Politiker wider Willen

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Manchmal habe man eben solche extravaganten quälenden Ideen, meint Pilet, man wisse nicht, woher sie kämen, ein Nichts könne sie erzeugen. Gott sei Dank verschwänden sie dann noch schneller.

Im Gewandhaus bewundert er das vom berühmten ungarischen Kapellmeister Arthur Nikisch dirigierte Orchester und die dort auftretenden Solisten:

Sie können nicht glauben, wie sehr ich Bach liebe? Oh! Ich sage dies ohne Scham, oft lassen mich einzelne seiner Komposition – er hat unzählige gemacht – kalt und ungerührt. Ich bin zu wenig bewandert in Harmonie und Musikwissenschaft, um bei seinen nach den Regeln des einwandfreien Kontrapunkts geschriebenen Fugen mit ihren gekonnt aufgelösten Akkorden ein grosses Vergnügen zu empfinden. Nein, die überlasse ich dem Herrn Prof. Dr. Aber der ganze Rest, all das Herz, das er in seine Werke legt, alle seine langsamen, fast sinnlich philosophischen Träumereien, alle seine Zweifel, alle seine Gebete, die er mächtig und schmerzhaft singt, bringen mich schier zum Weinen, oder eher zum Beten, zum Beten auch für Sie, Tillon, für uns.

Zum Schluss des Konzerts spielte der grosse Geiger Carl Flesch Bachs «Chaconne», die Pilet schon mehrmals, interpretiert von Eugène Ysaÿe, seinem Idol, gehört hatte. Er glaubte nicht, dass jemand Ysaÿe übertreffen könnte:

Ich hatte mich getäuscht. Ist es Emotion, Unruhe, Müdigkeit vielleicht, aber vorhin war Flesch religiös, fast göttlich. Man hatte das klare und sichere Gefühl, dass er hier uns sein Lieblingsstück spielte, dasjenige, das er nur mit Gefühl und Verehrung angeht, wie eine heilige Sache. Ich glaube gerne, dass, wenn am Schluss der Saal leer gewesen wäre, er es überhaupt nicht gemerkt und gleichwohl weitergespielt hätte. Er spielte nicht mehr für uns, sondern für sich selbst, mit seinem ganzen Herzen, seiner ganzen Seele. Rasch bin ich dann weggegangen, bevor man Beifall klatschte, um im warmen und tiefen Eindruck dieser grossen Stimme zu verbleiben!

12. «Ich will keine Politik machen»

Am Samstag, 11. Juni, geht Pilet ans «Ende der Welt», will sagen den Exerzierplatz in Lindenthal, ausserhalb von Leipzig. Er verlässt um 9 Uhr das Haus, um dort für die auf Mittag angesetzte grosse «Parade» einen Platz auf der Tribüne zu ergattern, was ihm nach «viel Wegen, Umwegen, Warten, Hindernissen» gelingt. Von dort kann er das ganze Defilee der Leipziger Garnison überschauen. Mehr noch:

Verneigen Sie sich, Freundin, respektieren Sie mich, verehren Sie mich, ich habe den König gesehen! Ja, ich habe ihn gesehen, von ganz nahe, aus kaum zwei oder drei Metern. Der arme Kerl – geh schon! – hat mir leidgetan und mein republikanisches Herz litt beinahe an der Gleichgültigkeit eines ganzen Volkes gegenüber seinem Souverän. Ein wenig Beifall hier und dort, auf den er sich bemühte zu lächeln, aber es war so mager, so mager, dass es peinlich war, ich beteure es Ihnen. Oh, gewiss jeder weiss, dass er kein Adler ist, entfernt davon, weiss, dass es ihm an Finesse und Geschmack mangelt, dass er gerne «fressen» sagt statt «essen», gut trinkt und noch besser jagt und die Musik wenig liebt (wenn er beispielsweise nach Leipzig ins Gewandhaus kommt, bereitet man ihm ein sehr spezielles Programm vor – alles, was es in der Musik vom Leichtesten gibt und kurz, kurz, damit er nicht Zeit hat einzuschlafen). Abgesehen davon ist er ein braver Mann, pflichtbewusst, populär und vor allem unglücklich in seiner Ehe. Man sagt, er sei nie über das Davonlaufen seiner Frau hinweggekommen. Schliesslich beklatscht man nicht den Mann, sondern den König, die Funktion, die schöne und kostbare Reliquie einer grossen Vergangenheit, den Abkömmling der überragenden und grossartigen Fürsten, die aus dem wilden Sachsen langsam ein blühendes, reiches, gelehrtes und für seine Künste berühmtes Königreich gemacht haben! Und es scheint mir, dass all das schon ein paar Hurras verdient!

