Im Westen geht die Sonne unter

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»O – K – schießen Sie los.«, antwortete die Schokolade gedehnt.

»Das geht schlecht am Telefon, meine ich. Ich bin sowieso in den nächsten Tagen in England. Wäre es möglich, dass wir uns an der Universität treffen?«

»Wenn das so ist. Ich bin montags bis freitags immer hier.«

Der Termin war schnell fixiert. Egal, was Bob oder ihr SSO oder M55 davon hielten, dieses Interview musste vor Ort durchgeführt werden. Eine solche Stimme musste sie auf jeden Fall sehen. Der Flug über den großen Teich gab ihr Gelegenheit, das verstaubte Kompendium über ›Corporate Finance‹ nochmals durchzublättern. Sie würde dann nicht gar so nackt vor dem Mann stehen. Obwohl – bei der Stimme?

Universität Bristol, UK

Ryan hatte es eilig. Ohne die Wohnungstür abzuschließen, rannte er die Treppe hinunter, zum Haus hinaus und wollte sich aus dem Staub machen. Mr. Meriwether gefiel das gar nicht. Er stoppte Ryan mit einem ergreifenden Klagelied, das selbst Steine erweichen würde, sollte es länger dauern.

»Ich weiß – ach Mist. Tut mir leid«, murmelte Ryan zerstreut. Er kraulte den Kater kurz unter dem Kinn, wo er es am liebsten mochte. Nach wenigen Sätzen stand er wieder in der Küche, goss Milch in Mr. Meriwethers Teller und sauste zum zweiten Mal die Treppe hinunter. Als er den Teller unter das Vordach stellte, war die Hälfte der Milch verschwunden. Der Kater rümpfte zwar die Nase ob der mageren Mahlzeit, aber er ließ ihn ohne weiteren Protest ziehen.

Seit er am Morgen die Augen aufgeschlagen hatte, und vielleicht schon vorher, kreisten Ryans Gedanken um das Treffen mit der Journalistin. Es war sein erstes echtes Interview. Noch nie hatte sich jemand außerhalb des akademischen Zirkels von Strebern für seine Arbeit interessiert. Wie sollte er einem Laien in verständlichen Worten erklären, wie sein Modell funktionierte? Was bildete sich die Frau ein? Am meisten fürchtete er das Mikrophon. Wenn sie ein Aufnahmegerät vor ihn hinstellte, setzte sein Verstand aus, das wusste er aus Erfahrung. Schon die Rollenspiele in der Schule in Weymouth hatten stets in einer Katastrophe geendet. Er hätte niemals zusagen sollen. Dieses Interview machte einfach keinen Sinn. Warum konnten die Leute nicht einfach seine Arbeit lesen? Da stand alles klipp und klar drin. Mehr gab es nicht zu sagen. Diese Begegnung lag ihm wie ein Teller fetttriefende Fish and Chips im Magen.

Alle Selbstzerfleischung half nichts. Pünktlich um zehn rief ihn die Zentrale an: »Dein Interview ist da.«

»Ich komme«, antwortete er tonlos.

Als erstes fiel ihm auf, dass sie scheinbar ebenso nervös, fast unsicher wirkte wie er. Dann sah er ihre bis über die Schulter fallende kastanienbraune Haarpracht, die neugierigen schwarzen Augen, den weichen Mund und das kleine Näschen. Vor ihm stand nicht der abgebrühte Pressedrache, der seine Opfer gnadenlos zerzauste, wie er erwartet hatte. Jedenfalls sah sie nicht danach aus. Bis sie seine Hand wieder losließ, fühlte er sich schon beinahe entspannt.

»Ryan«, korrigierte er sie. »Einfach Ryan Cole. Bis zum Doktor dauert’s noch ein paar Monate.«

»Ach so, dann ist der Artikel Teil Ihrer Doktorarbeit?«

»Genau genommen ist er die Dissertation«, lachte er. »Der Rest der Arbeit besteht nur noch aus akademischer Staffage und Querverweisen.« Er redete mit ihr wie mit einem normalen Menschen, stellte er erstaunt fest. Sie standen noch immer in der Eingangshalle. Da er keine Anstalten machte, sich zu bewegen, schaute sie ihn mit großen, fragenden Augen an. Das wirkte. »Ach – entschuldigen Sie«, sagte er verlegen. »Gehen wir in mein Büro.«

Sie folgte ihm einige Schritte, blieb plötzlich stehen und fragte beinahe scheu: »Ryan? Entschuldigung, gibt’s hier vielleicht einen Kaffee oder so etwas?«

»Sicher.« Er überlegte. Die saure Brühe seiner Kochnische durfte er ihr nicht anbieten. »Es gibt eine kleine Selbstbedienungs-Cafeteria im Institut. Ist das O. K.?«

»Wunderbar.«

Besser war der Kaffee nicht, nur weniger sauer, aber sie zuckte mit keiner Wimper. Nach einem winzigen Schluck setzte sie den Becher ab und sagte lächelnd:

»So spricht sich’s doch viel gemütlicher. Kleiner Reportertrick.«

»Bei mir hat er funktioniert«, grinste er. »Warnen Sie mich, wenn das Interview beginnt?«

»Es hat schon begonnen.«

Er stutzte. »Oh – ganz ohne Recorder? Oder sind Sie verkabelt?«

»Keine Angst«, lachte sie. »Ich merke mir einfach gut, was Sie sagen und werde hin und wieder Notizen machen, ganz klassisch. Ist das in Ordnung?«

»Hört sich brillant an.« Die Erleichterung war ihm sicher anzusehen.

Sie musterte ihn fast ein wenig spöttisch, wie ihm schien, bevor sie unvermittelt zur Sache kam und fragte:

»Sie sind also der Mann, der behauptet, die Zukunft vorhersagen zu können?«

Es klang wie eine Feststellung. In einem gewissen Sinne stimmte die Behauptung ja auch. Trotzdem wusste er im ersten Moment nicht, was er darauf antworten sollte. Ihre schwarzen Augen warteten, Er musste etwas Sinnvolles sagen. »Nun …«, begann er gedehnt, »das scheint mir eine allzu einfache Zusammenfassung zu sein. Abgesehen davon behaupte ich gar nichts, ich leite her und stelle fest. Mathematik, mehr ist das nicht.«

»Aber in der Zusammenfassung schreiben Sie, dass Ihr Modell die Goldblase vom Januar 2010 korrekt vorausberechnet hätte. Für den naiven Leser hört sich das an wie eine Prophezeiung. Im Nachhinein zwar, aber immerhin.«

Schon hatte die süße Maus ihn festgenagelt. Sie wollte ein klares Ja oder Nein auf eine einfache Frage, auf die es keine kurze Antwort gab. »Wo soll ich nur beginnen«, murmelte er ratlos.

»Ganz vorn. Stellen Sie sich vor, ich sei Ihre kleine Schwester, der sie in wenigen Sätzen erklären wollen, was Sie tun.«

Er schüttelte lachend den Kopf. »Geht nicht«, meinte er. »So viel Fantasie habe ich nicht.« Plötzlich kam ihm der rettende Gedanke. »Vielleicht sollte ich Ihnen einfach schildern, wie unser Modell Finanzblasen erkennt.«

Sie nickte stumm. Langsam und konzentriert, auf jedes Wort bedacht, erklärte er den Algorithmus Schritt für Schritt, mit dem seine Software das Börsengeschehen analysierte. Manchmal stockte er, musste einen Satz in anderen Worten, ohne Fachbegriffe, neu formulieren. Die Aufgabe war schwierig, aber mit der Zeit fiel es ihm leichter, selbstverständliche Begriffe wie ›nichtlineare Abhängigkeit‹, ›Randverteilung‹ und ›schiefe Pareto-Distribution‹ zu meiden. Das Mäuschen hörte zu und machte brav Notizen, sodass er am Ende überzeugt war, die allgemein verständliche Sprache gefunden zu haben, die sie erwartete.

»Ausgezeichnet«, sagte sie schließlich lächelnd. »Sehen Sie, Sie haben doch genügend Fantasie.«

»Und das, obwohl ich leider keine kleine Schwester habe.«

»Ich weiß.«

»Sie wissen?«

»Aber sicher. Ich muss wissen, wen ich vor mir habe, wenn ich jemanden interviewe. Berufskrankheit. «

»Na gut, ist ja nicht gerade ein Geheimnis, dass ich als verwöhntes Einzelkind aufgewachsen bin.«

»Verwöhnt ist mir neu«, schmunzelte sie. »Darf ich das notieren?« Scherzhaft zückte sie den Stift.

Sie saßen immer noch in der Cafeteria. Ab und zu tauchte ein Student oder eine Assistentin auf, streifte seinen auffallenden Besuch mit einem neugierigen Blick und widmete sich dann der spärlichen Auslage. Er nahm an, alles gesagt zu haben und schlug vor, ihr das Modell in Aktion zu zeigen. Schon wollte er sich erheben, als sie ihn mit einer weiteren Frage überraschte:

»Was mich noch interessiert: Welche Daten verwenden Sie?«

»Preisfeeds von Reuters und Börsen, Webpages, Twitter, das halbe Internet.«

»Was ich meine: kann Ihr Modell erkennen, wo eine Blase entsteht, wer sie sozusagen verursacht?«

»Nein«, antwortete er verblüfft. »Die Frage hat sich bis jetzt nicht gestellt. Allerdings …«

»Ja?«

Täuschte er sich, oder hing sie jetzt an seinen Lippen, als wäre dies die wichtigste aller Fragen? »Ein sehr interessanter Hinweis, den Sie mir da geben«, antwortete er zögernd. »Ich glaube, es sollte möglich sein, Aussagen in dieser Richtung zu machen, wenn man die geeigneten Daten hat.«

»Was heißt geeignet? Bankdaten zum Beispiel – SWIFT?«

Er starrte sie mit offenem Mund an. Es war, als stießen sie übergangslos von harmloser Unterhaltung in die Tiefen des Modells vor, die zu verstehen nur Spezialisten vorbehalten war. »Sie – ja – das wäre möglich«, stammelte er. »Was – warum interessiert Sie das?«

Sie schaute ihn nachdenklich an. »Ich glaube, wir sollten das doch besser in Ihrem Büro besprechen«, meinte sie.

Er hatte seinen Arbeitsplatz bis spät in die Nacht auf Hochglanz poliert. Was er darunter verstand: Hefte, Zeitschriften, Ordner weg vom Tisch, hinein in die Schränke, Deckel zu. Probleme gab es bei zwei Rollcontainern, deren volle Schubladen alles zurückwiesen, was er hineinstopfen wollte. Es blieb nichts anderes übrig, als endlich einmal auszumisten. Eine zeitraubende Angelegenheit. Verlorene Zeit aus seiner Sicht. Wenigstens hatte sich der Aufwand gelohnt. Seiner Besucherin schien die neue Ordnung zu gefallen. Eine Weile betrachtete sie stumm die Formelwand, die mittlerweile übersät war mit handschriftlichen Ergänzungen und Korrekturen.

»Ihr Modell?«, wisperte sie schließlich ergriffen, als stünde sie vor Raffaels monumentaler ›Schule von Athen‹.

»Sieht ziemlich chaotisch aus, nicht?«

Sie drehte sich zu ihm um und schüttelte langsam den Kopf. »Eindrücklich würde ich sagen. Ich werde wohl nie verstehen, wie so etwas in einem einzigen Kopf Platz hat.«

Er lachte laut auf. »Sie unterschätzen das menschliche Gehirn, Alex.« Beinahe verloren stand sie da, blickte ihn ratlos an, schien zu überlegen, wie es weitergehen sollte. »Sie erwähnten SWIFT«, erinnerte er sie.

 

»Richtig.« Sie zögerte, dann sprach sie langsam weiter, wie jemand, der sich jedes Wort sorgfältig aussucht. »Ich muss Ihnen etwas beichten. Ich war an einer ganz andern Story, als mir Ihr Artikel auffiel. Vor vier Jahren wurde ein verheerendes und bis heute nicht aufgeklärtes Attentat auf ein Bergwerk für Seltene Erden in Kalifornien verübt. Viele Leute verloren damals ihr Leben. Zur gleichen Zeit schoss der Preis von Neodym in die Höhe, und wie es aussieht, hätte ihr Modell genau diese Entwicklung vorausgesehen. Wenn man nun Rückschlüsse ziehen könnte auf die Leute, die auf diesem Preisanstieg spekuliert und von ihm profitiert haben – verstehen Sie?«

Er hatte sofort begriffen, worauf sie hinaus wollte, als sie die Mine erwähnte. »Sie sprechen von Mountain Pass«, stellte er fest.

»Sie erinnern sich?«, rief sie überrascht.

»Ein – Bekannter kam dort ums Leben, deshalb werde ich den Ort nicht so schnell vergessen.«

»Das tut mir leid.« Wieder zögerte sie, bevor sie leise fragte: »Was halten Sie von meiner Idee?«

»Die Idee kann ich nachvollziehen. Es gibt nur ein ganz entscheidendes Problem, fürchte ich.«

»Nämlich?«

»Die Daten, die wir zur Verfügung haben, sind anonym. Sie lassen keine Schlüsse auf die Akteure an den Finanzmärkten zu. Es sind reine Preisbewegungen. Und an die SWIFT-Meldungen kommen wir nicht. SWIFT ist ein geschlossenes Netzwerk, sicher wie Fort Knox.«

»Glauben Sie?« Das erste Mal seit sie sein Büro betreten hatten lächelte sie entspannt. »Ich glaube, ich kann diese Daten beschaffen.«

Er zuckte zusammen, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. »Das ist nicht Ihr Ernst«, stieß er aus.

»Ich habe gute Verbindungen.« Leiser Spott mischte sich in ihr Lächeln.

Er betrachtete ihre Visitenkarte, die er immer noch in der Hand hielt und murmelte kopfschüttelnd: »Alex, Alex, wer sind Sie wirklich?«

Sie ließ die Frage offen. Ihr Gesicht wurde ernst. »Die Vorstellung reizt Sie, nicht wahr?«, bemerkte sie.

Reizen war ein zu schwaches Wort. Hätte er tatsächlich derart detaillierte Daten wie SWIFT-Zahlungen mit ihren eindeutigen Sendern und Empfängern zur Verfügung, könnten die statistischen Auswertungen des Modells mit wenig Aufwand auf individuelle Datenquellen abgebildet werden. Nur eine technische Herausforderung, kein wirkliches Problem, aber eine ganz neue, zusätzliche Dimension von ungeheurer Sprengkraft. In Gedanken war er schon dabei, die SWIFT-Daten zu analysieren. »Am besten wären wohl Zahlungen vom Typ 202 und 103 geeignet«, murmelte er, mehr zu sich selbst. Er kannte nur die wichtigsten Meldungstypen, aber die Zahlungs- und Deckungsanweisungen gehörten dazu.

Ihre Antwort kam ohne Zögern. »MT202 und MT103 haben wir – ich meine – kann ich beschaffen.«

»Sie haben sicher schon den fertigen Projektplan in der Tasche«, grinste er. Plötzlich stutzte er. »Die Idee hört sich verlockend an, aber wäre so etwas überhaupt legal?«

»Für uns schon. Wir arbeiten nicht mit gestohlenen Daten, wenn Sie das meinen. Könnten Sie sich eine solche Zusammenarbeit vorstellen?« Bevor er Zeit hatte zu antworten, fügte sie schnell hinzu: »Es wäre der absolute Knüller, wenn dadurch die Hintergründe des Attentats von Mountain Pass aufgedeckt werden könnten.«

»Mountain Pass – gibt’s Neues?«, fragte eine bekannte Stimme. Jessie war unbemerkt durch die offene Tür ins Büro geschlüpft. »Oh Verzeihung, störe ich?«, entschuldigte sie sich, als sie die Unbekannte erblickte.

Ryan lachte verlegen. »Nein, natürlich nicht.« Er hatte nicht bemerkt, wie schnell die Zeit verging. Es war Mittag, und Jessie erschien wie vereinbart zum Lunch. Die zwei Frauen belauerten sich schweigend, unschlüssig, ob sie lächeln oder die Krallen wetzen sollten. »Äh – darf ich vorstellen: Jessie, meine Verlobte«, sagte er zu Alex. »Jessie, das ist Alex vom ›Wall Street Journal‹. Sie interessiert sich für mein Modell.«

Jessie gab Alex vorsichtig die Hand. Zu Ryan gewandt sagte sie: »Ich möchte wirklich nicht stören. Wenn du mit Alex zu tun hast …« Das Wort Alex hörte sich fettgedruckt an, wie wie eine Drohung.

»Nein, nein«, lächelte die Journalistin säuerlich, den Blick starr auf ihn gerichtet. »Ich meine, ich habe Ihre Zeit schon zu sehr in Anspruch genommen. Vielen Dank für das Interview, Ryan.« Sie verabschiedete sich eilig und war schon an der Tür, als sie ihm nochmals zulächelte. »Wir bleiben in Kontakt.« Dann ließ sie ihn allein mit Jessie.

»Wir bleiben in Kontakt«, äffte sie ärgerlich nach. »Was war das denn?«

»Das frage ich mich auch«, antwortete er in Gedanken versunken.

Hockenheim, Deutschland

Der Fahrer im rot-weißen 4-Liter Porsche 997 GT3 verfluchte den gelben Klon vor seiner Nase. Der Scheißkerl fuhr die Spitzkehre so ungeschickt an, dass er keine Möglichkeit hatte, ihn noch vorher zu überholen. Robert Bauer kannte den Hockenheimring wie seine Westentasche. Er fuhr die letzte Runde im Porsche Sports Cup. Noch nicht das Finale, aber die Punkte brauchte er. Der gelbe Trottel drohte ihm auf dem letzten Kilometer noch den Sieg zu vermiesen.

»Nicht mit mir, Bursche«, knurrte Robert zähneknirschend unter der Gesichtsmaske. Er hängte sich so dicht an den Vordermann, dass sein Wagen das Heck des gelben Porsche fast berührte. Kurz vor der scharfen Rechtskurve schaltete er in den ersten Gang. Der Gelbe fuhr weit außerhalb der Ideallinie in die Spitzkehre hinein. Seine Chance war gekommen. Kaum hatten sie den 50er Punkt hinter sich, touchierte er die rechte Hinterbacke des Gelben. Nur leicht, gerade kräftig genug, um ihn weiter nach links ausbrechen zu lassen. Sofort besetzte er die Lücke. Er drückte aufs Gas, schaltete schnell hinauf. Nach fünfzig Metern war der Gelbe Geschichte. Robert hatte freie Fahrt auf der Geraden vor der Tribüne. Wenn er jetzt keinen Fehler mehr machte, war ihm der Pokal sicher, einmal mehr. Grinsend holte er das Letzte aus seinen 480 PS heraus. Er erwischte das Knie vor der Mercedes-Tribüne gut. Noch einmal beschleunigte er auf Höchstgeschwindigkeit. Der Abstand zum Gelben war so komfortabel, dass er die letzten beiden Schikanen, die heimtückische Sachs-Kurve und die Südkurve vor der Zielgeraden, locker hinter sich brachte.

»Starke Vorstellung«, rief ihm der Mechaniker entgegen, als er an der Boxe den Motor abschaltete. Das Gesicht des Mannes, der ihn mit seinem kleinen Team schon seit einer Ewigkeit betreute, leuchtete vor Aufregung, als hätte er selbst am Steuer gesessen.

»Etwas anderes erwartet?«, lachte Robert und ließ sich umarmen. Das berauschende Hochgefühl, es wieder einmal allen gezeigt zu haben, stellte sich erst jetzt langsam ein. Es fühlte sich jedes Mal an wie die Sekunden vor dem Höhepunkt beim Liebesspiel, nur besser. Unschlagbar zu sein berauschte ihn auf der Rennbahn genauso wie im Handelsraum am Paradeplatz. Er war süchtig nach Sieg, das wusste er und jeder, der mit ihm zu tun hatte. Auch seine Sponsoren hatten das früh bemerkt. Kaum einer seiner Rennkollegen konnte auf eine so lange, stabile Beziehung zu seinen Geldgebern zurückblicken. Er war, verdammt noch mal, der Größte, und er hatte alles Recht der Welt dazu.

Der Mechaniker gab ihm sein Handy zurück mit der Bemerkung: »Hat schon dreimal angerufen.«

Ein kurzer Blick auf das Display elektrisierte ihn. Goldzahn. »Scheiße, warum sagst du mir das nicht früher?« Nicht gut möglich, das wusste er auch, aber irgendwie musste er seinem Ärger Luft machen. Goldzahn am Sonntagnachmittag bedeutete mit Sicherheit eine ganz kurze Nacht. Er zog sich in eine ruhige Ecke im Fahrerlager zurück und drückte die Rückruftaste.

»Mister Bauer, gut dass Sie mich zurückrufen«, sagte der Chinese in seinem überdeutlich artikulierten Englisch. Es erinnerte Robert jedes Mal an seinen Sitznachbarn im Gymnasium. Nicht gerade der Hellste, ganz im Gegensatz zu Goldzahn.

»Entschuldigen Sie, Mister Li, dass ich erst jetzt zurückrufe. Ich war auf der Rennstrecke.«

»Ah – haben gewonnen?«

»Wie üblich«, lachte Robert.

Li stimmte lauthals in sein Lachen ein. Auch er liebte den Sieg. »Gut – gut, gut«, kicherte er gedehnt.

»Nun, womit kann ich meinen besten Kunden glücklich machen?«

Das Kichern verstummte unerwartet schnell. Mit Grabesstimme, als bedrückte ihn eine schwere Last, antwortete Li: »Ah – ich habe ein Problem, Mr. Bauer.«

Er erschrak. Hatte seine Bank Mist gebaut? Das wäre unverzeihlich. Der Herrscher über ›Galaxy Boom Industries‹ war der Traumkunde jedes Bankers, aber seine Fehlertoleranz lag ziemlich genau bei null. Während er sich noch eine diplomatische Antwort überlegte, beruhigte ihn Li:

»Unser Konzern braucht dringend Ihre Unterstützung bei wichtigen Transaktionen.«

»Verstehe.« Die Erleichterung war ihm wohl anzuhören. Er wartete auf die Einzelheiten, doch Li sagte nur:

»Ich habe Ihnen alles Nötige in die Bank gefaxt.«

»Gut, gut. Ich werde mich gleich morgen früh darum kümmern.«

»Ah – das ist leider zu spät, Mr. Bauer. Die erste Transaktion muss bei Handelsbeginn abgeschlossen werden. Ist das möglich?«

»Selbstverständlich. Handelsbeginn …«

»Schanghai, ja.«

Wusste er es doch: eine kurze Nacht. Aber Sieger sollten sich nicht über Schlafmangel beklagen. »O. K., Mr. Li. Ich fahre gleich los. In drei Stunden bin ich in Zürich.«

»Ausgezeichnet, Mr. Bauer. Wir sprechen uns.« Damit war die Leitung tot.

»In drei Stunden nach Zürich an einem Sonntagabend?«, fragte sein Mechaniker, der ihn zum Pressetermin abholen wollte. Er grinste spöttisch. »Eher optimistisch, würde ich sagen. Was ist los?«

»Dringende Geschäfte. Ich muss los, sorry.«

Nicht das erste Mal überließ er seinem Team die Pressearbeit, aber die Siegerehrung musste er bisher noch nie ausfallen lassen. Schwamm drüber, sagte er sich. Gute Geschäfte winkten. Bisher war noch jede von Goldzahns Aktionen bares Gold wert. Eine Viertelstunde später brauste er auf der A6 Richtung Karlsruhe. Verschwitzt, aber bereit zu jeder Schandtat. Die paar Minuten bis zum Autobahnkreuz Walldorf hatte er Glück, aber auf der A5 verdichtete sich der Verkehr von Minute zu Minute, dass er am Schluss ebenso gut mit dem Fahrrad nach Basel hätte fahren können, statt in seinem schicken 6er Cabrio. Der notorische Stau gab ihm wenigstens genug Zeit zum Telefonieren. Einmal mehr versuchte er mit dem Knopf im Ohr, seine Händlerin zu erreichen.

»Nimm ab. Mach schon, verdammt«, fauchte er wütend, als er wieder nur den Summton hörte.

»Was soll ich machen?«

Charlottes Stimme hörte sich verschlafen an. »Endlich«, seufzte er. »Störe ich?«

»Robert, mein Lieber. Hast du eine Ahnung, was für ein Tag heute ist?«

»Hochzeitstag?«, blödelte er. Seine Lotte war ein ebenso eingefleischter Single wie er.

»Sonntag, lieber Chef. Heute ist Sonntag. Mein freier Tag, um genau zu sein. Also, was willst du? Mach es kurz, bitte. Ich bin müde.«

»Warum auch immer«, brummte er böse. »Hör zu. Goldzahn hat einen Auftrag gefaxt. Er braucht uns für eine Aktion gleich bei Handelsbeginn in Schanghai. Wäre nett, wenn du die Sache anschauen könntest. Ich bin unterwegs, werde aber noch drei, vier Stunden brauchen.«

»Schanghai. Ich bin begeistert. Was für eine Aktion soll das sein?«

»Keine Ahnung. Du weißt, er spricht nicht gern am Telefon über seine Geschäfte.«

»Sicher. Mal sehen, ob ich die Bank in meinem Zustand noch finde.« Sie unterstrich die Antwort mit lautem Gähnen.

»So besoffen kannst du gar nicht sein.«

»Ich dich auch«, stöhnte sie und legte auf.

»Ein Schätzchen, die Lotte«, murmelte er grinsend. Sie mochte manchmal eine ausgesprochene Kratzbürste sein, aber zuverlässig war sie, sieben Tage die Woche, rund um die Uhr. Die Stadt schlief schon, als er um Mitternacht vom Landesmuseum in den Bahnhofquai einschwenkte. Am Sonntagabend ging das anständige Zürich früh zu Bett, dachte Robert abschätzig. Fit musste man sein am Montagmorgen im Büro. Der sittenstrenge Reformator Zwingli beherrschte noch immer heimlich das Leben in seiner sonst ganz vernünftigen Stadt. Wenigstens brauchte er sich um diese Zeit nicht über Idioten auf der Straße aufzuregen. Die Tiefgarage der Bank am Paradeplatz war leer, trotzdem nahm er an, dass Charlotte schon eine ganze Weile über Goldzahns Fax brütete. Sie wohnte in der Nähe, mitten in der Stadt, kam stets zu Fuß zur Arbeit. Er wusste nicht einmal, ob sie überhaupt motorisiert war, obwohl sie schon seit vielen Jahren neben ihm am Handelspult saß.

 

»Wenn du mich fragst, riecht das ganz nach alter Masche«, begrüßte sie ihn, ohne den Blick von ihren Bildschirmen zu lösen.

Er legte ihr eine flache Schachtel neben die Tastatur. »Meinst du das?«

»Studentenküsse!«, rief sie begeistert und sprang auf. Ein Augenzwinkern später verschwand ein Kleingebäck in ihrem Mund.

Das letzte Mal hatte er die süße Versuchung aus Heidelberg vergessen, worauf ihr vorübergehend ein paar Haare mehr auf den Zähnen gewachsen waren. Er nahm das Fax von ihrem Pult und vertiefte sich in Goldzahns ausführliche Anweisungen. Der chinesische Unternehmer liebte es, seine Wünsche in langatmige Prosa zu fassen, deren Sinn sich ihm erst nach und nach offenbarte. Der Text steckte voller subtiler Hinweise. Nebensätze, die nur der Ausschmückung dienten, verdichteten sich zu einer zweiten Informationsebene hinter den eigentlichen Anweisungen. Der Subtext verriet ihm Goldzahns Motivation und seine Sicht auf das Marktgeschehen. Eine Sicht, die ihm und der Bank schon fette Profite beschert hatte. Er verstand nun Charlottes Kommentar. Der Auftrag lautete, mit Devisengeschäften und Börsentransaktionen Cash zu beschaffen für den über die nächsten Wochen gestaffelten massiven Ankauf von Lithium aus Chile und Argentinien. Gleichzeitig sollten die Aktienbestände der zwei Firmengruppen, die in den USA hauptsächlich Komponenten aus diesem Rohmaterial herstellten, verkauft werden. Ein Déjà-vu. Ein ähnliches Fax hatte er vor vier Jahren schon einmal gesehen. Damals ging es nicht um das weit verbreitete Lithium, das man für Akkus, Elektroautos und Spezialgläser benötigte, sondern um das Seltene Erden Metall Neodym.

»Die alte Masche, wie du gesagt hast«, murmelte er nachdenklich.

Sie nickte mit vollem Mund. Die halbe Schachtel war leer. Sie spülte die klebrige Schokolade mit Cola hinunter, dann meinte auch sie in Gedanken versunken: »Diesmal schießt er sich auf Lithium ein.«

»Li kauft Li – passt«, grinste er, doch er war sich keineswegs sicher, ob er sich auch diesmal freuen sollte. »Er wird wissen, was er tut, packen wir’s.« Ihre Transaktionen würden bereit sein, wenn die Märkte in China öffneten. Und sein Broker in Zug durfte sich auf ein paar einträgliche Geschäfte freuen. Der Geizkragen müsste ihm sowieso wieder einmal einen Abend in der ›Kunststuben‹ an der Goldküste finanzieren.

Fort Meade, Maryland

Die zartbittere Schokolade war also verlobt. Gedankenverloren schaute Alex zu, wie die Sicherheitsbeamtin ihre Tasche durchwühlte. Sie hätte es sich ausmalen können. Eine solche Stimme, dazu noch in einer knackig sportlichen Hülle, konnte nicht Single sein. Sie schüttelte ärgerlich den Kopf, um die bitteren Gedanken zu vertreiben.

»Ist was?«, fragte die Uniformierte befremdet.

»Alles O. K.«

Zum ersten Mal fiel ihr die Rückkehr nach Fort Meade nicht ganz so leicht wie sonst. Das beunruhigte sie, auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte. Die drei Tage Shopping und Theater in London, die sie an die Geschäftsreise angehängt hatte, genügten offenbar bei weitem nicht, sich diesen Ryan aus dem Kopf zu schlagen. Während ihres Interviews rückte das Thema zeitweise etwas in den Hintergrund. Das Begehren drohte sich vom Modell des Briten auf den Briten selbst zu verlagern. Ganz entgegen den klaren Regeln des Sicherheits-Handbuchs für NSA Angestellte. Was soll’s, sagte sie sich nicht zum ersten Mal, seit sie die Universität von Bristol verlassen hatte. Eine solche Beziehung hätte sowieso keine Chance.

»Danke, Madam«, murmelte die Frau vom Sicherheitsdienst und schob den Inhalt ihrer Tasche über den Tisch. Einräumen durfte sie selbst. Die Prozedur beim Betreten des ›Building‹ gehörte auch zu den Rätseln, die Alex bis jetzt nicht verstand. Warum konnten die nicht einfach ein paar vernünftige Scanner installieren, die jedes elektronische Bauteil sofort orteten? Vor Elektronik in jeder Form fürchteten sie sich in Fort Meade wie der Papst vor den Frauen. Niemand führte ein Handy, eine Kamera, einen iPod oder Laptop mit sich, wenn er das Gebäude betrat oder verließ. Jeder wusste das. Die Angst vor miniaturisierten Megabytes war größer als die Abneigung gegen Schusswaffen und Klappmesser. Vielleicht müssten die Angestellten eines Tages ihr Hirn leeren vor dem ›COB‹, dem ›Close of Business‹, vulgo Feierabend. Soweit war es Gott sei Dank noch nicht. Weshalb aber beschäftigten sie Heerscharen Uniformierter, um nach Spiegeln, Taschentüchern und Nasensprays der Angestellten zu graben? Unangenehm für beide Seiten und irgendwie überflüssig, doch sie musste ja nicht alles verstehen. Sie stopfte ihre Habseligkeiten in die Tasche, nahm den Notizblock vom Tisch, den niemand beachtet hatte, und machte sich auf den hindernisreichen Weg in ihr privilegiertes Büro – ›f2b‹ zwanzig!

Sie schaffte es, die Tür zu schließen, ohne dass Bob sie abfing. Sie fuhr den PC hoch, loggte sich ein und erledigte die Routinearbeiten ohne Begeisterung, dafür umso schneller. Dann kam die Stunde der Wahrheit. Sie rief das Formular für den Rapport ihrer Geschäftsreise auf. Mechanisch tippte sie die notwendigen Angaben wie Datum, Kontaktadresse, Zweck des Besuchs in die Felder des Deckblatts. Dazwischen schielte sie auf den Notizblock, als graute ihr vor seinem Inhalt. Das wichtigste Ziel der Reise hatte sie klar verfehlt. Ryans Modell lagerte noch immer unverstanden auf den Servern der Universität in Bristol. Schwierig, diese Tatsache so zu formulieren, dass ihr Boss die Reise als Erfolg verbuchte. Bobs Weltsicht in dieser Hinsicht war einfach: Ziel erreicht oder nicht, gut oder schlecht. Sie sah die Dinge differenzierter. Sie kannte Zwischentöne zwischen weiß und schwarz. Aus ihrer Sicht hatte sich die Reise gelohnt, und das nicht nur, weil sie nach langer Zeit wieder einmal die Luft von Oxford Street und West End geschnuppert hatte. Der Kontakt zum britischen Genie war hergestellt. Sie wusste nun, dass sein Modell höchst wahrscheinlich für die Suche nach den Hintermännern von Mountain Pass taugte. Sie hatte ihn neugierig gemacht. Mehr noch: er hatte Blut gerochen. Wenn sie nicht alles täuschte, war er bereits an der Erweiterung seines Modells, die sie so locker nebenbei besprochen hatten. Und all das, ohne ihre wahre Identität und Aufgabe preiszugeben. Je mehr sie darüber nachdachte, desto zufriedener fühlte sie sich. Auch Bob musste das mit der Zeit begreifen. Sie wusste jetzt, was sie schreiben wollte. Jedes Wort war wichtig, vor allem die Wörter, die man wegließ. Darin hatte sie Übung aus ihrer Zeit beim ›Journal‹.

Ihr Bericht neigte sich dem Ende zu, als das schwarze Telefon klingelte. Sie zuckte zusammen. Ihr Herz pochte und das Blut schoss ihr in die Schläfen, als sie die Vorwahl des Anrufers sah: 44, Großbritannien. Die Journalistin nahm den Hörer und meldete sich wie üblich:

»›Wall Street Journal‹, Alex Oxley.«

»Alex, guten Morgen. Ryan Cole hier.«

»Ryan, wie geht es Ihnen? Gut dass Sie anrufen. Ich wollte mich gerade bei Ihnen melden«, flunkerte sie, während sie versuchte, sich trotz der Stimme am andern Ende der Leitung zu beruhigen.

»Trifft sich gut. Es gibt Neuigkeiten.«

»Ich höre?«

»Wollen Sie eine Wette mit mir abschließen?«

»Ich verliere immer«, lachte sie.

»Diesmal bestimmt, wenn Sie gegen mich wetten. Sie wissen, wir lassen das Modell jetzt dauernd den Markt beobachten. Seit heute Morgen erkennen wir einen neuen, völlig unerwarteten Trend im Commodity-Handel. Ich dachte, das würde Sie vielleicht interessieren für Ihren Artikel.«

»Auf jeden Fall. Worum geht es denn?«

»Lithium. Seit ein paar Tagen entwickelt sich der Preis genau nach dem Muster einer typischen Blase. Sie wird innerhalb eines Monats platzen. Dann fallen die Preise wieder auf das alte Niveau.«

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