Im Westen geht die Sonne unter

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Kapitel 3

Bristol, UK, Vier Jahre später

Kaum betrat Ryan den Balkon im Obergeschoss des weißen Häuschens an der Dove Street, begann der Katzenjammer.

»Ich bin gleich unten, Mr. Meriwether, keine Sorge«, rief er zum plärrenden Kater hinunter. Er wusste nicht einmal, ob Mr. Meriwether eine Sie oder ein Er war, aber er hatte sich für Kater entschieden. Das Tier gehörte niemandem im Haus, auch keinem unmittelbaren Nachbarn. Es war ihm kurz nach seinem Einzug in Bristol zugelaufen und hatte ihn sofort ins Herz geschlossen. Jeden Morgen wartete Mr. Meriwether an der Haustür und begann erbärmlich zu jammern, sobald er ihn erblickte.

Ryan ging in die Küche, legte ein paar Garnelen auf einen Teller und goss etwas Milch in eine zweite Schüssel. Wie üblich stieg er mit der Mappe unter dem Arm und einem Teller in jeder Hand die Treppe hinunter. Der Tag ließ sich gut an, das fühlte er in seinen Adern. Überdies schaffte er die Strecke, ohne einen einzigen Tropfen zu verschütten. Er zog die Haustür mit dem Ellbogen auf, ein Kunststück, das er nach monatelanger Übung perfekt beherrschte. Mr. Meriwether drängte sich freudig schnurrend zwischen seine Beine, sobald er aus der Tür trat. Niemals hätte das eigenwillige Tier einen Fuß ins Haus gesetzt. Ryan stellte das Futter unter das Vordach. Er kraulte Mr. Meriwethers Pelz eine Weile, während er sich mit ihm über das zu erwartende Unwetter unterhielt. Der Kater war schwarz wie ein Kaminfeger. Sein Fell hatte viel vom jugendlichen Glanz verloren. Ryan wurde den Verdacht nicht los, Mr. Meriwether mache ihm nur schöne Augen, um seine karge Rente aufzubessern. Plötzlich ließ der Kater von ihm ab und wandte sich dem Futter zu. Seine Pflicht war getan. Mr. Meriwether erwartete nichts anderes. Nach dem Mahl würde er sich wie jeden Tag verdrücken und erst am nächsten Morgen wieder vor der Haustür jammern. Ein Tagesablauf, der sich gut mit seinem deckte. Auch er verließ morgens das Haus, um oft erst spät in der Nacht zurückzukehren.

»Soll ich Ihnen etwas vom Markt besorgen, Doktor?«, rief ihm die Hauswirtin nach, als er schon auf der Straße stand. Mrs. Harper konnte nicht verstehen, wie ein erwachsener junger Mann allein und ohne ausreichende Vorräte in dieser großen Wohnung leben konnte. Und sie wollte nicht begreifen, dass er noch kein Doktor war, trotz seiner Erklärungsversuche.

»Nein, vielen Dank. Ich esse im Institut.«

»Sie arbeiten zu viel und essen zu wenig«, war das Letzte, was er von der guten Frau hörte, bevor er um die Ecke verschwand. Mrs. Harpers Haus lag nahe bei der Universität. Eine bescheidene Bleibe, aber er konnte seinen Wagen auf dem Parkplatz am Straßenrand stehen lassen. In zehn Minuten war er zu Fuß am Arbeitsplatz, ein Luxus, den er bis zur letzten Minute auskosten wollte. Noch ein Jahr, dann sollte seine Dissertation abgeschlossen sein. Was dann, mit dem PhD in der Tasche, aus ihm werden sollte, wusste er beim besten Willen nicht. Fest stand einzig, dass er Jessie heiraten würde, und wenn er dafür nach Weymouth umziehen müsste. Ein schier unlösbares Problem, dachte er nicht zum ersten Mal. Mit seinen Qualifikationen als Finanzmathematiker gab es für ihn im ganzen Vereinigten Königreich nur einen vernünftigen Ort, wo er Karriere machen konnte: die Londoner City. Aber Jessie schlug immer tiefere Wurzeln im idyllischen Küstenstädtchen am Kanal. Er verdrängte den unangenehmen Konflikt und begann sich geistig auf die Besprechung mit seinem Doktorvater vorzubereiten, während er das Spalier der stramm stehenden Erker mit den weiß getünchten Fensterrahmen abschritt.

