Buch lesen: «Das Prinzip der Parteiliteratur», Seite 3

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Viertens: Die Kenntnis von Lenins Konzept der Parteipresse ist, wie bereits erwähnt, über Stalin auf uns gekommen. In älteren Lehrmaterialien der Leipziger Fakultät für Journalistik wurde die Lehre von der Partei und Presse neuen Typs noch als von Lenin und Stalin geschaffene verhandelt.28 Später ist Stalin, Ulbrichts aufschlussreicher Mitteilung entsprechend, dass er nicht zu den Klassikern des Marxismus zu rechnen sei,29 wortlos entfallen. Die Lehre von der Partei und von der Presse neuen Typs ist nach dem XX. Parteitag der KPdSU ohne jede nennenswerte offizielle Auseinandersetzung mit ihr für Theorie und Praxis bestimmend geblieben und wurde von Menschen praktiziert und, wie sie meinten, wissenschaftlich interpretiert, die allesamt, ob Ältere oder Jüngere, ob bewusst oder unbewusst, durch die Schule des Stalinismus gegangen sind.

In den letzten fünfzehn Jahren der Existenz der DDR habe ich gemeint, mit der unanfechtbaren Autorität Lenins Argumente gegen die immer offensichtlicher werdende Enge der SED-Medienpolitik stärken zu können, wie unverfänglich das auch immer versucht wurde und wie naiv auch immer die Annahme war, damit auf eine dringende Modifizierung z. B. der Informationspolitik wenigstens aufmerksam machen zu können. War das aber überhaupt sachlich berechtigt? Wurde Lenins Pressekonzept ein Opfer Stalins oder gehörte es, ob gewollt oder nicht, zu dessen Wegbereitern?

Fünftens: Unser Thema erschöpft sich nicht in der Analyse und Interpretation von Richtlinien für die Gestaltung des Verhältnisses von Partei und Presse und von parteitheoretischen oder strategischen Auffassungen, die ihnen zugrunde lagen. Seine Bearbeitung verlangt unbedingt auch, dass wir uns für die – in vielem von jener der westeuropäischen Sozialdemokratie verschiedene – politische Kultur interessieren, die in der russischen Partei, insbesondere unter den Bolschewiki, herrschte und in der das Prinzip der Parteiliteratur entstand, zu der es gehörte und die es viele Jahrzehnte mitbestimmte. Welche sozialpsychologische ›Statur‹ die Akteure hatten und von welchen Wertmaßstäben sie sich leiten ließen, wie sie in den eigenen Reihen miteinander umgingen und wie mit Bundesgenossen oder Gegnern, welche Formen politischen Kampfes und gesellschaftlicher Veränderungen sie bevorzugten, nach welchen Regeln die Vorbereitung und Verwirklichung politischer Entscheidungen verlief und in welchem Verhältnis dabei demokratische Mitbestimmung und Unterordnung unter die Leitung, Freiheit der Diskussion und Disziplin zueinander standen – diese und andere Faktoren hatten maßgeblichen Einfluss darauf, welche Normen im Verhältnis von Partei und Presse entstanden und wie sie ausgelegt und angewandt wurden. Gleich oder ähnlich lautende Regelungen konnten in verschiedenen kulturellen Kontexten durchaus verschiedene Bedeutung haben.