Das von Napoleon zum Königreich gemachte Herzogtum Sachsen wird nur bis 1918 bestehen. Der von Pilet beschriebene Friedrich August III. soll bei seiner Abdankung denkwürdig gesagt haben: «Nu da machd doch eiern Drägg alleene.»

Pilet beschreibt weiter die elegante, distinguierte und lächelnde Prinzessin, Schwägerin des Königs, die seine Gemahlin Luise ersetzt. Die lebenslustige Königin, siebenfache Mutter, ist mit dem Hauslehrer in die Schweiz abgehauen.

Pilet macht sich Gedanken über seine eigene Reaktion auf die royale Parade. Was sagt die Freundin dazu, dass er als «Sohn, Enkel und Urenkel von Republikanern», als «Schweizer der Freiheit», die Monarchie in Schutz nimmt?

Was soll’s, ich bin deshalb kein schlechterer Bürger und um nichts in der Welt möchte ich bei uns einen König. Aber ich gehe nicht so weit, zu behaupten, dass man überall die Könige abschaffen soll, weit gefehlt. Armer Papa, was würdest du sagen, wenn du mich hörtest? Du wärest bestürzt, da bin ich sicher! Du würdest erklären, dass es nicht der Mühe wert sei, an die Universität zu gehen, um derart verblödet daraus herauszukommen. Zum Schluss würdest du mich ins Bett schicken, um über die traurigen Folgen der in der Verfassung niedergeschriebenen Gedanken- und Redefreiheit nachzudenken.

Armer Papa, auch sonst. Aus der Ferne verfolgt Marcel, der in Leipzig sein Leibblatt, die Gazette de Lausanne, zugeschickt kriegt, die politische Karriere des Vaters. Er tut dies nicht zuletzt deshalb, weil der Papa, wenn die Dinge nicht nach Wunsch laufen, seine schlechte Laune an Mama auslässt. Im Grossrat und in der Partei ist die Zeit hart für ihn.

Sein Ansehen und seine politische Zukunft, in die er sein ganzes Herz und seine ganze Hoffnung gesetzt hat, ist schwer erschüttert, beinahe ruiniert worden: ein heftiger Streit mit einem der grossen Köpfe der Partei – in einer Angelegenheit, in der er übrigens völlig recht hat.

Nun aber erhält Marcel vom Vater brieflich gute Nachricht. Der Waadtländer Grand Conseil hat nämlich beschlossen, dass künftig die Ersatzrichter für das Kantonsgericht vom Parlament nominiert werden, und nicht, wie bisher, vom Gericht selbst. Was dieser Entscheid für das Land bedeute, werde sich Tillon fragen. Gar nichts, schreibt Marcel, wie überhaupt alles, was im Grossen Rat entschieden wird.

Wenn unsere hohen Abgeordneten sich einbilden, zu regieren und die Zukunft des Kantons zu formen, dann sind sie sehr naiv. Es gibt tiefere Wurzeln!

Für Edouard Pilet persönlich hingegen bedeutet der Entscheid viel. Marcel hat nämlich grosse Zweifel, «ob Vater in Lausanne bei den nächsten Wahlen wiedergewählt wird; zu Unrecht übrigens, er ist ein ausgezeichneter Abgeordneter, aber dies ist nicht die Frage». Wenn jetzt nach dem neuen Gesetz der Grosse Rat die Ersatzrichter wählt, dann hat Papa gute Chancen, nominiert zu werden. Auf dem Land lieben ihn die Leute, auch wenn er in Lausanne weniger populär ist. Wird er nominiert, dann kann er den Grossen Rat ohne Gesichtsverlust verlassen. Bei einer Vakanz im Kantonsgericht rücken fast ausnahmslos die Ersatzrichter nach. Papa wäre versorgt fürs Leben und hätte einen offiziellen Titel, «denn er hält viel darauf, in der Republik etwas zu sein».

