Unentrinnbar

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Der Sturm legte sich mit einem Donnerschlag, wie er begonnen hatte. Sie stand neben Brunhild, strich ihr über die Nüstern, als hätten die letzten ekstatischen Minuten nur in seiner Fantasie stattgefunden.

»Wir beide haben noch viel nachzuholen, meinst du nicht, Captain Hook?«, sagte sie mit unschuldigem Lächeln.

»Ich heiße nicht Captain Hook«, entgegnete er albern. Er war noch nicht ganz zurechnungsfähig.

Sie lachte. »Hätte ich fast gedacht, stell dir vor.«

Es war ein warmes Lachen, das ihm glühende Röte ins Gesicht trieb. Sie beobachtete ihn liebevoll, wie eine Mutter, die ihrem Kind beim Spielen zusieht.

»Du bist Lars Brüderles Gattin?«, fragte er in der vagen Hoffnung auf ein Nein.

»So steht’s auf dem Papier. Und du arbeitest für ihn, nehme ich an.«

Er nickte resigniert. »Jonas Herzog, Pharmakologe«, murmelte er. »Mann, Mann, Mann …«

Sie hatte plötzlich einen in edles Leder gebundenen Flachmann in der Hand. Lächelnd schraubte sie den Deckel ab und trank einen herzhaften Schluck der Flüssigkeit, die mit Sicherheit aus mindestens vierzig Prozent Äthanol bestand.

»Erstklassiges Wässerchen«, erklärte sie und streckte ihm die Flasche entgegen.

Er schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee.«

»Findest du? Da bin ich anderer Ansicht. Der Schnaps reinigt von innen und ist wesentlich bekömmlicher als Seifenlauge. Dank dem Gesöff habe ich es immerhin schon viele Jahre hier ausgehalten.«

»Was wir hier tun, ist keine gute Idee.«

»Wir reden doch nur.«

»Du weißt, was ich meine. Wie soll das jetzt weitergehen mit uns?«

Als hätte er um ihre Hand angehalten, fiel sie ihm um den Hals. Sie drückte einen feuchten Kuss auf seine Lippen, dann begann sie, sein Ohrläppchen anzuknabbern. »Soll es denn weitergehen?«, hauchte sie dabei.

Jede Faser seines Körpers wollte ja schreien, doch der Verstand legte sich quer. Er befreite sich sanft von ihrer ungestümen Umarmung und hörte sich zu seinem Entsetzen sagen: »Wir dürfen uns nicht mehr sehen. Dein Mann …«

»Dem ist egal mit wem ich mich paare, solange ich mich nicht scheiden lasse.«

»Ich verstehe gar nichts mehr.«

»Brauchst du auch nicht. Ist eine lange Geschichte. Hat mit dem Holzbrinck’schen Erbe zu tun. Dafür lohnt es sich, zu leiden.«

Litt nun sie oder Lars, der CEO, oder am Ende nur er selbst? Er kapierte es nicht. Er wollte die Sache ein für alle Mal klären, bevor sie den Flachmann wieder ansetzte. Das ferne Klingeln eines Telefons hinderte ihn daran. Gleich danach hörte er die laute Stimme Lars Brüderles, der den späten Anruf gar nicht zu schätzen schien.

»Scheiße – dein Mann – was machen wir jetzt?«

»Ich würde zuerst den Hosenladen schließen«, riet sie ihm schmunzelnd.

Während er hektisch den Griff des Reißverschlusses suchte, hörte er ein Rascheln im Stroh. Er fand, was er suchte, zerrte daran wie an der Reißleine des rettenden Fallschirms. Als er aufblickte, stand er allein vor der Box. Keine Spur von Tess. Sie hatte sich in glitzernden Staub verwandelt. Nur Brunhild musterte ihn misstrauisch mit glänzenden Augen, als hätte sie im Stillen geweint.

»Hallo, jemand da?«, rief Lars Brüderle am Tor.

Jonas blieb keine Zeit, sich zu verstecken. Er hoffte inständig, dass Tess wirklich verschwunden war, und trat schicksalsergeben auf Brüderle zu.

»Ich bin’s, Dr. Herzog«, sagte er mit einer Stimme, die betont ruhig wirken sollte, aber nur überlaut daherkam.

»Dr. Herzog? Was machen Sie denn hier im Stall?«

»Entschuldigen Sie, die Tür war offen, das Licht brannte und ich hörte, dass die Pferde unruhig waren.«

Jonas beglückwünschte sich insgeheim zu dieser brillanten Ausrede, aber sein CEO traute ihr nicht. »So? Seltsam. Um welches Pferd handelt es sich?«, fragte er lauernd. Dabei blickte er sich offen nach weiteren Eindringlingen um.