Aber noch aus einem anderen Grund ist dieser Aspekt wichtig. Die von den Bolschewiki, mit Lenin beginnend, begründete politische Kultur hat bis vor zwanzig Jahren – mit welchen nationalen Variationen auch immer – in der kommunistischen Weltbewegung geherrscht. Unsere Vorgänger, meine Generation und Jüngere sind in ihr groß geworden. Wir haben nicht nur in ihr gelebt, wir haben sie gelebt, ob mehr oder weniger bewusst, ob begeistert oder widerwillig. Sie wurde in alltäglichen Verhaltensweisen verinnerlicht und tradiert, die zählebig sind und fortwirken. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir noch so manche von ihnen mit uns herumschleppen und dass sie sich hemmend in aktuelle Prozesse des Parteilebens einmischen. So zum Beispiel in die strategische Diskussion und andere innerparteiliche Auseinandersetzungen der Linken. Jedenfalls verlangt die Abgrenzung von überholten und verfehlten Strukturen, Zielen, Normen auch, der alten, nicht nur überlebten, sondern selbstzerstörerischen Kultur der ›Partei neuen Typs‹ in allen ihren Erscheinungsformen den Abschied zu geben. Deshalb werde ich mich bemühen, im Falle des Prinzips der Parteiliteratur diese überall zu kennzeichnen, wo sie im historischen Material sichtbar werden.


Beginnen wir nun die Erörterung des von Lenin verkündeten Prinzips der Parteiliteratur. Das soll unter drei Gesichtspunkten geschehen. Der erste wird das organisatorische Verhältnis zwischen der Partei und ihrer Presse sein, der zweite die Rolle der Presse in der Partei, der dritte schließlich ihre ideologische Bindung an die Partei und die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden.

2.AUF DEM WEGE ZUR REVOLUTION
2.1DIE STELLUNG DER PRESSE IN DER ORGANISATION

Das organisatorische Verhältnis zwischen Partei und Presse bestand für Lenin generell in der Unterordnung der Parteiliteratur unter die Parteiorganisation:

»Die Zeitungen müssen Organe der verschiedenen Parteiorganisationen werden. Die Literaten müssen unbedingt Parteiorganisationen angehören, Verlage und Lager, Läden und Leseräume, Bibliotheken und Buchvertriebe – alles dies muss der Partei unterstehen und ihr rechenschaftspflichtig sein.«30

Was diese allgemeine Festlegung konkret bedeutete, um welcherart Unterordnung es sich handeln und welche Bedeutung sie für die Rolle der Parteipresse im Parteileben, für die Kultur der innerparteilichen Kommunikation haben konnte, davon können wir erst eine Vorstellung gewinnen, wenn wir uns mit den bis dahin in der SDAPR herrschenden Auffassungen, vor allem natürlich mit der Lenins, vom historisch notwendigen Typ der Parteiorganisation insgesamt, vom Charakter der Beziehungen zwischen den Institutionen und Gliederungen der Partei sowie ihrer Basis vertraut machen und das Verhältnis zwischen Partei und Presse als Teil dieser Beziehungen untersuchen.

2.1.1… AUF UND NACH DEM II. PARTEITAG

Erstmals wurde das Verhältnis von Parteipresse und Parteiorganisation 1903 auf dem II. Parteitag der SDAPR fixiert, der die wirkliche Gründung der Partei und zugleich ihre Spaltung in die Fraktionen der Bolschewiki und der Menschewiki brachte. Im damals beschlossenen Statut wurde festgelegt, dass der Parteitag das Zentralkomitee und die Redaktion des Zentralorgans ernenne und dass die ideologische Führung der Partei in den Händen der Redaktion des Zentralorgans liege.31 Das ZK, dem die Leitung der praktischen Arbeit übertragen wurde, sollte in Russland arbeiten, während die Redaktion des Zentralorgans, um das regelmäßige Erscheinen der Zeitung zu sichern, ihren Sitz im Ausland, außerhalb der Reichweite der zaristischen Polizei, hatte. Über beide wurde der Rat der Partei gesetzt, der die Tätigkeit des ZK und der Redaktion des Zentralorgans koordinieren und vereinen sowie bei Streitfragen zwischen ihnen das letzte Wort haben sollte und dem je zwei Mitglieder des ZK und der Redaktion des Zentralorgans sowie ein fünftes, vom Parteitag zu wählendes Mitglied angehörten. Damit wurde eine Vorstellung verwirklicht, die Lenin schon in seinem Brief an einen Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben vom September 1902 dargestellt hatte und die mir einst angesichts der in Russland gegebenen Kampfbedingungen einfach als plausibel erschien:

»Angesichts der Notwendigkeit, strengste Konspiration zu üben und die Kontinuität der Bewegung zu wahren, kann und muss unsere Partei zwei führende Zentren haben […]. Ich möchte nur bemerken, dass die Zeitung der ideologische Führer der Partei sein kann und muss, dass sie die theoretischen Wahrheiten, die taktischen Leitsätze, die allgemeinen organisatorischen Ideen, die allgemeinen Aufgaben der Gesamtpartei in diesem oder jenem Augenblick zu entwickeln hat. Die unmittelbare praktische Führung der Bewegung aber kann nur in den Händen einer besonderen zentralen Gruppe liegen (nennen wir sie kurzerhand Zentralkomitee), die mit allen Komitees persönlich in Verbindung steht, alle besten revolutionären Kräfte aller russischen Sozialdemokraten in sich vereinigt und alle gesamtparteilichen Angelegenheiten leitet, so die Verteilung von Literatur, die Herausgabe von Flugblättern, die Verteilung der Kräfte, die Betrauung von Personen und Gruppen mit der Leitung besonderer Unternehmungen, die Vorbereitung gesamtrussischer Demonstrationen und des Aufstands usw.«32

Diese Konstruktion der zentralen Leitung der Partei nun bildete geradezu den Brennpunkt der Auseinandersetzung um Organisationsfragen, die auf dem Parteitag ausbrach und die zunächst ihn, später die ganze Partei spaltete. In dieser Auseinandersetzung zeichnen sich einige Kernfragen ab, bei deren Beantwortung die unterschiedlichen Auffassungen von den Aufgaben der Sozialdemokratie und dem ihnen entsprechenden Organisationstyp aufeinanderprallten.

Die erste und bedeutendste dieser Kernfragen war das Prinzip des Zentralismus. Dass nur eine zentralisierte Partei in der Lage sein konnte, den Kampf gegen den Zarismus und das kapitalistische System erfolgreich zu führen, war ein überaus deutliche Lehre aus den Erfahrungen, die die noch in viele lokale Gruppen und Zirkel zersplitterten Sozialdemokraten in den Jahren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gesammelt hatten, und dies bildete zunächst durchaus keinen Streitpunkt zwischen den Kontrahenten auf dem II. Parteitag der SDAPR. »Beide […] Seiten strebten danach, eine völlig zentralisierte Parteiorganisation zu schaffen sowie Festigkeit und Konsequenz der Politik des Parteizentrums zu sichern«, schrieb Martow33 in seinem Bericht über den Parteitag, veröffentlicht in Nr. 53 der Iskra vom 25. November 190334. Wie aber der Zentralismus aufzufassen und durchzusetzen sei, das war der grundlegende Streitpunkt der in der faktischen Spaltung der Partei gipfelnden Auseinandersetzungen, dessen Entscheidung die Rahmenbedingungen auch für das Wirken der Parteipresse setzte.

Welche Rahmenbedingungen waren das bei Lenin? Er verfocht den Zentralismus als »das organisatorische Prinzip der revolutionären Sozialdemokratie« in absoluter Frontstellung gegenüber dem von ihm mit der Losung des Demokratismus gleichgesetzten Autonomismus als »dem organisatorischen Prinzip der Opportunisten der Sozialdemokratie«, d. h. also der Menschewiki.