Auch wenn er mit ihm das Heu nicht auf der gleichen Bühne hat, respektiert Marcel Pilet den Vater. Deshalb fällt es ihm schwer, ihn zu enttäuschen. Aber enttäuschen muss er ihn. Kann Tillon ihm helfen, die bittere Pille zu versüssen, die er ihm verabreichen muss? Sich selber kennt er gut genug, um zu wissen, dass seine Zunge seit allzu langer Zeit «scharfe Pfeile abschiesst», sein «Maul ohne Reue beisst», dass er diese Gewohnheit «weder abfedern noch verschleiern» kann.

Papa setzt auf mich grosse, sehr grosse Hoffnungen; nicht als Jurist, er erwartet natürlich, dass ich ein mehr als nur mittelmässiger Advokat werde, sondern vor allem als Politiker. Er sieht in mir einen Staatsmann, einen grossen Staatsmann und sogar einen grossen Mann tout court. Also ein wenig die wunderbare Verlängerung seiner eigenen Karriere oder vielmehr, um die Wahrheit zu sagen, die Revanche für das, was er nicht hat sein können! Bei meiner Geburt, scheint es, hat man ihm vorausgesagt, dass ich eines Tages Bundespräsident sein werde, und er glaubt das. Mon Dieu, warum nicht, es kann nicht besonders schwer sein – ich meine praktisch, aber wie schwer hingegen intellektuell und vor allem moralisch. Und es ist fest entschieden, reiflich überlegt: Ich will keine Politik machen. Seit langem bin ich dazu entschlossen. Da ich sogar fürchtete, dass ich mich eines Tages von einer dummen Sucht nach hohlem und populärem Ruhm verführen lassen könnte, habe ich mir vor nun vier Jahren die Mühe gemacht, mir den Weg zu den Ehren definitiv zu versperren. Ich trat bei Belles-Lettres ein und schlug Helvetia aus.

Es hätte mir nicht besser gelingen können. Entweder misstraut man mir als einem zu konservativen und zu aristokratischen Radikalen – dies die Meinung der gouvernementalen Bellettriens – oder man hasst mich offen wie die Helveter, wofür ich sichere Beweise habe. Nach all dem, brauche ich nur noch die Leiter hochzuziehen.

Leichter gesagt als getan. Der Vater hat die feste Absicht, Sohn Marcel, sobald dieser den Doktortitel in der Tasche hat, politisch zu lancieren.

Solange er dies noch kann, der arme Verlierer! Also werden Sie, Tillon, begreifen, dass ich ihm jetzt, ohne zu warten und ohne zu zögern, meinen festen Willen mitteilen muss, mich dem Staat zu verweigern.

Er schreibt dem Vater einen durchdachten, sorgfältig formulierten «antipolitischen Brief». Papas Reaktion? Keine eigentliche Antwort. Während Mama dem Sohn schreibt, dass sein Entscheid richtig sei und sie sich darüber freue, schickt Papa eine Ansichtskarte, auf die er kritzelt: «Adieu, kleiner Egoist. Die Zukunft wartet auf Dich.» Und: «Kleiner unausgereifter Radikaler, wenn Du bloss ans Land dächtest und nicht nur an Dich selbst.»

 

Wie gewohnt, behandelt er den erwachsenen Sohn als gamin, als unreifen Jungen:

Papa kann sich nicht an den Gedanken gewöhnen, dass ich – im Körper und Geist wachsend – meine eigenen Gefühle und Ansichten habe, die von den seinen verschieden sind. Und anstatt böse zu werden, was ihm manchmal passiert, hat er gelacht! Ich bedaure dies beinahe, denn dies ist nur ein trügerischer Aufschub. Der Streit wird bei der nächsten Gelegenheit umso heftiger neu entbrennen – zweifellos bei meiner Rückkehr. Aber haben Sie keine Angst, ich werde mein Möglichstes tun, um meinen Entschluss durchzusetzen, ohne dabei grosse Zornausbrüche zu provozieren. Es wäre nicht das erste Mal, dass Papa nein sagt und dass ich dann schliesslich doch ein Ja erreiche – ob ein Ja wider willen oder ein Ja aus Ermüdung. Und dann werde ich meine Ruhe haben!