Irwyns Parkplatz vor dem braungrauen Backsteingebäude war leer. Ein untrügliches Zeichen, dass der Professor noch nicht da war. Irwyn Saunders – Irwyn, walisisch, nicht Irwin, englisch – bewegte sich außer Haus nur in seinem feuerroten MG SA aus dem Jahr 1938. Unkaputtbare, traditionelle britische Qualität, für die er die ganze Freizeit und sein halbes Vermögen einsetzte. Er stellte das Museumsstück ausschließlich auf seinem zugewiesenen Platz unmittelbar neben dem Eingang ab. Es war schon vorgekommen, dass er wieder nach Hause zurückfuhr, nur weil ein verblödeter Ignorant es gewagt hatte, seinen Platz zu besetzen.

Die asthmatische Hupe des MG stoppte Ryan, bevor er den Torbogen erreicht hatte. Irwyn begrüßte ihn mit einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, schüttelte seinen Pferdeschwanz und fragte:

»Etwas Brauchbares dabei?«

Ryan hatte sich an die kühnen Gedankensprünge des Professors gewöhnt, aber die Frage erwischte ihn kalt. »Dabei – wobei?«, stammelte er verblüfft.

Irwyn warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Ich verstehe ja, dass dich die Arbeit nicht antörnt. Geht mir auch so, deshalb überlasse ich sie dir. Aber die Übungen müssen nun mal korrigiert werden.«

»Ach du grüne Neune!«, rief Ryan aus. Er blieb stehen und spürte, wie sein Gesicht rot anlief. »Mist. Total vergessen, tut mir leid. Ich habe die halbe Nacht an den Auswertungen gefeilt.«

»Ist ja noch nicht zu spät«, beruhigte Irwyn spöttisch. »Ich brauche die Korrekturen erst am Nachmittag.«

Mit einem unterdrückten Fluch trottete er hinter dem Professor her ins Haus. Die Zeit, die er mit der Routinearbeit eines Assistenten vergeudete, hätte er dringend für seine Studie der Finanzblasen benötigt. Er war im Verzug, sein Zeitplan drohte durcheinanderzugeraten. Wenn er die dreizehn Übungsblätter des akademischen Nachwuchses bis Mittag korrigieren wollte, musste er die Besprechung mit Irwyn kurz halten. Nicht gut. Gerade jetzt brauchte er seinen Rat, um den Schwerpunkt der Dissertation neu festzulegen.

Seit zwei Jahren beschäftigte er sich mit einem unmöglichen, aber umso spannenderen Thema, der Vorhersage von Finanzblasen. Die ganze bisherige Literatur der ökonomischen Theorien ging davon aus, dass man das Platzen von Finanzblasen nicht vorhersagen kann. Bisher glaubte man, dass eine Blase erst im Nachhinein überhaupt zu erkennen sei, nachdem sie geplatzt ist. Erst nachdem die Preise für eine Kategorie von Wertpapieren, Waren oder Währungen zusammengebrochen waren, konnte man die Diagnose Finanzblase stellen. Daran glaubte er längst nicht mehr. Seine Arbeit beruhte auf den in Fachkreisen spektakulären Erkenntnissen einer Forschergruppe an der ETH Zürich aus den Jahren 2009, 2010. Physiker und Mathematiker hatten damals die These aufgestellt, dass sich Finanzblasen fru¨hzeitig erkennen lassen, bevor sie platzen und dass man voraussagen kann, wann die Blase platzen wird. Die Gruppe, die sich ›Financial Crisis Observatory‹, FCO, nannte, konnte mit ihrem ›Financial Bubble Experiment‹ tatsächlich mehrere Blasen korrekt eingrenzen. Im Gegensatz zu den gängigen Theorien ging das FCO davon aus, dass sich die Preise an den Märkten während einer Spekulationsblase superexponentiell verhalten. Die Preise stiegen nicht einfach mit einer konstanten Geschwindigkeit, sondern die Geschwindigkeit des Preisanstiegs nahm selbst rasant zu. Ganz nach dem Motto: je teurer eine Ware, desto begehrter wird sie. Um das zu erkennen, beobachteten sie Indikatoren wie die Anzahl der ›guten Tage‹, Tage, an denen der Preis stieg in einem gewissen Zeitraum, und die Wachstumsrate des Preises. Das Modell des FCO war zwar komplex, nahm sich aber doch eher bescheiden aus im Vergleich zu seiner Arbeit. Trotzdem konnten die Forscher in Zürich schon die Goldblase von 2010 erstaunlich genau voraussagen. Ihre Prognose lautete, dass der Goldpreis zwischen dem 13.10.2009 und dem 7.9.2010 mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% einbrechen werde. Für das engere Zeitfenster vom 5.11.2009 bis 25.2.2010 gaben sie eine Wahrscheinlichkeit von 60% an. Im Januar 2010 zerfiel der Preis innerhalb weniger Tage um über zehn Prozent, nach einem Anstieg von 18% während knapp zwei Monaten.