»Letzteres ist bestrebt, von unten nach oben zu gehen, und verficht daher überall, wo es möglich ist und soweit es möglich ist, den Autonomismus, den ›Demokratismus‹, der (bei Leuten, die mehr eifrig als klug sind) bis zum Anarchismus geht. Ersteres ist bestrebt, von oben auszugehen, es verficht die Erweiterung der Rechte und der Vollmachten der Zentralstelle gegenüber dem Teil.«35

Die Zuerkennung dieser Rechte und Vollmachten interpretierte er auf dem II. Parteitag so, dass man »es dem Zentralkomitee selbst überlassen [muss], seinen Kompetenzbereich zu bestimmen, denn in jeder lokalen Angelegenheit können gesamtparteiliche Interessen berührt werden, und das Zentralkomitee muss die Möglichkeit erhalten, sich in lokale Angelegenheiten einzumischen – vielleicht entgegen den lokalen Interessen, aber zum Besten der Gesamtpartei.«36

Und Einmischung in lokale Angelegenheiten bedeutete für ihn das Recht des ZK, »seine Kandidaten in den Komitees einzusetzen«37 sowie Parteikomitees, wenn es das für nötig befand, zu »kassieren«, aufzulösen.38

Dieses zentralistische Modell gedachte Lenin mit drakonischer Strenge, mit »der eisernen Faust«39 durchzusetzen. Übereinstimmend mit Trotzki, der dazu auf dem II. Parteitag sprach, galt ihm das gerade beschlossene Statut der Partei als »organisiertes Misstrauen der Partei gegen alle ihre Teile […], d. h. eine Kontrolle über alle lokalen, regionalen, nationalen und sonstigen Organisationen« (Trotzki, von Lenin zitiert)40. Einen von seinem Gegner Martow geprägten Begriff aufgreifend, erklärte er:

»Wir können nicht nur, wir müssen gegen unbeständige und schwankende Elemente einen ›Belagerungszustand‹ verhängen, und unser ganzes Parteistatut, unser ganzer jetzt vom Parteitag bestätigter Zentralismus ist nichts anderes als ein ›Belagerungszustand‹ für die so zahlreichen Quellen der politischen Verschwommenheit.«

Und nicht nur das, er hielt »Sonder-, ja sogar Ausnahmegesetze« gegen die Verschwommenheit für erforderlich und interpretierte die Beschlüsse des Parteitags so, dass er für solche Gesetze und solche Maßnahmen eine feste Grundlage geschaffen habe.41

Lenin bezog gegen ein für die Partei unbedingt verbindliches, ihrer Politik stets übergeordnetes Prinzip des Demokratismus eine schroffe Frontstellung – eine in der Partei verbreitete Haltung. So betonte das Tomsker Komitee der SDAPR in einem Brief an die Iskra seine Ablehnung des »organisatorischen Demokratismus allgemein«, und es sah insbesondere »in der Einberufung des Gesamtparteitags auf demokratischer Grundlage einen überaus großen Fehler, der eine ernste Abweichung von den Prinzipien der revolutionären Sozialdemokratie darstellt und unvermeidlich die traurigsten Folgen für die gesamte Sache der Partei mit sich bringt.«42 Diese Haltung hat zum allgemeinen Hintergrund eine Auffassung, die in einer von Lenin in Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück zustimmend zitierten Passage der Diskussion auf dem II. Parteitag der SDAPR ihren Ausdruck fand. Ein Delegierter stellte dort die Frage:

»Ist es notwendig, unsere künftige Politik den einen oder anderen demokratischen Grundprinzipien unterzuordnen und ihnen einen absoluten Wert zuzusprechen, oder aber müssen alle demokratischen Prinzipien ausschließlich den Vorteilen unserer Partei untergeordnet werden?«

Und er fuhr fort: »Ich trete entschieden für das letztere ein. Es gibt kein demokratisches Prinzip, das wir nicht den Vorteilen unserer Partei unterordnen sollten. (Zwischenruf: ›Auch die Unantastbarkeit der Person?‹) Ja, auch die Unantastbarkeit der Person!«. Plechanow43 ergriff dazu das Wort und erklärte:

»Ich schließe mich voll und ganz den Worten des Gen. Possadowski an. Kein demokratisches Prinzip darf an sich, abstrakt betrachtet werden, ein jedes ist in seiner Relation zu dem Prinzip zu sehen, das man als Grundprinzip der Demokratie bezeichnen kann, und zwar zu dem Prinzip, das da lautet: salus populi suprema lex. Übersetzt in die Sprache des Revolutionärs heißt das, der Erfolg der Revolution ist oberstes Gesetz. Und wenn es für den Erfolg der Revolution erforderlich wäre, zeitweilig die Gültigkeit dieses oder jenes demokratischen Prinzips einzuschränken, dann wäre es ein Verbrechen, vor einer solchen Einschränkung haltzumachen. Meine persönliche Meinung dazu ist, dass sogar das Prinzip des allgemeinen Wahlrechts vom Standpunkt des von mir erwähnten Grundprinzips der Demokratie zu betrachten ist. Hypothetisch ist der Fall denkbar, dass wir Sozialdemokraten uns gegen das allgemeine Wahlrecht aussprechen.«44

Plechanow ist, darin mit den Menschewiki übereinstimmend, später von dieser Position abgerückt. Lenin hingegen ist bei diesem Standpunkt geblieben, hat den Umgang mit der Demokratie, ihre Gewährung oder Einschränkung, immer von dem abhängig gemacht, was er als augenblicklichen Nutzen für »die Sache der Revolution« in der jeweiligen Situation verstand.

Dies zum allgemeinen Hintergrund. Konkret ging es Lenin bei seiner Frontstellung gegen das Prinzip des Demokratismus natürlich um das Problem, dass die Existenz der Partei unter den Bedingungen der Illegalität und scharfer polizeilicher Verfolgung die Anwendung eines solchen demokratischen Verfahrens wie der Wahl von Funktionären durch die Masse der Mitglieder unmöglich machte. Schutz vor Verhaftungen und dem Auffliegen von Organisationen konnte nur durch strikte Konspiration ermöglicht werden, und auch das nur mit zeitweiligem Erfolg. Auch über diesen Sachverhalt – den unausweichlichen Verzicht auf formale Demokratie – bestand zunächst Übereinstimmung zwischen den Vertretern beider Richtungen in der Partei. Auch Martow sprach von den in Russland gegebenen »Bedingungen, die die Möglichkeit demokratischer Kontrolle unserer Organisation durch die Masse der bewussten Proletarier ausschließen«.45 Beträchtliche Unterschiede werden jedoch sichtbar, wenn man den Umgang mit diesem Sachverhalt näher betrachtet.

Lenin hatte sich zu diesem Thema schon in Was tun? in seiner Auseinandersetzung mit dem Vorwurf der Ökonomisten geäußert, seine Ansicht von der Organisation widerspreche dem demokratischen Prinzip. Er erklärte, diese Beschuldigung trage spezifisch »ausländischen«, d. h. von der russischen sozialdemokratischen Emigration geprägten Charakter und führte aus, »dass das ›umfassende demokratische Prinzip‹ die beiden folgenden notwendigen Vorbedingungen einschließt: erstens vollständige Publizität und zweitens Wählbarkeit aller Funktionäre. Ohne Publizität und dazu eine Publizität, die sich nicht nur auf die Mitglieder der Organisation beschränkt, wäre es lächerlich, von Demokratismus zu reden. […]niemand wird eine Organisation als demokratisch bezeichnen, die für alle Nichtmitglieder vom Schleier des Geheimnisses verhüllt ist. […] Welchen Sinn hat also die Aufstellung des ›umfassenden demokratischen Prinzips‹, wenn die wichtigste Vorbedingung für eine Geheimorganisation unerfüllbar ist? Das ›umfassende Prinzip‹ erweist sich einfach als eine tönende, aber hohle Phrase. […] Diese Phrase zeugt von einem absoluten Unverständnis für die dringenden Aufgaben, vor denen wir gegenwärtig in organisatorischer Hinsicht stehen. Alle wissen, wie groß der Mangel an Konspiration ist[…]«.46