13. Eifersucht

Zusammen mit Bekannten aus Orbe verbringt Tillon die Juniwochen in Sanary an der Côte d’Azur. Marcel gönnt ihr das Meer, die frische Luft, die Gesellschaft und hofft, dass sie erholt, gesund und frisch in die Heimat zurückkehren wird. Aus der sonnigen Provence schreibt die Freundin weniger lang und weniger regelmässig. Einmal sind ihre Blätter derart durcheinandergeraten, dass Pilet den Mistral oder die preussische Zensur verdächtigt – ironisch selbstverständlich. Wenn einmal der Briefträger an einem Sonntag oder gar Montag mit leeren Händen an die Davidstrasse kommt, hintersinnt sich Marcel. Ist etwas geschehen, ist sie krank, hat sie beim Baden zwischen den Felsen im Meer nicht aufgepasst? Wenn die Sonne Tillon schreibfaul gemacht hat, versteht Marcel keinen Spass und beginnt zu nörgeln.

In seiner Leipziger Einsamkeit beschleichen ihn ungute Gedanken. Hat ihn sein Vertrauen in falscher Sicherheit gewiegt? Hat seine Tillon etwa dort unten, wie man in der Provence sagt, zahlreiche galants und, mon Dieu, gefällt ihr dies vielleicht ganz gut? Pilet lässt seiner Phantasie freien Lauf:

Und wenn am Morgen Sie es der wilden Welle schon nicht verübeln, dass sie Sie gegen eine befreundete Hand schleudert, sind Sie am Abend – was noch besser ist – nicht glücklich, ans Meer träumen zu gehen, begleitet von einem Kerl mit feinem Schurrbart.

Zu Beginn ihrer Ferien hat Tillon stundenlang auf einem einsamen Felsen gesessen und dem abwesenden Marcel lange Briefe geschrieben. Und jetzt? Marcel, bitter:

Aus den Stunden sind Minuten geworden, wenn nicht Massagen auch noch diese ausfüllen.

Und dann gefällt sich Tillon gar noch darin, ihn dies wissen zu lassen! Der Philosoph Schleiermacher wusste es: «Eifersucht ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.» Der einsame Marcel spintisiert weiter:

So habe ich mich denn schon gefragt, ob es nicht gut wäre, meinem «Papa» Déverin dort unten in Monaco zu telegrafieren, ob er nicht sein Lycée ein paar Tage verlassen könnte und sich auf eine Ermittlung nach Sanary zu begeben!

Und was, wenn der Rapport ungünstig ausfiele? Welch «bramarbasierender und fuchsteufelswilder Marcelin» würde Tillon eines schönen Tages am Strand auftauchen sehen! Meint Pilet es ernst oder macht Pilet sich über sich selbst lustig? Beides vermutlich. Eifersüchtig ist er jedenfalls und die Angst, die Verlobte zu verlieren, kehrt periodisch zurück. Wie so oft in seinem Leben – und ganz besonders später in der Politik – holt er sich Rat bei dem Dichter, der gleichzeitig sein Lieblingsphilosoph ist, Jean de La Fontaine. Die Milchfrau seiner Fabel, die ebenfalls Luftschlösser gebaut hat, verliert schliesslich alles. La Fontaines Moral von der Geschichte:

Ein Zufall wirkt, dass ich mich auf mich selbst besinne, und siehe da: Ich bin das Hänschen wie vordem.

Pilet fühlt sich als gros Jean comme devant, als einer, der alles verloren hat, was ihm wichtig war. Trotzig warnt er die ferne Geliebte, auch er könnte sich «lustige Stunden» machen. Ob Tillon wisse, dass es auch in Leipzig «Lustige» gibt?

Wenn er ihr mit «bösartig spitzer Zunge» erzählen würde, dass Fräulein Zöbisch, die Tochter seiner Wirtin, ein nettes Kind von achtzehn Jahren, ein frisches Gesicht hat und sich dies gerne sagen lässt? Seit Herr Pilet ihr ein Kompliment über ihre Füsschen gemacht hat, verweilt sie, wenn sie sein Zimmer reinigt, gerne länger, um ihm allerhand Klatsch auszubreiten. Sie gibt zu verstehen, dass am Abend im Mondenschein sich über die Bäume des grossen Parks viel schöner träumen lässt als allein im Bett. Hé, hé, was würde Tillon dazu sagen?