»Was gibt’s denn an deinen Daten zu feilen?«, fragte Irwyn, als sie sich in seinem Büro auf das alte Bentley-Polster setzten.

»Nicht an den Daten, natürlich. Die Darstellung gefiel mir noch nicht. Ich glaube, jetzt habe ich eine bessere Visualisierung gefunden.« Die neuen Grafiken vermittelten dem Betrachter auch ohne viel Text, was er aussagen wollte. Den Zahlenfriedhof seiner unzähligen Modellrechnungen anschaulich darzustellen, war beinahe die größte Herausforderung seiner Arbeit. Visualisierung, eine Wissenschaft für sich im Zeitalter der Statistik und der gigantischen Netzwerke. Er war froh, die Hilfe einiger begabter Kollegen in Anspruch nehmen zu können. Und natürlich Irwyns besonderes Talent.

Der Professor betrachtete die neusten Darstellungen eine Weile kritisch. Dann schob er sie plötzlich weg, als hätte er jedes Interesse verloren. Statt sie zu kommentieren, fragte er: »Zufrieden?«

»Eigentlich wollte ich dich das fragen.«

Irwyn schüttelte den Kopf. »Bist du zufrieden mit deiner Aussage, meinte ich. Du zeigst, dass dein Modell die Goldblase von 2010 wesentlich genauer vorhergesagt hätte als das FCO. Gut, aber bist du damit zufrieden?«

Ryan zögerte mit der Antwort. Sein Mentor hatte genau den wunden Punkt erwischt. Im wesentlichen lautete seine kurze Frage nämlich: Glaubst du, genug gearbeitet zu haben für deinen PhD? Wenn er darüber nachdachte, konnte er nicht mit einem klaren Ja antworten.

Irwyn deutete sein Zögern richtig. »Du zweifelst«, stellte er fest. Bevor du verzweifelst, möchte ich eines klarstellen. Aus meiner Sicht könntest du die Arbeit hier abschließen. Ich würde sie zur Annahme empfehlen. Was das bedeutet, weißt du ja. Aber – ich glaube, du kannst noch mehr herausholen.«

Meine Worte, dachte Ryan. Mehr herausholen wollte er auch. Jahrelange Arbeit, um ein paar bekannte Resultate zu verbessern, befriedigte ihn nicht. Sein Modell beschränkte sich nicht auf die Analyse von Börsendaten. Er durchforstete das ganze Internet mit raffinierten Filtern und Algorithmen. Seine Computerfarm am Institut analysierte in kurzer Zeit hunderttausende Twitter-Meldungen, Blogs und Webseiten. Mit ausgeklügelten Methoden der Graphentheorie und Topologie stellte er Zusammenha¨nge zwischen Gerüchten, Ereignissen und dem Börsengeschehen her. Dabei war ihm erst kürzlich etwas aufgefallen.

 

»Du hast recht«, nickte er nachdenklich. »Bei verschiedenen Messreihen habe ich festgestellt, dass die resultierende Verteilung über weite Strecken stabil bleibt. Blöd gesagt: weniger Daten genügen bereits für eine zuverlässige Aussage, vorausgesetzt, man erwischt die richtigen.«

»Ziemlich blöd gesagt, aber ich verstehe, was du meinst. Wenn du das beweisen kannst, lässt sich dein Modell auch für weniger liquide Assets anwenden. Das wäre ein echter Durchbruch. Traust du dir das zu in der verbleibenden Zeit?«

Er wusste es nicht, doch im Geiste brütete er schon über seinen Notizen, als er das Büro verließ. Ein Teil seines Hirns arbeitete weiter an der neuen Herausforderung, während er sich mit den Übungen der unteren Semester beschäftigte. Am frühen Nachmittag war die Pflicht endlich erledigt. Er konnte sich wieder voll der Kür zuwenden. Die Funktionen und Gleichungen seines Modells hingen im Grossdruck an der Wand neben seinem Bürofenster. Wie schon oft, stellte er sich davor, um sich inspirieren zu lassen. Die Gedanken mussten sich möglichst locker an das Problem herantasten, es aus der Vogelperspektive allmählich einkreisen. Dazu war diese Wand da. Draußen verdüsterte sich der Himmel zusehends. Das angekündigte Unwetter war da. Bald klatschten die ersten schweren Regentropfen aufs Sims. Im Zimmer war es so dunkel, dass er das Licht einschalten musste. Immer wieder ließ er den Blick über die Variablen, Summen und Integrale schweifen, ohne genau zu wissen, wonach er suchte. Im Grunde war sein Problem schnell formuliert, doch das änderte nichts daran, dass es harte Knochenarbeit war, eine Lösung zu finden. Er wollte sein Modell verallgemeinern. Es besaß zu viele Parameter und Randbedingungen, die auf die Spezialfälle von Finanzblasen zugeschnitten waren, die er bisher untersucht hatte.

»Es müsste doch, verdammt noch mal, möglich sein, Zeitintervalle und Messpunkte automatisch festzulegen«, warf er der Hieroglyphenwand vor. Er schloss die Augen. Jessies verträumter Blick überstrahlte kurz die vielen x, i, j, Gammas und Thetas, dann schlug er sich unvermittelt an die Stirn. »Trottel«, schalt er sich. Es war so offensichtlich. Er brauchte seine Zeit nicht mit den Formeln für die Berechnung der Resultate zu verschwenden. Die Eingabefilter musste er sich vornehmen. Es lief genau auf das hinaus, was er leichthin zur Wand gesagt hatte. Wenn er es schaffte, die Eingabefilter automatisch zu konfigurieren, dann würde sein Modell nicht nur die Finanztitel automatisch finden, die für eine Blase infrage kämen, es würde ihm auch gleich beantworten, für welche Kategorien von Titeln sein Modell taugte. Er rannte hinaus, den Korridor hinunter zur Kaffeeküche, schenkte sich einen Becher der siedend heißen, sauren Brühe ein, eilte an den Schreibtisch zurück und begann, die Filter umzubauen.

Dutzende zerknüllte Seiten weiter, sechs Stunden später, mit einem knurrenden Magen, den man bis in Irwyns Büro am andern Ende des Flurs hören musste, glaubte er soweit zu sein. Es blieb lediglich noch, die Software an die modifizierten Formeln anpassen, eine vergleichsweise kinderleichte Übung. Der Zeitpunkt für den Testlauf war gut. Abends um acht war nicht mehr viel los auf der Serverfarm. Er startete seine neue Modellrechnung mit der vollständigen Datenbasis als Eingabe. Ein Datenchaos aus Text und Zahlen von nahezu tausend Gigabytes. Die Rechnerei würde die ganze Nacht dauern. Mit ein wenig Glück erwartete ihn am nächsten Morgen ein Resultat, wie er es noch nie gesehen hatte. Etwas weniger Glück, und einmal mehr würde ihn nur die Fehlermeldung Abort xyz begrüßen.

Mr. Meriwether begriff nichts von seiner Arbeit. Er hatte nicht das geringste Verständnis dafür, dass Ryan ihm am nächsten Morgen nur ein Tellerchen mit etwas Milch hinstellte. Er drückte sich so lange jammernd zwischen seinen Beinen herum, bis er den vertrockneten Rest seines Sandwichs holte und ihm ein paar Krümel der Füllung hinstreute, die einmal Schinken gewesen war. Mr. Meriwether machte einen Bogen um die Katastrophe, leckte seine Milch auf und ließ ihn stehen.

An diesem Morgen rannte er ins Institut. Atemlos drückte er auf die Leertaste, um den Bildschirm aufzuwecken. Er wagte kaum hinzusehen. Keine Fehlermeldung. Seine Hand zitterte leicht, als er mit der Maustaste durch die Tabellen und Grafiken blätterte, die sein Programm erstellt hatte. Ein Wonnegefühl durchrieselte ihn, durchaus vergleichbar mit dem Augenblick, als Jessie ihn zum ersten Mal mit einer Leidenschaft auf den Mund küsste, dass er sich auf der Stelle in reine Energie auflöste. Hastig druckte er einige Seiten aus und rannte damit zu seinem Professor.

»Heureka!«, rief er lauthals, während er ins Büro stürzte.

»Auch einen guten Morgen wünsche ich dir«, brummte Irwyn verschlafen, ohne aufzuschauen. »Komm doch herein.«

»Sorry – aber – hast du einen Moment Zeit?«

Als Irwyn das verschmitzte Grinsen im Gesicht seines Doktoranden bemerkte, lächelte auch er. »Her mit dem Wisch«, befahl er mit einer fordernden Handbewegung. Er studierte die neuen Resultate eingehend. Das war so üblich. Erst machte er sich selbst ein Bild, bevor er etwas hören wollte. »Nicht schlecht«, sagte er schließlich mit undurchdringlicher Miene. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und wartete auf den etwas längeren Kommentar seines Schülers.

»Nicht schlecht«, äffte Ryan nach. »Du bist gut. Deine Nerven müsste man haben. »Hast du die Breite der Analyse gesehen? Das Modell wählt jetzt automatisch Kandidaten für Blasen aus praktisch dem ganzen Spektrum von Finanzinstrumenten. Inklusive Titel, für die es nur einen dünnen Markt gibt wie Rohstoffe, die nur von wenigen spezialisierten Firmen gehandelt werden. Seltene Erden zum Beispiel.«

Das Lächeln kehrte auf Irwyns Gesicht zurück. »Beruhige dich. Das habe ich sehr wohl bemerkt. Mir scheint, das ist der Durchbruch, von dem ich neulich gesprochen habe. Wir werden das gründlich miteinander verifizieren und so schnell wie möglich publizieren, als Vorabdruck deiner Dissertation. Dieses Ergebnis muss in die Fachpresse.«

Fort Meade, Maryland

Alex wuchtete die Kiste mit ihrem persönlichen Kram und dem Büromaterial auf ihren neuen Schreibtisch. In den vier Jahren im Innern des Allerheiligsten der NSA war dies der dritte Umzug. Fast wie in der Redaktion. Sie schaute sich um, schnupperte die Luft im Zimmer, das nun für ein paar Monate, vielleicht ein Jahr ihr neuer Arbeitsplatz war. Eine substantielle Verbesserung allerdings, das musste sie sich eingestehen. Trotzdem rümpfte sie die Nase. Die Luft im Einzelbüro wirkte seltsam tot. Das gewohnte Aroma aus Körpergerüchen, Rasierwasser und heiß laufenden Computern wie in andern Büros fehlte. Hier war sie das einzig Lebendige. Aber Einzelbüro, fast Eckbüro, und ihr ›f2b‹ war auf lächerliche zwanzig geschrumpft. Besser ging nicht. Wenn nichts anderes, dann sagte der ›f2b‹ als zuverlässigstes, allgemein anerkanntes Maß, wie es um die Karriere eines Mitarbeiters stand. Sie hatte nie herausgefunden, ob das Kürzel als ›feet from Bob‹ oder, eher unwahrscheinlich, ›feet to Bob‹ zu lesen war. Auf jeden Fall bezeichnete es den Abstand von ihrer Bürotür zu Bobs Tür. Mit zwanzig Fuß waren sie und ihr allseits gefürchteter und bewunderter Chef nun also Nachbarn. Grund genug, ein wenig stolz zu sein. Und ein bisschen bereute sie, das Gefühl mit niemandem teilen zu können. Sie verscheuchte den Gedanken schnell wieder und begann, die wenigen Sachen einzuräumen. Sie musste sich nicht über Einsamkeit beklagen. Sie hatte es so gewollt. Im Allgemeinen lebte sie ganz gut damit.

Zehn Minuten nach ihrem Einzug arbeitete sie am Bildschirm, als hätte sie nie anderswo gesessen. Beim Kontrollblick auf die im Hintergrund laufenden Nachrichtenfilter stutzte sie. Ein Fenster, das seit Jahren keine Aktivität mehr anzeigte, erwachte plötzlich zum Leben. Der rote Balken am oberen Rand deutete auf mindestens 90% Relevanz. Das Programm, das den unablässigen Strom der Nachrichten und Hinweise aus allen möglichen Quellen für dieses Fenster analysierte, hatte ihr etwas Wichtiges zu sagen. Es hatte einen Beitrag in der britischen Fachzeitschrift ›Journal of Computational Finance‹ entdeckt:

Die Topologie von Regime-shifts

Ein erweitertes Modell zur Prognose von Finanzblasen

Nicht der verwirrende Titel des Artikels erregte ihre Aufmerksamkeit. Es war die kurze, hervorgehobene Passage aus der Zusammenfassung, die sie sofort ihre eigentliche Aufgabe vergessen ließ:

Der breite theoretische Definitionsbereich des Modells wird eindrücklich demonstriert durch die ex post Analyse bekannter Preisblasen liquider Commodities, Aktien und illiquider Unternehmensanleihen aus den Jahren 2009 und 2010, sowie eines älteren Niveau-Übergangs des REE Neodym.

Alex traute ihren Augen nicht. Sie hatte dieses Fenster sicher drei Jahre lang nicht mehr beachtet. Ihre hektischen ersten Monate in Crypto City waren von den Nachbeben der Katastrophe in der kalifornischen Mine geprägt. Der Aktionismus des DHS, FBI und der sonst kühlen Köpfe bei der NSA führte damals zu nichts. Einmal abgesehen davon, dass der Verdacht Richtung China noch immer wie ein übler Verwesungsgeruch in der Luft hing. Die Untersuchung verlief stillschweigend im Sand. Unbeachtet und bald vergessen schnüffelten nur ein paar Programmroboter permanent nach weiteren Informationen, die Hinweise auf jenes Ereignis enthielten. Und nun hatte einer Alarm geschlagen.

Aufgeregt las sie die ganze Zusammenfassung und den Anfang des Berichts. Je weiter sie in den mathematischen Fachjargon eintauchte, desto weniger verstand sie. Bald kam der Punkt, wo sie denselben kurzen Satz dreimal gelesen hatte und noch immer nicht kapierte. Ernüchtert griff sie zum Pappbecher, der noch in der Transportkiste stand, führte ihn an den Mund und stieß ihn gleich wieder angewidert von sich. Kalter Kaffee machte die Sache auch nicht besser. Angesichts der vielen englischen Fremdwörter und Formeln im Fachartikel dieses Ryan Cole aus Bristol kam sie sich reichlich blöd vor. Nur soviel war klar: das Modell des Briten konnte den Zeitpunkt der Mountain Pass Katastrophe beklemmend genau vorhersagen. Leute, die dieses Papier verstehen würden, Mathematiker, Physiker, Quants, gab es genug in Fort Meade. Das Problem war nur, dass die alle andere Aufgaben hatten. Ohne Bobs Machtwort durfte sie keine Hilfe erwarten. Sie griff zum Hörer des grauen Telefons und drückte Bobs Kurzwahltaste. Den gefährlichen schwarzen Apparat daneben benutzte sie höchst selten, nur für harmlose externe Anrufe, wenn sie sich als Journalistin ausgab. Jeder bei der NSA wusste: schwarze Telefone waren nicht abhörsicher.

Er antwortete augenblicklich: »Alex, was gibt’s?«

»Hast du fünf Minuten?«

»Nein, wozu?«

»Mountain Pass. Ein neuer Lead.«

Es blieb eine Weile still in der Leitung. Eine lange Zeit, für Bobs Verhältnisse. Dann sagte er leise, als fürchtete er, belauscht zu werden: »Komm rüber.«

Sie druckte hastig die paar Seiten aus, die sie zu lesen versucht hatte und eilte damit ins Büro nebenan.

»Ich hoffte, nie mehr etwas von diesem verfluchten Dreckloch zu hören«, schimpfte Bob zur Begrüßung. »Ein Lead?«

»Ja – nicht direkt. Aber ich denke, es könnte sich zu einem soliden Hinweis auf die Verantwortlichen entwickeln.«

Seine Blicke durchbohrten sie wie glühende Spieße. »Sei froh, dass ich dich besser kenne, sonst …« Er ließ die Alternative offen, forderte sie mit dem Kinn auf, sich zu setzen und wartete.

Sie kannte Bob lange genug, ignorierte die unausgesprochene Drohung. Ruhig und sachlich antwortete sie: »Vor einer Stunde wechselte einer meiner REE Filter auf rot. Ich hab’s kurz analysiert und meine, dass es kein falscher Alarm ist.«

»Will ich hoffen.«

Sie breitete die Unterlagen vor ihm aus. »Dieser Ryan Cole ist ein Mathematiker aus Bristol, UK. Soweit ich mitbekommen habe, entwickeln sie dort ein Modell, mit dem sie alle möglichen Finanzblasen ziemlich präzise voraussagen und eingrenzen können. Die Publikation ist eine seriöse Fachzeitschrift, also nehme ich nicht an, dass es sich um irgendeinen Hokuspokus handelt. Was die Sache für uns interessant macht, ist dieser Abschnitt in der Zusammenfassung.« Sie zeigte auf die Stelle, wo die Seltenen Erden erwähnt waren. Während er las, ergänzte sie beiläufig: »Der vorausgesagte Neodym Preissprung deckt sich genau mit dem Zeitpunkt der Minenkatastrophe.«

 

»Was?«, fuhr er sie an. »Das sagst du mir erst jetzt?«

Sie verzog die Mundwinkel zu einem spöttischen Lächeln. Ausgezeichnet, sie war im Geschäft.

Bob schüttelte ungläubig den Kopf und brummte: »Du willst mir allen Ernstes weismachen, dass diese Brits die Katastrophe kommen sahen?«

»Das glaube ich nicht, aber hätte ihr Modell damals schon existiert, hätte es auf einen Preissprung hingedeutet. Sie nennen das Regime-shift.«

»Und wenn schon«, entgegnete er ärgerlich. »Das hätten auch normale Marktturbulenzen sein können. Das Wundermodell hätte die Katastrophe auch nicht vorausgesehen.«

»Klar, aber darum geht es mir nicht. Ich will auf etwas anderes hinaus. Dieser Cole und seine Leute behaupten, die finanziellen Auswirkungen des Attentats im Voraus ziemlich genau berechnen zu können. Und das einzig und allein aufgrund öffentlich zugänglicher Daten. Da frage ich mich, was das Modell wohl leisten würde, wenn es unsere Daten zur Verfügung hätte. Gut möglich, dass wir damit den Urhebern des Anschlags doch noch auf die Schliche kommen.«

Er schaute sie nachdenklich an. Die Skepsis wich allmählich aus seinem Blick, machte einer Mischung aus Neugier und Jagdlust Platz. Ein sicheres Zeichen, dass er begann, einen Schlachtplan auszuhecken. »Mit Daten meinst du wohl SWIFT«, murmelte er.

»Unter anderen«, nickte sie. Praktisch alle Geldströme zwischen Banken und Firmen, sogar Einzelpersonen, liefen als Meldungen über das weltweite Netzwerk der ›Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication‹, SWIFT, mit Sitz in Belgien. Wollte man herausfinden, wann wer wem wie viel und wofür bezahlt hatte, gab es keine bessere Datenquelle.

»Wie kommen wir an die Archive?«

Sie lächelte, vielleicht ein wenig zu selbstzufrieden. Aber sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht. »Wir haben Glück«, sagte sie. »Mountain Pass fällt in die Zeit, als noch der ganze SWIFT-Verkehr auf unsere Server gespiegelt wurde. Wir haben alles in unseren Archiven, brauchen keinen Antrag zu stellen.«

»Zufälle gibt’s«, grinste er.

Bob wusste genauso gut wie sie, dass sie die SWIFT-Meldungen auch unter den neuen, strikteren europäischen Datenschutz-Bestimmungen erhalten hätten. Dauerte bloß etwas länger.

Das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Er sagte entschlossen: »Wir haben die Daten, ich organisiere die Einsteins, du das Modell. Inkognito.«

»Funktioniert nicht, fürchte ich. Nichts gegen unsere Eierköpfe, aber wie ich es sehe, geht es bei diesem Modell um Spitzenforschung. Bis sich unsere Jungs eingearbeitet haben, verlieren wir wertvolle Zeit. Wäre es nicht viel einfacher, diesen Cole die Arbeit machen zu lassen? Wir haben noch genug damit zu tun, die Daten für sein Modell aufzubereiten.«

»Wie stellst du dir das vor? Wir geben keine Daten heraus, basta.« Leise fügte er hinzu: »Auch wenn sie uns nicht gehören.«

Das war das Hauptproblem. Sie überlegte schon die ganze Zeit, wie sie das Dilemma lösen könnten. Es half nichts. Die NSA musste in der einen oder anderen Richtung über ihren Schatten springen. Entweder gingen ihre Daten an die Forschergruppe in England, oder die englischen Forscher brachten ihr Modell und das nötige Wissen dazu nach Fort Meade. Eine vernünftige dritte Lösung sah sie nicht. Das sagte sie ihm auch.

»Unmöglich«, war Bobs erste Reaktion.

Sie hatte nichts anderes erwartet, schwieg jedoch. Sie musste ihm Zeit lassen, sich an den furchtbaren Gedanken zu gewöhnen. Er runzelte die Stirn, während er die zwei unmöglichen Varianten gegeneinander abwog. Plötzlich schüttelte er energisch den Kopf und wiederholte:

»Unmöglich, vergiss es. Wir machen es so, wie ich gesagt habe. Du beschaffst das Modell, den Rest erledigen wir hier.«

Sie antwortete nicht sofort, schaute ihn stattdessen an, als erwarte sie eine Erklärung.

»Gibt es ein Problem?«, fragte er gereizt.

»Nein – nein, ich werde es versuchen. Habe ich Clearance für England?«

Er nickte. »Sind ja nicht gerade unsere Erzfeinde«, knurrte er.

Das Modell beschaffen – sie fragte sich, wie um alles in der Welt sie das anstellen sollte, während sie die Unterlagen zusammenraffte und in ihr Büro zurückkehrte. Immerhin hatte sie die Erlaubnis, ohne nervenaufreibenden Papierkram nach Bristol zu reisen, sollte es nötig sein. Das war nicht selbstverständlich. Eines der ungelösten Rätsel von Fort Meade war die Sicherheitspolitik bei Auslandreisen. Sie hatte bis heute nicht verstanden, weshalb ein NSA-Angestellter nur mit schriftlicher Genehmigung nach Großbritannien oder Frankreich reisen durfte, aber problemlos jederzeit auf den Bahamas, dem Paradies für windige Firmen und Financiers, oder in der Drogenhölle von Mexiko Urlaub machen konnte. Ihr IQ reichte einfach nicht aus, die Logik der allmächtigen ›Clearance Division‹ M55 zu verstehen. Genauso wie sie das Modell des Ryan Cole nie begreifen würde.

»Du hast dich da in etwas hineingesteigert, Mädchen«, sagte sie zu sich selbst, als sie einigermaßen ratlos ihre leere Schreibtischplatte musterte. Im Augenblick wusste sie nur eines mit absoluter Sicherheit: Sie brauchte endlich ihren Koffein-Schub. Mit einem frischen Becher funktionierte ihr Gehirn normalerweise besser. So war es auch diesmal. Sie trank einen Schluck von der heißen Brühe, stellte den Pappbecher zur Seite, machte sich ein paar Notizen und griff zum Hörer des schwarzen Telefons. Sie schmunzelte beim Gedanken daran, was in den anderen Büros jedes Mal ablief, wenn jemand den schwarzen Hörer in die Hand nahm. Sofort verstummten alle noch so leisen Gespräche, bis der Hörer wieder sicher auf der Gabel lag. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr wählte sie die Kontaktnummer der Universität Bristol aus dem Artikel. Halb zwölf, halb sechs in England. Sie hoffte, der unbekannte Forscher wäre kein ›nine-to-five‹ Typ und noch nicht auf dem Heimweg.

»Dr. Ryan Cole bitte«, sagte sie erleichtert, als sich die Zentrale der Universität meldete.

»Wen darf ich melden?«

»Alex Oxley vom ›Wall Street Journal‹.« Ihre übliche Tarnung bei externen Kontakten. Sie hatte sich erstaunlich rasch ans Doppelleben gewöhnt. Es war ganz einfach. Sie kannte die Innereien des Blattes aus jahrelanger Erfahrung, wusste, wie sie sich als Journalistin zu verhalten hatte. Ihre schwarzen Anrufe konnten nicht zurückverfolgt werden. Auf ihren Visitenkarten stand die Nummer dieses Apparates. Falls jemand das Journal direkt anrief und sie verlangte, wurde der Anruf automatisch hierher umgeleitet.

Eine Männerstimme wie bittersüße Schokolade, die mit siebzig Prozent Kakao und einer Spur Chili, drang aus dem Hörer, in ihr Ohr, durch die Adern bis in die Zehenspitzen. »Hallo?«, sagte der Unbekannte.

Sie schluckte leer, hüstelte, bevor sie sich wieder gefasst hatte. »Dr. Ryan Cole?« Mein Gott, diese Stimme.

»Ryan Cole, ja. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Sie stellte sich gerne nochmals vor. Sie schob ihre Notizen beiseite, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen. Der Plan war jetzt ein anderer.

»Dr. Cole. Ich habe Ihren Artikel über Finanzblasen im ›Journal of Computational Finance‹ gelesen«, log sie. »Aufregend, Ihre Arbeit. Wir möchten im ›Journal‹ einen Bericht darüber veröffentlichen. Dazu bitte ich Sie um ein kurzes Interview. Das Ganze muss natürlich für den Laien verständlich dargestellt werden. Ohne Ihre Hilfe schaffen wir das nicht bei der komplexen Materie, fürchte ich.«