»Die – wunderbare Lipizzanerstute da hinten.«

Jonas zeigte auf die Box, wo Brunhild tatsächlich wieder aufgeregt schnaubte. Seine frappante Pferdekenntnis schien Brüderle doch noch zu beeindrucken.

»Brunhild, die Stute meiner Frau«, murmelte er. »Sie ist ein wenig ängstlich.«

»Ein schönes Tier«, meinte Jonas bewundernd, obwohl er Pferde nur an der Farbe unterscheiden konnte.

»Wie alle hier«, ergänzte Brüderle säuerlich.

»Natürlich.«

Jonas beeilte sich, seinem CEO zum Ausgang zu folgen. Der blieb plötzlich stehen und drehte sich mit ernster Miene zu ihm um. »Übrigens, Dr. Herzog. Die Frage des klinischen Tests hat sich erledigt. Ich habe mit Berlin gesprochen. Ihre Argumente haben überzeugt.«

Er hätte ebenso gut Chinesisch reden können. Im ersten Moment verstand Jonas kein Wort. Gut trainiert, wie er war, antwortete er automatisch mit der passenden Floskel: »Ausgezeichnet. Das sind gute Nachrichten.«

Erst nachdem sie den Stall hinter sich hatten, sank die Neuigkeit in sein Bewusstsein. Lars Brüderle hatte soeben bestätigt, dass keine zusätzlichen, aufwendigen klinischen Tests für ihr gentechnisch hergestelltes Generikum ›XORACIN‹ nötig waren. Anders ausgedrückt: Sein Projekt war auf der Zielgeraden zum totalen Triumph. Freuen mochte er sich nicht darüber. Vielleicht später. An diesem Abend machte er sich zu große Sorgen um seine Tess.

Kapitel 3

Gestüt Walpurga, Badenweiler

Tess rieb sich verwundert die Augen. So früh am Morgen zu erwachen war ungewöhnlich genug, aber ohne Kater? Wie lange lag ihr Flachmann schon leer in der Nachttischschublade? Sie war im Begriff, sich zu verändern. Jetzt, da die Tage schnell kürzer wurden und die ersten Frostnächte vor der Tür standen, begann in ihrem Kopf der Frühling. Blumenwiesen verbreiteten ihren betörenden Duft und laue Lüftchen wehten den abgestandenen Alkoholdunst nach und nach aus ihren Poren. Nicht dass sie ganz aufs Trinken verzichtete, beileibe nicht. Aber die kostbaren, witzigen und romantisch verliebten Telefonate und Kurznachrichten ihres herzergreifend unverdorbenen Jonas am Abend im Bett wiegten sie so sanft in den Schlaf, dass sie den betäubenden Schlummertrunk regelmäßig vergaß. Der Frühling machte auch das Leben im goldenen Käfig des Familiensitzes überraschend erträglich. Selbst im Haus konnte sie vollkommen nüchtern sein und trotzdem frei atmen. In diesem schrecklichen Haus, wo die Perfektion des selbstgerechten Stiefvaters und seiner noch vollkommeneren Mutter Walpurga wie ein einziger giftiger Vorwurf aus jeder Mauerritze, den Tapeten, kostbaren Teppichen, antiken Möbeln, piekfein glänzenden Wasserhähnen, ja gar aus dem schweren Tafelsilber kroch.

Sie schlug die schwarz seidene Bettdecke zurück, küsste das Handy mit dem Morgengruß ihres Geliebten und stellte sich unter die Dusche, deren warmer Tropenregen sie wieder erfrischte wie früher, nicht nur weckte, seit sie Jonas kannte. Der einzige Nachteil des neuen Lebensrhythmus bestand darin, dass sich die Begegnungen mit Lars am Frühstückstisch häuften. Seit der alte Hubert die meiste Zeit in Italien verbrachte und sie ihm nicht mehr täglich die intakte Ehe vorspielen musste, hatte sie kaum ein Wort mit Lars gewechselt. Er versuchte es immer wieder, weil er als ehemaliger Staranwalt nichts anderes gelernt hatte als Theater zu spielen, doch seine Themen interessierten sie nicht. Außer einem, bei dem sie sich regelmäßig in die Haare gerieten. An diesem schönen Frühlingsmorgen, wo draußen ein Herbststurm die letzten Blätter von den Bäumen fegte, war es wieder soweit.

»Irgendwann müssen wir es ihm sagen«, murmelte Lars, bevor er sein Dreiminutenei mit einem präzisen Hieb köpfte.

»Was meinst du?«, fragte sie, obwohl sie genau wusste, wovon er sprach.

»Er hat ein Recht darauf, zu erfahren, dass wohl nichts wird mit dem Nachwuchs.«

»Musst du am frühen Morgen damit anfangen?«

»Wann sonst? Wir sehen uns ja nie mehr.«

Sein Ton ließ sie aufhorchen. Er hörte sich an, als bedauerte er diesen Umstand außerordentlich.

»Wir müssen es Hubert schonend beibringen, das ist dir doch klar?«

Tess lachte verächtlich. »Du meinst, mein protestantischer Stiefvater verträgt die simple Wahrheit nicht, dass man nur vorne schwanger wird?«

Lars senkte den Blick und löffelte das Ei bedächtig aus, bevor er ruhig weitersprach: »Wir müssen einen plausiblen Grund finden, den Hubert akzeptieren kann, sonst ist er imstande, das Testament zu ändern. Ich meine, das wollen wir beide nicht.«

»Hast Angst, das vorgezogene Erbe zurückzahlen zu müssen, wie?«

»Darum geht es doch nicht …«

»Genau darum geht es«, brauste sie auf. »Du willst ihm weismachen, wir könnten keine Kinder kriegen. Dass ich nicht will, ist euch beiden scheißegal. Vielleicht fürchtest du, dass ich dir bei meinem katholisch sündigen Lebenswandel eines Tages einen Bastard ins Nest setze, einen wie mich.«

»Hör auf …«, protestierte er. Der Rest blieb unausgesprochen.

Sie stand wütend auf. Die Bedienung hatte sich diskret zurückgezogen, als der Streit ausbrach, also goss sie sich selbst Kaffee nach aus der verhassten Silberkanne in der Mitte der langen Tafel. Ihr Handy piepste. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie die SMS las.

»Wieder dieser Hook?«, fragte Lars lauernd.

Überrascht ließ sie das Handy fallen. »Was – woher …«

»Ich bin nicht blind, Tess. Du lässt dein Telefon überall liegen, da konnte ich gar nicht anders, als ein-, zweimal einen Blick darauf werfen.«

Sie schäumte. »Ja sicher«, rief sie aufgebracht. »Der überkorrekte Herr Brüderle spioniert seiner Frau nach. Ich dachte, wir lassen uns unsern Freiraum, schon vergessen? Vielleicht sollten wir das schriftlich in einem Vertrag regeln. Du kennst sicher einen guten Anwalt.«

 

Er ließ sie toben, hielt es nicht für nötig, sie zu unterbrechen. Der Blick, den er ihr zuwarf, sagte deutlich genug: Bist du fertig? Warum schaffte er es immer wieder, sie zu provozieren? Sie kannte die Antwort, aber sie nützte ihr nichts. Er war trainiert, die schwachen Punkte anderer Leute zu erkennen und sie dann mit wenigen Worten bis aufs Blut zu reizen. Das war sein Lebensinhalt. Er konnte wahrscheinlich gar nicht anders. Seine nächste Frage nach einer Minute knisternden Schweigens passte genau in dieses Schema:

»Wie lange geht das schon mit diesem Hook?«

Als ob ihn je interessiert hätte, mit wem sie herumhurte. Statt ihm diese Wahrheit erbost an den Kopf zu werfen, antwortete sie mit provozierendem Lächeln: »Bald drei Monate.«

Er stutzte.

»Das hast du nicht erwartet«, freute sie sich.

»Muss ich mir Sorgen machen?«

»Sorgen?«

»Am Ende verliebst du dich in den Kerl.«

»Seit wann interessieren dich meine Gefühle?«

»Du hast keine Ahnung. Ich zähle jedenfalls auf deine Diskretion. Das Gestüt hat viele Augen, auch wenn dein Vater nicht mehr hier wohnt.«

»Stiefvater«, korrigierte sie ärgerlich und kehrte der reich gedeckten Tafel den Rücken.

Freiburg

Jonas war kein Geschäftsmann. Er besaß keinen Riecher für profitable Geschäfte. Deshalb war er Forscher geworden, wollte nie etwas anderes sein. Aus demselben Grund dachte er keine Sekunde daran, Vorteile für sich und seine Arbeit aus der Tatsache zu ziehen, dass er durch Zufall in den innersten Kreis des Holzbrinck-Brüderle-Imperiums vorgestoßen war. Sein Interesse galt einzig und allein Tess, der Person, die ihn bei jeder Begegnung mit einer neuen Facette überraschte, als wüsste sie selbst nicht, wer sie sein wollte. Sie war der einsamste Mensch, dem er je begegnet war, soviel hatte er verstanden. Und sie war die erste Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. So einfach war das und so unmöglich.

Er dachte nicht an diese hoffnungslose Zukunft, als er an diesem kalten Morgen, später als sonst, an der uralten Linde vorbei die Herrengasse hinauf schritt zum Stadtgarten, hinter dem das Gelände der ›BWpharm‹ lag. Fröstelnd schlug er den Mantelkragen hoch, um die eiskalten Ohren zu wärmen. Die Rollläden der Geschäfte waren hochgezogen, stellte er erstaunt fest. Wenn er sonst hier vorbeikam, brannte höchstens im Bäckerladen Licht und das Wasser im Bächle war sein einziger Begleiter. Er war wirklich spät dran. Zu spät für die Sitzung beim CEO. Es spielte keine Rolle mehr. Die mutierten Bakterien produzierten den ›XORACIN‹-Wirkstoff auch ohne ihn. Die kritische Phase war überwunden, das Projekt ein Selbstläufer. Seine Gedanken beschäftigten sich nun mit einem ganz andern Projekt, dem wichtigsten seines jungen Lebens. Er musste Tess aus ihrer Isolation befreien. Sein Herz ließ ihm keine andere Wahl. Später bliebe noch genügend Zeit, sich mit der Zukunft zu befassen.

»Lars will dich sprechen«, sagte Patrick zur Begrüßung, als er die Tür zum Büro öffnete.

»Dr. Brüderle möchte dich sprechen, sofort«, verkündete seine Sekretärin mit forschendem Blick, kaum hatte er den Mantel aufgehängt.

»Ich weiß. Irgendeine Vermutung, was er will?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es klang nur ziemlich dringend.«

»Ist Hauser bei ihm?«

Wieder Kopfschütteln. »Dr. Hauser hat einen Kundentermin.«

Sie musste es wissen, denn sie kontrollierte auch Hausers Terminkalender. Brüderle wollte ihn also persönlich unter vier Augen sprechen. Etwas beunruhigt betrat er das Büro des CEO.

»Sie sind ja doch da, gut«, stellte Brüderle trocken fest. Es war kein Vorwurf, nur eine deutliche Frage.

Jonas hustete rau, bevor er seine vorbereitete Antwort vorbrachte. Er laberte etwas von aufziehender Erkältung und erhöhter Temperatur.

»Ich gehe davon aus, dass Sie nicht einfach verschlafen haben«, bemerkte Brüderle ohne einen Anflug von Ironie.

Jonas stand der Sinn nicht nach Konversation. »Sie wollten über die ›XORACIN‹-Zulassung sprechen?«, vermutete er, um die Sache abzukürzen.

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Diese Sache ist auf gutem Weg. Schließlich bleibt das Prozedere sozusagen in der Familie.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Staatssekretärin Trauttmannsdorff im Gesundheitsministerium heißt mit vollem Namen Margarethe von Holzbrinck-Trauttmannsdorff.«

»Sie ist die …«

Jonas stockte erschrocken. »Mutter von Tess«, lag ihm auf der Zunge. Im letzten Moment korrigierte er die Frage:

»Die Gattin des Patrons?«

Brüderle nickte.

»Verstehe«, schmunzelte Jonas. »Praktisch.«

Der CEO reagierte mit keiner Faser auf die ironische Bemerkung, jedenfalls nicht äußerlich. Für ihn war die enge, familiäre Beziehung zum wichtigen Gesundheitsministerium in Berlin nichts weiter als eine geschäftliche Notwendigkeit.

Brüderle kehrte zum Sachthema zurück: »Dr. Hauser bestätigte mir in der Sitzung, dass Sie den Terminplan einhalten können. Ist das so?«

»Absolut. Der Meilenstein wird eingehalten, sofern keine weiteren Anforderungen aus Berlin eintreffen.«

Brüderle schüttelte energisch den Kopf. »Das wird nicht geschehen.«

Jonas versuchte es nochmals mit Ironie: »Die Wissenschaft hat ihren Zweck erfüllt. Somit werde ich bald arbeitslos sein«, lächelte er.

Diesmal reagierte Brüderle, allerdings nicht so, wie er erwartete: »Das hängt ganz von Ihnen ab«, meinte er.

Jonas sah ihn verständnislos an.

»Ich meine, ob Sie arbeitslos werden, liegt ganz bei Ihnen«, wiederholte Brüderle und beobachtete ihn dabei mit dem Pokerface des beinharten Anwalts.

»Gibt es Beschwerden über meine Arbeit?«

»Mir nicht bekannt. Wir alle hier schätzen Ihre Arbeit«, versicherte Brüderle.

»Dann kann ich ja beruhigt sein«, murmelte Jonas ärgerlich. Er war des Rätselratens müde und wandte sich zum Gehen. »War das alles, Dr. Brüderle?«

Die Audienz war keineswegs zu Ende. Mit der stets gleichen, undurchdringlichen Miene stellte Brüderle die Frage, die Jonas zuletzt aus seinem Mund erwartet hätte:

»Was sagt Ihnen der Name Hook?«

Die Zeit blieb stehen. Seine Kinnlade fiel herunter, dann bewegte sich gar nichts mehr. Erst als er wieder Sauerstoff in den Lungen brauchte, begann sich die Erde langsam weiterzudrehen.

»Hook? Ich – weiß nicht …«, stotterte er.

»Sie müssen diesen Hook ganz gut kennen«, stellte das Pokerface ruhig fest. »Hook sendet nämlich laufend anzügliche SMS unter Ihrer Handynummer an meine Frau.«

Jonas schoss heißes Blut in den Kopf. Er musste glühen vor Schamröte. Sprachlos wie ein ertappter Erstklässler vor dem Lehrer, stand er vor seinem obersten Chef. In Sekundenschnelle wandelte sich die Scham in Zorn. Zorn über seine eigene Dummheit, über Brüderles Dreistigkeit, mit der er offenbar seine Frau überwachte, obwohl die Ehe nur auf dem Papier bestand, und Wut über das beschissene Leben seiner Tess auf dem unseligen Gestüt Walpurga. Der ganze Dreck wäre aus ihm herausgebrochen, hätte nicht Brüderle in diesem Augenblick zu seinem eindringlichen Monolog angesetzt.

»Hook muss eines wissen«, sagte er mit Grabesstimme, ohne auch nur einen einzigen unnötigen Gesichtsmuskel zu bewegen. »Meine Frau Theresa ist psychisch sehr labil. Sie sucht manchmal die Nähe anderer Menschen, fremder Männer, weil sie krankhaft unsicher ist. Sie sucht Bestätigung. Findet sie diese nicht, geschieht die Katastrophe. Schon mehrmals hat sie sich kaum mehr von diesen Schocks erholt. Es ist eine Krankheit, gegen die es keine Pille gibt. Man kann nur vorbeugen, indem man sie in ihrer eigenen Welt in Ruhe lässt, verstehen Sie? Sagen Sie das diesem Hook. Und noch etwas: Sollte ich feststellen, dass Theresa wieder auf eine solche Katastrophe zusteuert, werde ich den oder die Verantwortlichen mit der ganzen Härte des Gesetzes zur Rechenschaft ziehen. Ich bin Anwalt. Ich kenne mich aus. Sagen Sie auch das Ihrem Freund Hook. Das ist alles.«

Brüderle nahm die Unterschriftenmappe aus dem Eingangskörbchen und setzte seine tägliche Routinearbeit fort, als wäre er nie unterbrochen worden.

Jonas konnte keinen klaren Gedanken fassen, fand kaum den Ausgang und torkelte den Korridor hinunter zu den Aufzügen wie ein angezählter Boxer, der sich kaum auf den Beinen halten kann. Es war der Tag, an dem er zum ersten Mal einen Anruf von Tess nicht entgegennahm und keine ihrer Kurznachrichten beantwortete. Seine Zukunft begann früher, als ihm lieb war.

Gestüt Walpurga, Badenweiler

»Soll ich den Kaffee auftragen, Madame?«

Tess blinzelte, schloss die Augen sofort wieder. Das grelle Licht tanzte weiter in ihrem Schädel, als freute es sich über ihren elenden Zustand. »Wie spät ist es?«, ächzte sie heiser mit trockenem Mund.

»Drei – Sie haben geklingelt.«

Sie tastete nach dem Flachmann auf dem Nachttischchen. »Leer«, murmelte sie und hielt der Bediensteten die Flasche hin.

»Soll ich das Bad einlassen, Madame?«

Sie drehte sich auf die andere Seite, gab einen Laut von sich, den das Dienstmädchen als Ja verstand, und vergrub den Kopf im Kissen. Das Rauschen des Wassers drang gedämpft in ihr Ohr. Es hörte sich an, als liefe die neu gewonnene Lebensfreude in einem Sturzbach aus ihrem Körper. Der alte Schnapsnebel machte sich wieder in ihren grauen Zellen breit. So ließ sich der jähe Verlust der blühenden Wiesen und lauen Frühlingslüftchen besser ertragen. Seit Tagen versuchte sie Jonas zu erreichen, sprach nur noch mit seiner Mailbox. Kein Morgengruß wartete auf dem Display des Handys, wenn sie aufwachte. Wozu überhaupt aufwachen unter diesen Umständen? Alles war wieder so sinnlos wie vor ihrer Begegnung mit ihm. Das Dienstmädchen ließ sich Zeit mit dem Wodka, also schleppte sie sich mühsam ins Bad. Die ätherischen Öle des Badezusatzes erregten Übelkeit, aber der stechende Geruch wehte wenigstens einen Teil des Selbstmitleids aus ihrem Kopf. Ihre Gedanken begannen, sich neu zu ordnen. Der Entschluss, Klarheit zu schaffen – heute, jetzt, sofort – drängte sich in den Vordergrund. Jonas sollte ihr ins Gesicht sagen, weshalb er plötzlich nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Sie musste ihr Schicksal endlich selbst in die Hand nehmen. Alkohol war nicht die Lösung, hämmerte der Verstand ihr ein. So sehr, dass sie den Flachmann vergaß, noch ehe sie aus dem Bad stieg.

Zehn Minuten später saß sie in ihrem blauen E-Klasse-Cabrio, unterwegs nach Freiburg. Sie fuhr direkt zur ›BWpharm‹. Das Bürogebäude, in dem Jonas und Lars arbeiteten, betrat sie zum ersten Mal.

»Wo finde ich Dr. Herzog?«, herrschte sie die Empfangsdame an, ohne sich vorzustellen.

»Wen darf ich melden?«, fragte die Angestellte höflich. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, wer vor ihr stand. »Oh mein Gott«, murmelte sie erschrocken. »Entschuldigen Sie, Frau Brüderle, nur einen Augenblick.«

Hastig griff sie zum Telefon, wählte und sprach so leise in den Hörer, dass Tess nur ihren Namen verstand.

»Sie werden gleich abgeholt«, versicherte die Dame mit einem nervösen Blick zu den Aufzügen.

Tess brauchte nicht lange zu warten. Mittlerweile nagten keine Selbstzweifel mehr an ihr, nur noch die Stinkwut auf Jonas. Eine Lifttür öffnete sich mit heiterem Glockenton, als frohlockte sie: Seht her, hier ist er. Sie war bereit, sich auf den Mann zu stürzen, der ihr neues Elend zu verantworten hatte – und stutzte. Lars trat aus dem Aufzug.

»Tess, welche Überraschung«, grüßte er ganz ohne überflüssiges Lächeln.

»Wo ist er?«, schnauzte sie ihn an, als steckte er mit seinem Nebenbuhler unter einer Decke.

»Wen meinst du, meine Liebe?«

Seine geschwätzige Ausdrucksweise stieß ihr sauer auf. Ein simples »Wer?« hätte genügt, aber auch das wäre zuviel gewesen, denn er wusste ganz genau, von wem sie sprach.

»Jonas, verdammt noch mal«, rief sie zornig.

»Wir sollten das im Büro besprechen.«

Ihr unerwartetes Erscheinen und der laute Auftritt schienen den perfekten Lars erheblich zu verunsichern. Vielleicht war sie ihm einfach nur peinlich. Auch gut.

Er trat einen Schritt auf sie zu und flüsterte eindringlich: »Mach hier bitte keine Szene.«

»Ich will dir deine kostbare Zeit nicht stehlen. Sag mir einfach, wo ich Jonas finde.«

Er zeigte fast flehend auf den Lift. »Fahren wir nach oben – bitte.«

Sie blickte weder links noch rechts, erwiderte keinen Gruß, während sie ihm zu seinem Büro auf der obersten Etage folgte. Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, änderte sich seine Haltung. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. Stumm bot er ihr Platz an auf dem Sofa, wo sonst die Besprechungen mit dem privilegierten Personal stattfanden.

 

Sie blieb stehen, fragte noch einmal: »Wo ist er?«

Sein kalter Blick streifte sie. »Was willst du von Hook?«

Sie sparte sich Ausflüchte, um nicht Gefahr zu laufen, dass ihr Ärger verrauchte. »Gratuliere zu deiner Kombinationsgabe, Sherlock Holmes«, entgegnete sie trocken.

Er zeigte keine Regung. Seine nächste Frage traf sie unerwartet und genau in ihre blutende Wunde: »Hat er dich versetzt?«

Genauso gut hätte er ihr die Faust in den Magen rammen können. Ihr Atem stockte und der Schmerz fuhr ihr in die Glieder, dass sie sich doch noch setzen musste.

»Was weißt du schon«, wisperte sie schließlich tonlos.

»Du wirst verstehen, dass ich deiner Beziehung mit meinem Angestellten Herzog nichts Positives abgewinnen kann. Aber ich sehe, wie du leidest …«

»Einen Scheiß siehst du! Du hast keinen Schimmer, wie es in mir drin aussieht.«

»Mag sein«, gab er zu, »aber hast du dich nie gefragt, warum er sich an dich herangemacht hat?«

»Jonas hat sich nicht an mich rangemacht«, brauste sie auf. »Er hat …«

»Er hat dich ausgenutzt. Er hat bekommen, was er wollte. Jetzt braucht er dich nicht mehr. Je eher du das begreifst, desto besser für dich.«

Sie fand keine Worte, starrte ihn nur hilflos an. Seine nüchtern vorgetragene Anschuldigung schmerzte so sehr, dass sich alles in ihrem Kopf zu drehen begann. Jonas hatte sie geliebt, das wusste sie. Kein Mann kann eine Frau so täuschen. Ausgenutzt? Unmöglich. Sie waren glücklich.

Lars hieb gnadenlos weiter in die Bresche: »Was hat er in der Bibliothek gesucht? Hast du dir das mal überlegt? Er hat dich doch in der Bibliothek beglückt, nicht wahr?«

»Hast du heimlich zugesehen? Hat’s Spaß gemacht?«

Sie war außer sich. Weniger wegen seiner emotionslos vorgetragenen Anklage, als wegen der treulosen Dienstboten auf Gestüt Walpurga. Woher sonst sollte Lars von ihrem Abenteuer in der Bibliothek erfahren haben?

»Auf jeden Fall war jemand an meinen Papieren, und ich denke, du weißt genau, wen ich meine.«

»Lächerlich!«, rief sie entrüstet aus und sprang auf.

Sie versuchte krampfhaft, sich an Einzelheiten der Nacht in der Bibliothek zu erinnern. So sehr sie sich auch anstrengte, ihr Gedächtnis gab nur das alles überstrahlende Gefühl preis, das sie mit den glücklichen Stunden verband: der erfrischende Schock, seit Langem wieder richtig zu leben in einem Rausch bedingungsloser Hingabe, der ihr manchmal beinahe die Besinnung raubte. Wie sollte sie sich da gemerkt haben, was sonst noch geschah in jener Nacht?

»Offenbar hat er gefunden, was er suchte«, fuhr Lars unerbittlich fort, »sonst hätte er dich nicht fallen lassen. Mach endlich die Augen auf, Tess. Er ist es nicht wert. Wer weiß, was er noch alles im Schilde führt. Wir beobachten ihn sehr genau.«

Die Ungeheuerlichkeit dieser nüchternen Feststellung schnürte ihr die Kehle zu. Blass, mit versteinerter Miene, vermochte sie nur ihre Frage zum dritten Mal herauszuwürgen: »Wo ist er?«

»Nicht im Haus.«

Lars beugte sich vor, versuchte ihr in die Augen zu schauen, doch sie erwiderte seinen Blick nicht, sah durch ihn hindurch.

»Tess, lass es, ich flehe dich an. Komm, ich fahre dich nach Hause.«

»Welches Zuhause?«, murmelte sie tonlos.

Sie drehte sich auf ihren Absätzen und ging. An der Tür versuchte er, sie aufzuhalten. Sie stieß ihn weg wie einen Müllsack, der den Weg versperrt.

»Dr. Herzog«, rief die Empfangsdame aufgeregt, als Jonas den Aufzug betreten wollte.

Erstaunt trat er an ihr Pult. »Ja?«

Sie erhob sich, beugte sich vor, um leise sprechen zu können. »Entschuldigen Sie, Dr. Herzog, ich glaube, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«

Die Dame machte einen verstörten Eindruck. »Was ist passiert?«, fragte er mit einem Lächeln, das sie beruhigen sollte.

»Frau Brüderle – ach Gott, es tut mir so leid.« Sie musste erst Atem schöpfen, bevor sie weitersprechen konnte. »Frau Brüderle war hier und …«

»Hier, in der Firma?«, rief er überrascht.

»Ja, sie kommt sonst nie hierher. Sie schien sehr aufgebracht und hat verlangt, Sie zu sehen. Da Sie nicht im Haus waren, habe ich Dr. Brüderle gebeten …«

»Oh mein Gott. Mich wollte sie sprechen?«

»Ja, aber sie fuhr mit ihrem Mann hinauf ins Büro. Sie haben sich gestritten. Nach einer Weile ist sie ganz aufgelöst aus dem Haus gestürmt. Verzeihung, ich weiß, ich hätte Sie anrufen sollen. Ich konnte nicht wissen …«

»Beruhigen Sie sich. Sie haben nichts falsch gemacht.«

Die Floskel hörte sich selbst in seinen Ohren reichlich hohl an. Natürlich konnte sie nicht wissen, wie es um sein unseliges Dreiecksverhältnis stand. Es musste Tess enorme Überwindung gekostet haben, ihn in diesem Haus aufzusuchen, das sie verabscheute wie alles, was mit dem Namen Holzbrinck zusammenhing. War er doch mehr als eine ihrer Affären, die Brüderle angedeutet hatte? Er wollte es aus ihrem Munde hören.

»Wo ist sie jetzt?«, fragte er in Gedanken versunken.

Die Empfangsdame schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß es nicht. Wie gesagt, sie ist aus dem Haus gestürmt, als würde sie fliehen, dann fuhr sie mit ihrem Wagen davon.«

Jonas murmelte ein »Danke schön« und eilte zurück zur Garage. Auf der Fahrt nach Badenweiler versuchte er vergeblich, sie ans Telefon zu bekommen. Sie musste das Handy ausgeschaltet haben. Vermutlich wollte sie nicht durch Anrufe von Lars belästigt werden. Er drückte aufs Gas, fuhr hart am Limit, denn er spürte, dass Tess in Gefahr war. In einem gab er Brüderle recht: Sie war labil, konnte nicht mit Ausnahmesituationen umgehen. Manchmal kam sie ihm vor wie ein Schaf oder ein Reh, ein Fluchttier, das sich Konflikten nicht stellte, sondern vor ihnen flüchtete. In den Alkohol, in fragwürdige Abenteuer oder Schlimmeres. Er parkte den Wagen unmittelbar vor der Treppe des Haupthauses. Die Zeit der Diskretion war vorbei, der Konflikt mit Lars Brüderle offen ausgebrochen. Er brauchte nicht mehr heimlich über Wald und Weide aufs Gestüt zu schleichen. Jetzt begann der Kampf um Tess im hellen Tageslicht und mit nackter Faust.

»Wo ist Tess?«, fragte er den Butler, der ihm die Tür öffnete.

Sein scharfer Befehlston ließ keinen Zweifel offen, dass er nur an der Antwort auf diese Frage interessiert war. Der Bedienstete versuchte gar nicht erst, Unverständnis zu markieren.

»Sie – Frau Brüderle ist weggefahren«, antwortete er ohne Umschweife.

»Wann?«

»Kurz nach drei.«

»Seither ist sie nicht zurückgekehrt? Sind Sie sicher?«

»Nein – ja – ich meine, ich bin sicher, dass sie nicht wiedergekommen ist.«

»Wohin ist sie gefahren?«

Der Butler zuckte die Achseln. »Wenn ich ihr etwas ausrichten …«

Er stockte, denn Jonas sprang schon wieder die Treppe hinunter. Im Wagen durchwühlte er hastig das Handschuhfach auf der Suche nach dem rosa Kärtchen, das er seinerzeit eingesteckt hatte. Fluchend räumte er das Fach aus, griff in die Seitentaschen der Türen, bis er sich plötzlich erinnerte. Er suchte im falschen Auto. Damals im ›Forstschlösschen‹ waren sie mit Patricks Wagen unterwegs gewesen. Verärgert fuhr er ab. Während der Fahrt durch das Wäldchen zur Landstraße versuchte er sich zu erinnern, welchen Weg er seinerzeit gefahren war. Müllheim lag in der Nähe, an diese Ortstafel erinnerte er sich. Tess telefonisch zu erreichen, hatte er aufgegeben. Das ›Forstschlösschen‹ war seine letzte Hoffnung. Es war ihr Zufluchtsort gewesen, bevor sie ihn kennengelernt hatte. Ironischerweise war es das zweifelhafte Verdienst ihres Mannes, sie dort eingeführt zu haben. Jonas schmunzelte unwillkürlich, als er daran dachte, wie sie ihm die Geschichte erzählt hatte. Es ging um ein großes Geschäft mit osteuropäischen Partnern, soweit sie sich erinnerte. Die teure Einladung ins ›Forstschlösschen‹ war eine Idee der Marketingabteilung, um die Geschäftsfreunde milde zu stimmen. Eine Idee, die bestens funktionierte. Zum blanken Entsetzen des prüden Lars Brüderle entpuppten sich die Begleiterinnen seiner Geschäftspartner schnell als professionelle Huren, die sich zudem glänzend mit Tess verstanden. Was musste Lars an jenem Abend gelitten haben. Die schummrigen Grotten des ›Forstschlösschens‹ mit ihrer schrägen Bevölkerung konnte ein aufrechter Protestant wie Brüderle nur als Brueghel’sche Hölle empfunden haben. Aber er hielt durch bis zum Schluss, wie Tess lachend berichtete. Es ging um viel Geld.