Marcel hat für seine Tillon noch eine weitere «charmante» Geschichte auf Lager. Für den Wagner-Zyklus hat er ein Abonnement für einen Platz in der Seitenloge. Wenn man früh kommt, kriegt man einen guten Sitzplatz vorne an der Balustrade. Pilet ist natürlich immer früh, ebenso eine junge Dame, die sich jeweils neben ihn setzt. Eines Abends ist die Dame verspätet und ihr bleibt nur der Platz in der hinteren Ecke, wo man nichts sieht, es sei denn, man stehe. «Vor der Nase der erstaunten Deutschen» bietet Pilet «dieser armen Nachzüglerin» höflich seinen Platz an. In der Pause kommt die elegante, feine Schwarzhaarige im Foyer zu ihm, um sich für seine Liebenswürdigkeit zu bedanken. Man plaudert. An seinem holprigen Deutsch erkennt sie den Ausländer: «Sie sind Franzose, nicht wahr? Ich habe es sofort aus Ihrer Gestik erraten! Schade, dass ich Ihre Sprache nicht kenne, ich mag die Franzosen so sehr!»

Pilet erfährt, dass seine einnehmende Nachbarin aus Pommern kommt, in die Musik «vernarrt» ist, am Konservatorium Gesangsstunden nimmt und ihr Leben dem Theater geweiht hat, genau genommen der Oper. Sie ist erst seit einigen Wochen in Leipzig, fühlt sich einsam und ist hocherfreut über die unerwartete Begegnung. Möchte der Franzose nicht eines Abends zu einer Tasse russischen Tees zu ihr kommen? Als Pilet einwendet, sein Deutsch sei mangelhaft und er mache schrecklich viele Fehler, beruhigt sie ihn. Man sei ja dann bloss zu zweit, sie wäre die Einzige, um ihn auszulachen. Man würde es um so lustiger haben.

Pilet fürchtet – dies zumindest schreibt er dies seiner Tillon –, dass seine Galanterie, zu der er sich verpflichtet fühlte, ihn in eine unangenehme Lage gebracht habe. Er entschuldigt sich bei seiner «kleinen Sängerin» für den Rest des Wagnerzyklus und vertröstet sie auf später. Er werde ihr schreiben, wann er sie «mit seinen Gallizismen und seinen nicht übereinstimmenden Adjektiven werde amüsieren können». Im Übrigen, beruhigt er Tillon, sei er «fest entschlossen», der jungen Dame aus Berlin ein Abschiedsbriefchen zu schicken. Immer von sich als «er» redend schreibt er der Freundin in Savary:

Doch dann, ma foi, fragt er sich – er, der keine Wellen, keine Fischer, der weder Masseur noch Seemann hat, sondern höchstens eine Freundin, die sich einen Spass macht, ihm eine schelmische Zunge rauszustrecken –, fragt er sich, ob er nicht all dieses mit einigen Tassen dampfenden und duftenden Tassen Tee wettmachen könnte? In seinem Zweifeln gelangt er an Sie, um bei Ihnen Rat zu holen, aber lassen Sie ihn nicht schmachten, ich bitte Sie!

In seinem nächsten Brief an Tillon kommt er auf den «pommerischen Tee» zurück:

Nur zum Spass, Freundin, habe ich Sie um Ihren Rat gefragt. Schon seit Langem hatte ich meinen Entschluss gefasst, den Entschluss nicht hinzugehen. Nicht etwa, dass ich Angst hätte, ich könnte etwas Böses tun, nein, nochmals nein; auch nicht aus Angst, dieser fille du Nord Grund zum Leiden zu geben – ist Ihr Freund, Tillon, wirklich so faszinierend? Sie [die Sängerin aus Pommern] ist ja keineswegs von der Sorte, die sich Illusionen macht. Nein, was ich befürchtete, war, dass sie, die keinen Freund fürs Leben will – ihre Neigungen und ihr Beruf hindern sie daran –, dass sie nichts lieber möchte, als nebenbei zahlreiche Freunde zu haben. Und gerne hätte sie in dieser Auswahl auch gerne Französisch genascht. Wenn Sie wüssten, wie locker hier die Sitten sind – es ist zum Erschaudern – und dabei bin ich sonst nicht prüde. Aber genug von diesem Thema, Sie haben begriffen, dass ich nie die Absicht hatte anzunehmen und dass ich sie nie gehabt haben konnte.

