arbeit zu machen. Sie ist ein wenig konfus und weist erstaunliche Widersprüche auf.

Protokollführer André Répond wird sich als Psychiater, Klinikdirektor und welscher Pionier der Psychoanalyse international einen Namen machen und mit der Légion d’honneur ausgezeichnet werden. Als kluger Menschenkenner lässt er sich nichts vormachen und behandelt seine Couleurbrüder mit nachsichtiger Ironie.

Tatsächlich ist es für Répond nicht einfach, die Thesen des Referenten wiederzugeben. Das Manuskript, das Pilet aufbewahren wird, beginnt mit den Worten:

Condorcet, der von sich sagt, er sei Philosoph – man sagt so viele Dinge –, behandelte Pascal als berühmten Narren. Seiner Meinung nach konnte ein Mathematiker, ein Mathematiker von Rang, nicht Christ sein. In seiner Beurteilung unterliess es Condorcet ganz einfach, der Zeit, in der Pascal lebte, seiner Erziehung und seinem Charakter Rechnung zu tragen.

Der noch nicht 18-jährige Frischling scheut sich nicht, erst einmal einer der Leuchten der Aufklärung eins aufs Dach zu geben. Natürlich macht Pilet Condorcets Fehler nicht. In seinem Referat erzählt er, wie Pascal unentwegt wissenschaftlich forscht, wie er die Welt der «subtilen Theorien der Philosophie» entdeckt. Doch Glanz und Grösse der Philosophen genügen Pascal nicht, «er sieht die Eitelkeit der Dinge dieser Welt und ihre Falschheit». Bleibt als einzige Hoffnung das Übernatürliche, Gott: