Unentrinnbar

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Jonas versuchte es weiter mit Humor: »Bei unserm Stift sieht es ganz danach aus.«

Der Lehrling rührte sich nicht. Zusammengekauert schielte er auf seine Chefs, als erwarte er nächstens eine Tracht Prügel oder Schlimmeres. Rohner hielt Jonas das Versuchsprotokoll hin mit der Bemerkung: »Drei Monate im Arsch, tut mir leid.«

Es war eine der Situationen, die man nur schadlos überlebt, wenn die Zeit für eine Weile stillsteht. Jonas begriff auf den ersten Blick, was Rohner meinte. Der unglückliche Lehrling hatte den Diätplan der Fische verwechselt. Über Monate war der Versuch unter falschen Voraussetzungen durchgeführt worden, und Rohner, der alte Hase, hatte nichts gemerkt.

Bevor Jonas’ Raumzeit wieder zu ticken begann, stürmte Helbling ins Labor. »Nun meine Herren, was sage ich dem Verwaltungsrat?«, rief er in jovialem Ton und so laut, dass die Fische erschrocken zurückwichen.

Selbst Rohner, dem Helbling als einzigem Nicht-Akademiker seit jeher vertraute, verfiel in Schockstarre. Der Lehrling schrumpfte zum winzigen Igel, war kaum noch zu sehen. Was für den Professor keinen Unterschied ausmachte: Er sah die niederen Chargen sowieso nicht. Soweit hinunter reichten seine familiären Gefühle dann doch nicht.

»Ich fürchte, der Versuch muss wiederholt werden«, sagte Jonas mit der nüchternen Miene des kritischen Wissenschaftlers.

Helbling erbleichte. »Was soll das heißen?«

»Genau das, Professor. Die Daten sind zuwenig aussagekräftig. Die Randbedingungen waren zuwenig spezifisch. Mein Fehler. Wir brauchen mehr Zeit …«

»Was zum Henker fällt Ihnen ein?«, brauste Helbling auf. »Der VR erwartet die Resultate heute Nachmittag. Die Zeit ist abgelaufen!«

Die Adern an seinen Schläfen schwollen an wie die Stimme. Die Fische wagten sich nicht mehr aus ihrem Versteck. Professor Helbling echauffierte sich dermaßen beim Gedanken, den Verwaltungsrat enttäuschen zu müssen, dass Jonas um Basels Zukunft bangte. Natürlich war der Fehler des bedauernswerten Lehrlings ärgerlich und teuer, aber mit ähnlichen Rückschlägen musste man in der Forschung immer wieder rechnen. Das wusste auch Helbling, und früher oder später würde er den Vorfall vergessen, hoffte Jonas.

»Ich erwarte Sie in meinem Büro, Dr. Herzog«, knirschte Helbling, bevor die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.

Die folgenden zehn Minuten in Helblings Büro gehörten zu den anstrengendsten in Jonas’ bisherigem Leben. Noch nie hatte er in so kurzer Zeit so viele Lügen erfinden müssen. Das kostete eine Menge Energie. Er brauchte dringend frische Luft und etwas zwischen die Zähne, als er den Ort des Schreckens verließ.

»Johanniter? «, fragte er nur, als Rohner ihn nervös anblickte.

Wortlos verließen sie das Haus, schlenderten ein Stück den Rhein hinauf, in die Seitengasse, wo der Italiener seinen Laden hatte, in dem er und seine Mamma seit jeher jedes Sandwich frisch vor den Augen des Kunden erschuf. Die beiden Stammkunden mussten nur nicken und erhielten das Übliche: Semmel mit frisch geschnittener Mortadella und Essiggurke für Jonas, Baguette mit Thunfischsalat für Rohner, dazu zwei ›Blöterliwasser‹. Erst auf der Bank unter der Johanniterbrücke hielt Rohner es nicht mehr aus.

»Bekommen wir einen neuen Chef?«, fragte er mit gequälter Ironie, die nicht zum besorgten Blick passen wollte.

Jonas unterdrückte ein Lächeln, antwortete stattdessen mit einem schweren Seufzer: »Soso, hat es sich also schon herumgesprochen.«

Der Bissen fiel Rohner aus dem Mund. »Scheiße!«, rief er bestürzt und starrte ihn entsetzt an.

»Wusste gar nicht, dass Sie auch richtige Schimpfwörter drauf haben«, grinste Jonas.

»Sie ziehen mich auf.«

»Sicher. Helbling wird sich schon wieder beruhigen.«

Rohner betrachtete sein Baguette misstrauisch, als hätte es ihn betrogen. Dann meinte er leise: »Das war sehr nobel von Ihnen.«

»Was denn?«

»Dass Sie sich vor uns stellten. Helbling hätte dem Stift und mir sonst den Kopf abgerissen. Sehr nobel, Doktor.«

»So schlimm wär’s wohl nicht gekommen«, lachte er, »und vergessen Sie den Doktor.«

Die Knopfäuglein musterten ihn wieder mit dem alten Glanz. Rohner biss nochmals in sein Brot, kaute umständlich, schüttelte dabei ab und zu den Kopf, dann wieder nickte er, als erzählte er sich selbst eine dramatische Geschichte.

»Ich glaube, Rosa hat recht«, murmelte er schließlich.

»Womit?«

»Es ist komisch, uns immer noch zu siezen, obwohl wir fast Tag und Nacht im selben Büro hocken.«

»Wo sie recht hat, hat sie recht«, nickte Jonas. Er streckte Rohner seine leere Plastikflasche entgegen und prostete ihm zu: »Ich bin der Jonas.«

»Niklaus.«

»Also Niklaus, wie kommt es, dass ein waschechter Appenzeller sein Leben ausgerechnet in Basel verbringt?«

»Das – hat sich so ergeben. Ist nicht weiter interessant. Erzähl mir lieber, was Helbling dir an den Kopf geworfen hat.«

Jonas berichtete lachend über die dreisten Flunkereien, mit denen er seine und die Ehre seiner Abteilung einigermaßen gerettet hatte. Die Mittagspause wurde lang und länger. Am Ende wusste Niklaus alles Wichtige aus seinem Leben, dass er früh seine Eltern verloren hatte, bei der strengen Tante in Gossau aufgewachsen war und immer noch keine feste Freundin hatte, mehr noch: Keine suchte. Was erfuhr er über Niklaus? Nichts, was er nicht schon wusste, aber das war nichts Neues. Asymmetrische Beziehungen waren die Norm in seinem Leben. Nicht diese Tatsache hielt ihn in dieser Nacht lange wach in seiner Dachkammer. Auch nicht der anfänglich verletzende Ton Helblings in seinem Büro. Was ihn nicht einschlafen ließ, war die ernsthaft geäußerte Frage des Professors, ob denn die bisher gesammelten Daten der ›BSX10‹-Testreihe nicht ausreichten oder mit etwas gutem Willen geeignet interpretiert werden könnten, um nicht wertvolle drei Monate zu verlieren. Es war eine ziemlich unverblümte Aufforderung zum Betrug. Der erste Riss im Bernoullischen Druckbehälter.

Er verdrängte die Episode bald. Der ordentliche Abschluss der Testreihe und die Vorbereitung der nächsten Phase nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. ›BSX10‹ versprach ein Blockbuster zu werden, der erste Cholesterinsenker, den es in optimalen Varianten für jeden erdenklichen Genotypen geben würde. Noch war der Weg lang bis zur Zulassung, aber ›Bernoulli‹ hatte die Nase deutlich vorn in diesem Rennen. Das war mindestens so wichtig wie die Zulassung selbst. Die Arbeit in der Abteilung lief reibungslos. Der Lehrling leistete sich nicht mehr den geringsten Fehler, las ihm jeden Wunsch von den Augen ab, als hinge sein Leben daran, und Niklaus unterhielt ihn wie früher mit seinen träfen Sprüchen.

Nur einmal griff der alte Hase gründlich daneben. Als Kenner Helblings fiel Niklaus die ehrenvolle Aufgabe zu, ein passendes Geschenk zum Sechzigsten des Professors auszusuchen. Am Geld würde es nicht liegen. Die Firma organisierte eine kleine Feier, wie das Rundschreiben die Veranstaltung nannte, bei der sich alles was Beine hatte im Hause ›Bernoulli‹ im großen Auditorium versammelte. Zwei Vertreter des Stadtrats, ältere Semester des ›Daigs‹ wie Helbling, gaben sich die Ehre und das Streichquartett der ›Camerata‹ sorgte mit Gabrieli und Vivaldi für angemessene Stimmung. Dann die feierliche Übergabe: eine sorgfältig edierte antiquarische Erstausgabe des Gesamtwerks von Wilhelm Busch. Helbling nahm das kostbare Geschenk mit säuerlicher Miene entgegen, gab es seiner Vorzimmerdame, die es zu den andern unnützen Dingen auf dem Gabentisch legte, und schickte sich an, eine seiner Basler Episoden zum Besten zu geben.

»Ho, jo wälewäg«, sang Niklaus Jonas kurz darauf ins Ohr. »Dabei war der Herausgeber des Schinkens doch auch ein berühmter Basler. Oder kennt er vielleicht Wilhelm Busch nicht?«

»Ich glaube, Helbling verträgt keinen fremden Humor«, vermutete Jonas ohne jede Ironie.

Die Vorbereitung der klinischen Tests erwies sich komplexer als er angenommen hatte. Es galt, nicht nur die an sich schon anspruchsvollen Schweizer Gesundheitsbehörden zu befriedigen. EU-kompatibel musste jedes Dokument und jeder Handgriff sein. Was sich die Bürokraten in Brüssel an finsteren Winterabenden ausgedacht hatten, ging weit über die Hürden der amerikanischen FDA hinaus, die er bei seiner Arbeit in Boston fürchten gelernt hatte. Was lag näher, als das Bernoullischen Archiv zu durchforsten, um von der reichen Erfahrung früherer erfolgreicher Zulassungsverfahren zu lernen? Nächtelang studierte er Planungsunterlagen, Berichte und Anträge der letzten großen Einführung, die Helbling noch persönlich geleitet hatte. Die Ordner und Kisten mit den Messdaten, chemischen Analysen und statistischen Erhebungen füllten allein ein ganzes Regal im muffigen Keller. Oft zog sich Jonas in dieses Verlies zurück, um ungestört zu studieren. Er wollte verstehen, wie Helbling die Sache angepackt hatte, warum so und nicht anders, bevor er sich mit naiven Fragen blamierte. Zum dritten Mal nahm er sich den Ordner ›RCT-0319‹ vor, der die Dokumente der letztlich für die Zulassung ausschlaggebenden ›randomisierten kontrollierten Studie‹ enthielt. Das neue Medikament und ein Placebo ohne Wirkstoffe wurden nach dem Zufallsprinzip an 1‘800 Patienten erprobt, mit einem Ergebnis, das die Behörden offensichtlich überzeugt hatte. Im Gegensatz zu Jonas. Er übersah es beinahe, weil er nicht danach suchte, aber sein ausgezeichnetes Zahlengedächtnis ließ nicht locker. Zum dritten Mal verglich er die Einzelbelege der Patientenbefunde mit der statistischen Auswertung, und zum dritten Mal kam er zum selben Ergebnis. Die Zusammenfassung behauptete, die erfreuliche Wirksamkeit des Medikaments wäre aus 1‘800 Befunden ermittelt worden. Im Ordner ›RCT-0319‹ befanden sich aber nur 1‘300 Belege, die zu diesem guten Ergebnis führten. Ein Versehen bei der Archivierung, dachte er zuerst. Bis er die restlichen fünfhundert Befunde in einer andern Schachtel entdeckte. Einmal mehr blätterte er sie gewissenhaft und mit zunehmendem Unbehagen durch. Es gab keinen Zweifel: Es war kein einziger positiver Befund dabei. Helblings Studie war getürkt, und zwar so drastisch, dass dieses Medikament niemals zugelassen worden wäre, hätte man alle 1‘800 Befunde berücksichtigt.

 

Ein viertes Mal brauchte er nicht nachzuzählen. Sicherer als sicher ging nicht. Die alles entscheidende Studie erwies sich schlicht als Betrug. Helbling hatte die Statistik zugunsten der Familie frisiert, indem er eine Menge unangenehmer Daten einfach nicht berücksichtigte. Wahrscheinlich nicht er selbst, aber die Unterschrift auf den Dokumenten stammte von ihm. Jonas nahm sich eine unruhige Nacht und einen langen Spaziergang am Rheinufer im Morgengrauen Zeit, bevor er sich entschloss, den Professor mit seiner Entdeckung zu konfrontieren. Er musste es tun, sonst würde er zum schuldigen Mitwisser.

Wie erwartet, erinnerte Helbling sich erst nicht an eine Studie mit der Bezeichnung ›RCT-0319‹.

»0319 – das muss schon Jahre her sein«, lächelte er. »Was ist damit?«

Das überlegene Lächeln erstarb, als er seine Unterschrift auf der Zusammenfassung sah. »Warum interessiert Sie das?«, fragte er ungeduldig.

»Ich wollte diese Dokumentation als Muster für ›BSX10‹ benutzen, aber die Studie ist falsch.«

Jonas benutzte absichtlich nicht das Wort gefälscht, das Helbling als direkten Vorwurf empfinden müsste. Diese Nuance hätte er sich sparen können. Helbling fuhr aus seinem Sitz wie der Basilisk aus seinem Loch am Gerberbrunnen.

»Was erlauben Sie sich!«, fauchte er wütend.

»Entschuldigung, ich mache niemandem Vorwürfe. Ich stelle nur eine Tatsache fest.«

Helbling kam noch mehr in Fahrt. »Es geht Sie einen feuchten Kehricht an, was in dieser alten Studie steht, Herr Dr. Herzog. Machen Sie einfach Ihre Arbeit und lassen Sie mich mit diesen wilden Behauptungen in Ruhe. Falsche Studie – dass ich nicht lache. Dieses Medikament ist schon seit sechs Jahren auf dem Markt.«

Nicht der ausfallende Ton Helblings verletzte Jonas zutiefst, sondern die Tatsache, dass er gerade zugegeben hatte, sich genau an den Schwindel zu erinnern. Der Professor erkannte seinen kapitalen Fehltritt nur wenige Augenblicke später. Langsam sank er auf den Stuhl zurück, musterte seine gespreizten Finger auf der Tischplatte eingehend, dann warnte er mit bebender Stimme:

»Erinnern Sie sich an unser erstes Gespräch? Wir bei ›Bernoulli‹ sind eine große Familie.«

»Aber …«, unterbrach Jonas, doch Helbling sprach unbeirrt weiter:

»Wir halten zusammen. Es ist ein großes Privileg, für ›Bernoulli‹ zu arbeiten. Mir scheint, Sie legen keinen Wert auf weiteren Familienanschluss. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

Der zweite Riss im Druckbehälter. Kein Haarriss wie der erste. Dieser Riss war kaum mehr zu kitten.

»Sie können mich nicht rauswerfen, weil ich …«

»Oh doch, ich kann, glauben Sie mir. Aber wer spricht denn von Rausschmiss? Sie verlassen uns freiwillig, aus familiären Gründen zum Beispiel, kassieren eine fette Abfindung, und wir vergessen die ganze Geschichte.« Helbling hatte sein überlegenes Gleichgewicht wiedergefunden. Freundlich lächelnd fügte er hinzu: »Sie streben doch auch kein Verfahren wegen Verschwendung von Forschungsgeldern an, oder irre ich mich?«

Unkittbar, definitiv.

Jonas fasste den Entschluss noch, bevor die Tür zu Helblings Büro hinter ihm zufiel.

»Potz Heidenblitz«, war die vorhersehbare erste Reaktion seines Freundes Niklaus, als er von der Geschichte erfuhr.

Sie saßen im Garten des ›Löwenzorn‹. Um sie herum breitete sich eine Zone bedrückten Schweigens aus, in die das fröhliche Geschnatter der übrigen Gäste und das Klappern des Geschirrs nur gedämpft eindrangen. Selbst die Spatzen machten einen Bogen um ihren Tisch, um sie nicht zu stören in ihrer stillen Trübsal. Lange schwiegen sie sich an, bis Niklaus nach Luft schnappte und nochmals seufzte:

»Potz Heidenblitz, Jonas.« Langsam schüttelte er den Kopf, als hinge eine schwere Senntumschelle an seinem Hals. »Warum musstest du dem Alten auch unbedingt seine Fehler unter die Nase reiben?«

»Also hör mal …«

»Ich weiß, das Gewissen. Verstehe ich ja, trotzdem …«

»Ist eh zu spät. Sinnlos, sich darüber zu ärgern.«

Ihre Gläser waren noch nicht leer. Dennoch winkte Niklaus die Bedienung herbei. »Noch zwei Stangen«, murmelte er gedankenverloren.

»Tut mir leid für meine Leute«, sinnierte Jonas. »Wir hatten eine tolle Zeit.«

»Hört sich an, als wären wir zusammen in Urlaub gefahren.«

»Vielleicht sollten wir das tun. Scheiße.« Jonas horchte eine Weile in sich hinein, dann lachte er unvermittelt auf und sagte: »Ich bin schon ein ausgemachter Trottel, was?«

Die Knopfaugen musterten ihn fast mitleidig. »Du bist jung«, stellte Niklaus fest, als erklärte das alles. Er leerte das halbe Bier in einem langen Zug, brach ein Stück des angebissenen Grissini ab und streute die Brösel auf den Boden, um doch noch einen Spatz anzulocken. »Was wird jetzt aus dir?«, wollte er wissen, ganz der besorgte Vater.

Jonas zuckte nur die Achseln. An seine Zukunft hatte er noch nicht gedacht. Wie auch, solange er mit der Gegenwart nicht fertig wurde.

»Du könntest es machen wie Hauser.«

»Hauser? Ach, mein unseliger Vorgänger.«

»Unselig ist er wohl nicht. Er scheint sich gut eingerichtet zu haben in Freiburg.«

Jonas rümpfte die Nase. »Freiburg.«

»Freiburg im Breisgau meine ich. Schöne Altstadt, nette Leute, gute günstige Beizen. Hab den Hauser schon ein paar Mal besucht. Ist ja nur ein Katzensprung von Basel.«

»Deutschland – gutes Bier – warum nicht.«

»Sag ich doch. Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen, falls du das willst.«

Jonas schüttelte lächelnd den Kopf. »Danke, aber lass mal. Ich glaube, durch das Feindbild Helbling verbindet uns genug. Du kannst mir ja Hausers Koordinaten geben.«

Kapitel 2

Freiburg

Hauser war ein gealterter Dandy, das genaue Gegenteil dessen, was sich Jonas unter seinem Vorgänger vorgestellt hatte.

»Unsere Farm ist eine Generika-Klitsche, kein Elfenbeinturm für verwöhnte Grundlagenforscher«, stellte er gleich am Anfang klar.

Mit Farm meinte er wohl seine Firma ›BWpharm AG‹. Jonas ließ sich nicht abschrecken. Immerhin hielt es Hauser als früherer ›Bernoulli‹-Forscher schon fast drei Jahre beim Freiburger Generika-Produzenten aus. Mehr als das: Er war verantwortlich für die gesamte Entwicklung.

Die Rechte eingehakt im faltenlosen Gilet wie Napoleon auf Davids berühmtem Bild, wartete Hauser auf seine Reaktion.

»Der kleine Unterschied ist mir durchaus bewusst«, antwortete Jonas und hielt sich für besonders witzig.

Hauser musterte ihn skeptisch, bis sich sein Mund plötzlich zu einem spöttischen Grinsen verzog. »Nun ist unser Freund Helbling also wieder am gleichen Punkt angelangt«, freute er sich. »Am Ende muss der Ärmste wieder selber arbeiten. Nun – für die Basler Kunstszene wäre es ein echter Gewinn, wenn er ihr fernbliebe. Er versteht von zeitgenössischer Kunst etwa soviel wie ich von Fußball, nämlich gar nichts.«

Ein bitterer Unterton störte seine Ironie. Der Wegzug aus Basel schien Hauser doch mehr zugesetzt zu haben, als Jonas anfangs dachte. Er selbst verspürte keine Lust, weiter über die Vergangenheit zu reden und schwieg.

»Ich kann Sie also nicht davon abhalten, hier anzuheuern«, stellte Hauser nach einer Kunstpause fest.

»Ist das ein Problem?«

»Für mich nicht, überhaupt nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch, Dr. Herzog. Sie sind hochqualifiziert. Ach was, reden wir nicht um den heißen Brei herum. Sie sind überqualifiziert für diesen Job. Ich will nur verhindern, dass Sie Ihren Entschluss bald wieder bereuen. Das ist alles.«

Es war ein beruflicher Abstieg, ein Karriereknick, wie er im Buche stand. Das brauchte er nicht auszusprechen. Beide wussten es.

»Ich wäre nicht hier, wenn mich die Arbeit nicht interessieren würde«, versicherte Jonas und meinte es genau so.

»Sicher«, murmelte Hauser mit einem Blick auf die Uhr. »Über die Arbeit unterhalten wir uns später eingehend. Der Patron erwartet uns jetzt.«

Dr. Hubertus von Holzbrinck hieß der Patron. Er war der Gründer und Hauptaktionär der ›BWpharm‹. Die Firma hatte früher Kosmetika hergestellt, dann aber auf den lukrativen Markt der Arzneimittelkopien umgestellt. Der alte Holzbrinck machte nicht den Eindruck eines gemütlichen Opas, den Jonas mit der Bezeichnung Patron verband. Vor ihm stand ein strammer, asketischer Offizier in straffem Zivil, dessen Händedruck schmerzte. Die strenge Erziehung zu Disziplin und protestantischem Fleiß stand ihm ins Gesicht geschrieben. Dazu passten die stahlblauen Augen und der schlecht verheilte Schmiss auf der Wange. Der einzige offensichtliche menschliche Makel an ihm war die Liebe zu seiner Pfeife, die er entweder ständig in der Linken oder im Mundwinkel hielt. Während der kurzen Besprechung ließ er keinen Zweifel daran: Hubertus von Holzbrinck war die Firma. Daran würde der Plan auch nichts ändern, in Kürze auf sein Weingut in Italien überzusiedeln.

Sympathisch, dachte Jonas. Je weiter von diesem Zuchtmeister entfernt, desto besser.

»Der Lars ist ein sehr zuverlässiger Statthalter«, bemerkte Holzbrinck zu Hauser, der folgsam nickte.

»Steigbügelhalter«, verstand Jonas zuerst. Keiner der Herren hielt es für angezeigt, ihm zu erläutern, wer dieser patente Lars war. Zurück in Hausers Büro, stellte er die Frage.

»Lars Brüderle, pardon, Dr. Lars Brüderle«, antwortete Hauser. »Unser CEO.« Sein abschätziger Ton verriet, dass er nicht sonderlich viel von seinem Chef hielt.

Jonas wusste nicht, warum, aber er fand auch das ganz sympathisch. Hauser war wenigstens ehrlich. »Man hat’s nicht immer leicht mit seinen Chefs«, meinte er lächelnd.

Es klopfte. Ein Mann etwa in Jonas’ Alter kam herein.

»Sind wir soweit?«, rief er begeistert.

Der Mann war haargenau Hausers jüngere Kopie, sah man ab von der fast nachlässigen Freizeitkleidung und dem breiten Grinsen in seinem Gesicht.

»Mein Sohn Patrick«, erklärte Hauser. »Biologe wie der Vater. Er steht Ihnen für alle fachlichen Themen zur Verfügung.«

Patrick gab ihm die Hand und meinte lachend: »Das war allerdings mein Text.«

Hausers Sohn sorgte wie ein Katalysator bei einer chemischen Reaktion dafür, dass Jonas in kürzester Zeit einen guten Draht zu den Strippenziehern in Holzbrincks ›Farm‹ fand. Vielleicht lag es ein wenig am Exotenbonus des schweigsamen Schweizer Singles mit der manchmal etwas holprigen Aussprache. Es gelang ihm jedenfalls, auch den CEO zu überzeugen, eine vielversprechende neue Produktionsmethode ernsthaft zu prüfen. Mit einem Schlag wurde aus dem langweiligen Job des Arzneimittelkopierers ein spannender Forschungsauftrag. Ein Generikum musste nach dem Gesetz dem kopierten Originalmedikament therapeutisch äquivalent sein, die gleichen Indikationen abdecken und es musste die gleichen Wirkstoffe enthalten. Über das Herstellungsverfahren gab es keine Vorschriften, ebenso wenig über Hilfsstoffe, die meist als Verunreinigungen nie ganz eliminiert werden können. ›BWpharm‹ hatte die Medikamente bisher fast ausschließlich chemisch erzeugt, die klassische Methode. Man imitierte den Herstellungsprozess des Originalpräparats eins zu eins. Das führte zwar sicher zum erwünschten Ergebnis, war aber genauso aufwendig und teuer wie die ursprüngliche Herstellung. Was dies bedeutete, war auch den Mitarbeitern klar, die keinen Leistungskurs in Betriebswirtschaft besucht hatten: geringe Margen. Lars Brüderles Verkaufsarmee war bestens darauf trainiert, geringe Margen durch Absatzvolumen wettzumachen, indem sie mehr oder weniger offen Ärzte und Apotheken durch Exklusivverträge gängelte – gegen angemessene Entschädigung. Aber zaubern konnten auch die Verkäufer nicht. Als Jonas sah, welchen Hauptwirkstoff das aktuelle Medikament ›XORACIN‹ zur Stärkung des Kreislaufs enthielt, kramte er die alten Unterlagen aus Boston hervor. Er hatte sich nicht getäuscht. Genau denselben Wirkstoff erzeugten genetisch veränderte E. coli Bakterien zehnmal effizienter als die Chemiker und mit minimalem Energieaufwand. Der Prozess dauerte nur unwesentlich länger, war also durchaus praxistauglich. Aus unerfindlichen Gründen versank diese spektakuläre Erkenntnis damals in den bodenlosen Archiven der Harvard Medical School. Das war seine Chance, frischen Wind in Holzbrincks ›Farm‹ zu pusten. Verblüfft verfolgten seine Mitarbeiter, wie der schweigsame Schweizer über Nacht echtes Charisma entwickelte. Seine Begeisterung steckte sogar die Chemikerin Isabella an, die jeder Hetero begehrte und keiner bekam, obwohl er im Grunde ihren Job gefährdete mit diesem Plan.

 

»Daran dürfte sogar unser CEO seine Freude haben«, murmelte Jonas eines Abends zufrieden, als er mit seinen Leuten die Auswertung der ersten Testreihe sichtete.

Patrick lachte spöttisch. »Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Warum?«

»Der gute Lars ist Anwalt und Betriebswirt, kein Kopfarbeiter wie wir, schon vergessen? Erst höhere Ertragszahlen werden ihn erfreuen, nehme ich an. Sicher weiß man’s nicht. Hier im Haus hat ihn nämlich noch keiner lachen sehen.«

»Nicht alle Anwälte sind Dummköpfe«, widersprach Jonas, während er den Produktivitätsanstieg seiner Kolibakterien über die letzten zwei Wochen bewunderte.

»Alle wahrscheinlich nicht«, grinste Patrick. »Lars ist zum Beispiel durchaus fähig, die größere von zwei Zahlen zu erkennen.«

»Wo du so wenig von deinem Chef hältst, frage ich mich, wie er unser CEO werden konnte.«

»Ganz einfach: gleiche Burschenschaft wie Holzbrinck und Heirat mit seiner Tochter.«

»Genug jetzt, Boys«, rief die schöne Isabella. »Lassen wir die Zwerge weiterschuften. Es ist schönes Wetter und Freitagabend, schon vergessen?«

Der Freitagabend im Biergarten oder im alten Brauhaus des ›Feierling‹ gehörte zu den angenehmeren Gepflogenheiten der Entwicklungsabteilung. Unter den alten Kastanienbäumen dieser Brauerei erfuhr Jonas in kurzer Zeit mehr über die Interna der ›BWpharm‹ als durch sorgfältiges Aktenstudium in seinen einsamen Nächten. Überdies lag das ›Feierling‹ bequem am Weg zu seiner Wohnung in der Gerberau. An diesem Abend hatte er allen Grund, mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Die Arbeit lief hervorragend. Er hatte neue Freunde gefunden, wenn auch von ganz anderer Art als Niklaus, dessen tiefgründigen Humor er gelegentlich vermisste. Patrick war ein feiner Kerl. Offen, ehrlich, aber auch oberflächlich, dass es manchmal schmerzte.

Jonas spürte einen leichten Stoß an der Schulter.

»Dort drüben«, flüsterte Patrick und grinste dabei bis über beide Ohren.

Verwundert blickte er in die Richtung von Patricks spitzer Nase. Die schöne Isabella begrüßte gerade eine unbekannte Rothaarige mit Beinen bis zum Hals. Die beiden küssten sich auf den Mund. Sie saugten sich aneinander fest, eng umschlungen, als wollten sie auf der Stelle in einem atomaren Blitz verschmelzen wie zwei aggressive Wasserstoffkerne zu edlem Helium.

»Potz Heidenblitz«, imitierte Jonas seinen alten Freund. »Darum also …«

Patrick freute sich königlich. »Hat sie dich auch abblitzen lassen?«

»Nein, um Gottes willen. Ich hab’s nicht versucht. Ich wunderte mich nur, warum sie noch Single ist.«

»Mit diesem Gestell, meinst du.«

»So ungefähr. Dass du es versucht hast, überrascht mich hingegen nicht im Geringsten.«

Patrick trank nachdenklich sein Bier aus. »So eine Verschwendung«, brummte er ärgerlich. »Gott, bin ich spitz.«

»Dann solltest du etwas dagegen tun, aber lass mich aus dem Spiel.«

»Ich versuche schon die ganze Zeit, meine Libido zu ersäufen, aber es geht nicht, wenn man so etwas live mit ansehen muss.«

»Musst du nicht.«

»Du hast gut reden.« Patrick deutete mit zwei gespreizten Fingern auf seine Augen. »Die machen das automatisch, ob ich will oder nicht. Die Augen sind schuld. Die müssen jedem Weiberarsch nachgucken – siehst du?«

Sein Kopf drehte sich in die Richtung eines Tisches, an dem sich vier noch viel zu junge Mädchen aufgeregt schnatternd niederließen.

»Tragisch«, gab Jonas zu.

Patricks Argumentation und Artikulation deuteten darauf hin, dass er allmählich genug Bier im Blut hatte, und Jonas sagte es ihm.

»Ganz richtig«, pflichtete der entschieden bei. »Ich brauch was Stärkeres.«

Wenige Augenblicke später standen zwei Klare neben den Biergläsern. Oder genauer: ein Williams und ein leeres Schnapsglas. Es sollte nicht der einzige hochprozentige Drink bleiben, den Patrick an diesem lauen Sommerabend in sich hineinschüttete, um seine Libido zu betäuben. Obwohl Jonas es besser wusste, wehrte er sich nicht sonderlich gegen die melancholisch lockere Stimmung, die ihn sanft dazu verführte, eins oder zwei über den Durst zu trinken. Es war Wochenende, und zu Hause wartete ohnehin niemand auf ihn. Patricks eigenmächtige Augen verfolgten Isabella und ihre Freundin noch lange, nachdem sie nicht mehr zu sehen waren.

»Kannst du noch fahren?«, fragte er unvermittelt, ohne die Augen zurückzuholen.

»Hab’s mal gelernt, warum?«

»Ich bin zu besoffen.«

»Das ist kaum zu übersehen.«

Patrick stand auf, blätterte ein paar Geldscheine auf den Tisch, die reichten, um die Getränke zu bezahlen und die nächste Miete der Bedienung.

»Los komm, wir müssen was unternehmen. Bist eingeladen, aber du fährst.«

»Wohin?«, fragte Jonas verblüfft.

»Wirst schon sehen.«

Irgendwo im Südschwarzwald

Jonas trat abrupt auf die Bremse. Das Dorf, das Patrick erwähnt hatte, lag hinter ihnen. Weiter auf der Straße, die in den Wald führt, lautete die Instruktion. Doppelt unbrauchbar. Erstens sah das, was er im Licht des blassen Mondes vor der Frontscheibe erblickte, nicht wie eine Straße aus. Bestenfalls ein Feldweg war es, der sich weiter vorn gabelte. Beide Wege führten in den Wald.

»Welchen nehmen wir?«, fragte er, als er nichts von Patrick hörte.

Der schlief tief.

Jonas rüttelte ihn wach und fragte lauter: »Welchen?«

Patrick fuhr hoch. »Die Rote«, krächzte er.

»Ich meine: Wohin fahren wir?«

»Zum ›Forstschlösschen‹.«

»Hört sich nach Wald an.«

»Steht auch im Wald. Wo sind wir?«

»Am Waldrand.«

»Dann fahr hinein, Mensch.«

Sie hätten das Spiel noch lange weitertreiben können, doch Jonas wollte endlich wissen, was sich im geheimnisvollen ›Forstschlösschen‹ abspielte. Sie hatten einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt für eine illegale Pokerrunde oder Schnapsbrennerei.

»Wie du siehst, führen beide Wege in diesen verfluchten Wald«, klärte er Patrick auf. »Also, nehmen wir den linken oder den rechten Weg?«

Fehlte nur noch, dass er jetzt mit einem logisch korrekten Ja antwortete, dachte Jonas gereizt. Scheinwerfer blendeten im Rückspiegel. Ein weißer Sportwagen brauste an ihnen vorbei mit einer Geschwindigkeit, für die dieses Sträßchen bei Gott nicht gemacht war. Staub und Dreck wirbelten auf, als zwei Räder durch den Straßengraben pflügten. Im nächsten Augenblick verschluckte der schwarze Wald den späten Gast und die quälende Ruhe kehrte zurück.

»Ihm nach!«, befahl Patrick im Brustton der Überzeugung.

»War das einer deiner ›Forstschlösschen‹-Verschwörer?«

»Sonst gibt’s ja nichts in diesem Wald.«

»Das fürchte ich auch«, brummte Jonas und drehte den Zündschlüssel.

Fünf lange Minuten fuhren sie vorsichtig an finster blickenden Tannen vorbei. Die eine oder andere Eiche oder Buche mochte auch dabei sein, so genau wollte er es nicht wissen.

»Halt, wir sind da«, rief Patrick plötzlich mitten im Wald.

Weit und breit war kein Haus zu sehen. Nur ein unscheinbarer Pfad führte rechts ins Gebüsch hinein. Kein Wegweiser, nichts deutete auf das geheimnisvolle Schlösschen hin.

»Ein wenig spät, um Pilze zu sammeln, findest du nicht?«, knurrte Jonas.

»Mach schon.«

Patrick saß jetzt hellwach und kerzengerade in seinem Sitz. Ruckartig schoss sein Kopf in die Höhe wie beim Erpel nach der Balz. Der versteckte Pfad erwies sich als komfortabel geteerte Zufahrt zu einer Lichtung, die von der Waldstraße her nicht zu sehen war. Ein behäbiges Schwarzwälder Forsthaus mit ausladendem Walmdach und üppig bepflanzten Holzbalkonen stand mitten in einer Blumenwiese, wo mannshohe Königskerzen sogar im fahlen Mondlicht wie gelbe Fackeln leuchteten. Auf dem großzügigen Parkplatz neben dem Haus bemerkte Jonas als Erstes den weißen Sportwagen.