Der Herr, wie mich dünkt, protestiert zu viel.

14. Berliner Luft

Pilet hat seinen Deutschlandaufenthalt genau geplant. Mit Ausflügen in andere Städte und historische Orte will er seine Bildung erweitern. Er besucht Jena, Weimar, Eisenach mit der Wartburg. Im Wallpavillon in Dresden besucht der an Naturwissenschaften und Technik interessierte Student die Internationale Hygiene-Ausstellung. Diese von nicht weniger als 5 Millionen besuchte gigantische Schau ist eine Ode an die Medizin und an den menschlichen Fortschritt, der unaufhaltsam scheint. Pilet ist beeindruckt.

Anfang Juli fährt er für eine Woche nach Berlin. Erster Eindruck: Enttäuschung. Er hatte erwartet, dass diese gigantische, enorme, allmächtige Stadt, dieses «zweite Paris» ihn aufmuntern und packen würde. Nichts dergleichen. Man hat ihm vom lebhaften Treiben auf den Strassen geschwärmt, doch er sieht weniger Verkehr als an einem Sonntag in Genf. Auch die Stadt selbst enttäuscht ihn, das Schloss, der Dom, die grossen Plätze vor dem Schloss und der Siegessäule, die Friedrichstrasse und Unter den Linden, beide weltberühmt. Er besucht die Oper – das Orchester ist «unzweifelhaft weniger gut als in Leipzig» – und kehrt über die Wilhelmstrasse und das Brandenburgertor ins Hotel zurück. Ernüchternd. Alles tot, die Lichter gelöscht, die Strassen halb leer, was in Lausanne auch um Mitternacht selten der Fall ist. «Und das ist die Hauptstadt Preussens!»

Am zweiten Tag erwartet ihn bei der Agentur «Weltreise» eine «Stadtrundfahrt im Automobil» – in einer Art offenem Car, auf dem vielleicht dreissig Personen auf treppenförmigen Bänken zusammengepfercht sind. Der Reiseführer muss schreien wie ein billiger Jakob, um den Strassenlärm zu übertönen. Auf der Rundfahrt gibt es Dinge, die Pilet gefallen, der grosse Park von Charlottenburg – «fröhlich und einfach» –, das elegante Schloss Friedrichs I. und das Mausoleum Wilhelms I. Im Mausoleum ist ihm egal, dass dort die Kaiser und Kaiserinnen ruhen. Er ist fasziniert vom violett-goldenen, harmonischen Licht, das auf den die Gräber beschützenden Engel fällt. Dort wäre er gerne länger verweilt, doch der Chauffeur drängt zum Aufbruch.

Den Rest der Woche ist er allein unterwegs, fühlt sich oft einsam. Im Zoologischen Garten langweilt er sich sterblich, gähnt vor den Tigern, die zurückgähnen. Die Kamele, die Giraffen, die «Schweine Europas, Asiens und Afrikas» öden ihn ebenso an wie die schlecht riechenden, vielfarbigen Vögel. Ein einziger einfacher, freier Spatz wiegt sie alle auf. Pilet flüchtet in den Tiergarten, den Volkspark in der freien Natur. Dort entzückt der Rosengarten den Blumennarren – «des roses, encore des roses, toujours des roses, weisse, rote, creme- und fleischfarbene, splendides et discrètes».

Brandenburg lässt Pilet kalt – ausgenommen der schmackhafte Johannisbeerkuchen in der Konditorei Graf und die Brandenburger Spargeln. Hässlich und schmutzig das Sommertheater, ein deutsches Tivoli, vergleichbar mit lärmigen Lausanner Pinten, in denen Belles-Lettres Radau machen und sich besaufen können. Er würde zögern, in Uniform hinzugehen. Die paar Minuten, die er dort verbrachte, genügten, um des rencontres louches, zweifelhafte Begegnungen, zu machen. Also rasch weg.

Das Schönste, was Pilet in seiner Berliner Woche zu sehen bekommt, ist Potsdam. Es ist magnifique, nicht nur magnifique, sondern délicieux, stundenlang könnte man sich dort verlieren. Auf dem Gelände hinter dem Schloss begegnet er einem von einem zwanzigjährigen Fräulein begleiteten Ehepaar. Der fünfzigjährige Herr sieht, wie Pilet sich über seinen Ortsplan beugt, und bittet ihn um eine Auskunft. Berliner, die Potsdam nicht kennen! Man beschliesst, gemeinsam die Sehenswürdigkeiten zu besuchen: die prächtigen Blumenbeete, die Brunnen, die Orangerie, das Belvedere, das neue Palais. Dann schaut der Berliner Herr auf die Uhr, blickt zu Madame und meint, es sei Zeit heimzugehen. Zum Erstaunen Pilets, der angenommen hat, die junge demoiselle sei seineTochter, fragt der Herr: «Fräulein, was gedenken Sie zu tun?» Das Fräulein schaut Pilet an, mustert ihn kritisch, würde gerne im schattigen Park weiter spazieren, möchte sich aber nicht auf eine abenteuerliche Begleitung einlassen.

 

Sie fasst genug Vertrauen zu dem höflichen Fremden, um sich ihm anzuvertrauen. Das Fräulein ist Rheinländerin, zu Besuch in Berlin. Die beiden gehen «von einer charmanten Ecke zur anderen charmanten Ecke, schnattern wie Elstern, wenigstens, wie französische Elstern auf Deutsch schnattern können.» Ein angenehmer Nachmittag.

Pilet hätte nie ihren Namen gekannt, wenn sie nicht, «als kuriose kleine Deutsche», ihn gebeten hätte, ihm ein paar Ansichtskarten aus der Schweiz zu schicken, «die ein sehr schönes Land sein müsse». So findet er heraus – «können Sie, es glauben?» –, dass sie Mathilde heisst, gleich wie seine Tillon. Dies stört Marcel nicht. Seine Tillon war für ihn nie Mathilde, der Vorname bedeutet ihm nicht mehr, als wenn sie «Euphrasie oder Philomène» hiesse. Ah, wie sehr vermisst er Tillon, wie gerne würde er Arm in Arm mit ihr durch Potsdam schlendern.

Im Pergamonmuseum durchstreift Pilet die Altertümer Ägyptens, Griechenlands und Italiens. Angesichts der Mumien, die ihn frösteln lassen, denkt er (kurioserweise) an die im Moment aktuellen Eisenbahnerstreiks in Frankreich, wo es auf verschiedenen Linien zu Sabotageakten gekommen ist:

Ich bin gewiss nicht Sozialist, und wenn es einen Dienst gibt, den ich gerne leisten würde, wäre es, geradezu auf dieses Gesindel, das die Eisenbahnlinien sprengt, loszumarschieren. Doch lassen wir das.

Pilet wird fünfzehn Jahre später in seiner viel beachteten, umstrittenen Jungfernrede im Nationalrat, den Schweizer Bundesbeamten, insbesondere den Eisenbahnern, das Streikrecht absprechen.

Eine weitere Etappe des unermüdlichen Touristen ist das Friedrichmuseum, die Nationalgalerie. Er bewundert die von ihm geliebten alten flämischen Meister – Rubens, van Dyck, Rembrandt, van Ruysdael – die Spanier –, «die splendiden und arroganten» Velázquez, die «tieferen» Riberas, zwei exquisite Murillos. Das Juwel der Sammlung ist für Pilet ein «Mädchenkopf» von Jean-Baptiste Greuze – wer kennt ihn noch? –:

Ich gestehe es Ihnen, Tillon meine Freundin, Greuze ist der Einzige, den ich für würdig halte, Ihr Portrait zu machen. Zweifellos sind van Van Dyck, Rubens, Rembrandt und andere die grösseren Maler, aber sie wären nicht imstande, den Zauber Ihres Gesichts wiederzugeben, denn dies ist seine grosse Qualität: zu bezaubern. Von ihnen würde der eine Sie zu traurig darstellen, der andere zu glänzend in der Hautfarbe und wieder einer zu ernst. Einzig Greuze würde die Grazie Ihres Lächelns, den träumerischen und anmutigen Glanz Ihrer Augen, die vagabundierende und sonnige Leichtigkeit Ihrer Haare gleichzeitig verstehen und malen können.

Absence makes the heart grow fonder, weiss ein englisches Sprichwort.

Die Eislaufvorstellung im Admiralspalast bezaubert den romantischen Schweizer: «Welch hübsche und exquisite Sache, ein Walzer auf dem Eis, in bleichem Licht, mit einem betäubenden Orchester!» Wenn er die Paare elegant sich drehen sieht, fühlt sich Pilet als ungelenker Tor: «Welch traurigen Marcelin haben Sie da gewählt, Tillon, und wie schlecht wird er Sie unterhalten können.» Er läuft nämlich «Schlittschuh wie drei Neger», «tanzt kaum besser», spielt grauenhaft Geige, kann zur Not ein Pferd führen, ein Florett halten und in seinen Büchern büffeln. Der Wille vermag vieles, aber Pilet weiss: Ich bleibe schwerfällig und linkisch.

«Als alter Troupier» begutachtet er in der historischen Sammlung des Zeughauses Kanonen, Befestigungseinrichtungen und Säbel. Er bewundert die fein ziselierten türkischen Scimitare. Die Menge hingegen interessiert sich für Uniformen, für die Ausrüstungen Bismarcks, Blüchers, Napoleons – diese «erbeutet», wie diskret darunter steht – und die Orden dieser Herren.

Zufällig trifft er bei der Börse einen Schulkameraden aus dem Gymnasium, einen Banquier. Die beiden können sich nicht ausstehen und Pilet hat einst diesem «Wesen, das ich verabscheue», die Aufnahme in Belles-Lettres verunmöglicht. Doch man ist höflich und urban, wie es sich gehört. Dank dem Banquier verbringt Pilet seinen letzten Berliner Abend bei einem Essen mit Schweizern, hauptsächlich Lausannern und Neuenburgern.

Die mehrheitlich sehr ernsten, sogar hoch philosophischen Gespräche zogen sich bis in den Morgen hinein. Es war schon nach drei Uhr morgens, als diese messieurs, die mich liebenswürdigerweise heimbegleitet hatten, mich im Hotel verliessen.

An seinem letzten Berliner Tag: Rathaus – architektonisch recht interessant –, Königspalast – zu viele Vergoldungen und zu viele Auftragsbilder –, Reichstag – auch nicht berauschend. Der Sitzungssaal hat nichts «Imposantes und Grandioses», nichts Vergleichbares mit dem Ständeratssaal in Bern und seiner «Reihe von Chorstühlen und ihren eingeschnitzten Kantonswappen». Die «Psychologie der Besucher» amüsiert den Schweizer:

Man hat gesehen, wie sich ihre Wünsche, ihre Ruhmsucht und ihr Ehrgeiz unschuldig nackt zur Schau stellten. Alle, oder wenigstens fast alle von denen, die mich begleiteten, die Damen wie die Herren, betrachteten mit Ehrfurcht den luxuriösen Sessel des Ratspräsidenten und empfanden ein halb komisches, halb ernstes, auf der Illusion von Ruhm beruhendes Vergnügen, sich einen Augenblick lang darauf zu setzen. Und die zwanzig oder so, die dort waren, haben einer nach dem anderen sich auf diesem erhabenen Stuhl niedergelassen.

Pilet selber? Nein. Allerdings ist er dann geradewegs zur Tribüne geschritten, um festzustellen, ob der Redner, von dort aus die Versammlung beherrschen und, ohne in seinen Bewegungen gestört zu sein, alles sofort übersehen kann.

Ah, du alter Grundstock des Schauspielers und des Advokaten, und auch der des Klassik-Gymnasiasten, der stolz darauf sein möchte, gutes Französisch zu sprechen, du tauchst doch immer wieder auf! Marcelin hat gelächelt, als er daran dachte.

Ahnt der selbstironische junge Tourist, dass er dereinst als Bundesrat mit seiner Redekunst selbst Deutschschweizer Parlamentarier beeindrucken wird?