Diese polemische Zurückweisung von Illusionen über die Möglichkeit demokratischer Verfahren und diesen Hinweis auf die Dringlichkeit von Konspiration in der konkreten Situation konnten vermutlich auch Lenins Kontrahenten unterschreiben, wenngleich schon hier Zweifel anzumelden sind, ob damit das demokratische Prinzip, auch in der damaligen Situation, abgetan sein konnte. Wenige Seiten später aber spitzte Lenin in seiner unnachahmlichen Art, ›den Bogen nach der anderen Seite zu überspannen‹, weiter zu. Er schrieb nun: »Das einzige ernste Organisationsprinzip muss für die Funktionäre unserer Bewegung sein: strengste Konspiration, strengste Auslese der Mitglieder, Heranbildung von Berufsrevolutionären«.47 Das Prinzip des Demokratismus bleibt als unernstes Organisationsprinzip auf der Strecke, als eine Spielerei also, auf die kein Wort zu verschwenden ist. Angesichts dieser Verabsolutierung des Prinzips der Konspiration kann man sich der Einschätzung Martows nicht verschließen, der zu Lenins Was tun? schrieb:

»Dieser Kultus der ›Berufsrevolutionäre‹ führte in der Frage des Aufbaues der Parteiorganisation zu den extremsten Schlussfolgerungen. Keinerlei Konzessionen an das Prinzip der Wählbarkeit sowie an das Prinzip der demokratischen Kontrolle der Masse der Parteimitglieder über die leitenden Organe, – das war die Folge!«

Soweit darin zum Ausdruck kam, so Martow, dass unter den Bedingungen der Illegalität nicht der Aufbau der westeuropäischen Parteien nachgeahmt werden konnte, »waren diese Übertreibungen begreiflich und verhältnismäßig unschädlich. Sie wurden aber gefährlich, soweit die absolute Form, in die Lenin seine Thesen kleidete, Anlass bot, entsprechende Schlussfolgerungen für jede wirkliche revolutionäre Arbeiterpartei unter allen geschichtlichen Bedingungen zu ziehen«48, was Lenin selbst später zu Zeiten der Kommunistischen Internationale tun sollte.

Die Menschewiki und mit ihnen Plechanow wiesen Lenins Vorstellungen, »die auf der Ideea d m i n i s t r a t i v e rUnterordnung der ganzen Partei unter einen oder einige Hüter oder Verkörperungen der Doktrin beruhen«49, zurück, weil sie darin die Gefahr sahen, »einen rein äußerlichen, formal-bürokratischen Zentralismus in der Parteiorganisation zu entwickeln mit allen seinen Folgen – einer sektiererischen Zirkelwirtschaft, ständigen Spaltungen und der faktischen Machtlosigkeit der Parteizentren bei tatsächlichem Triumph unserer althergebrachten innerparteilichen Anarchie«.50 Sie sahen darin ein System des Zentralismus, »das das eigentliche Prinzip des Zentralismus entstellt und kompromittiert«.51 »Wenn man den Inhalt etwas näher betrachtet, den Lenin und seine Anhänger in die Begriffe ›orthodoxer Marxismus‹ und ›revolutionäre Sozialdemokratie‹ hineinlegen«, schrieb Axelrod52 an Kautsky, »dann erhalten wir dürre und inhaltsleere ›Ideen‹: ›Zentralismus‹ und ›strenge Disziplin‹ contra ›Demokratismus‹, ›Disziplinlosigkeit‹ oder ›Anarchie‹ und ›Autonomismus‹. Die ersten beiden werden ein wenig konkretisiert mit der Forderung nach unbedingtem ›Gehorsam‹ und ebensolcher ›Unterordnung‹, einer Forderung, die in derP r a x i snicht in ›Jakobinertum‹, Blanquismus und dergleichen mehr ausartet, sondern in die gewöhnlichste, jämmerliche Karikatur auf das bürokratisch-autokratische System unseres Innenministeriums«.53

Die Ablehnung des leninschen Zentralismusmodells fand die Unterstützung Rosa Luxemburgs, die in Lenins Arbeit Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück eine systematische Darstellung der Ansichten der »ultrazentralistischen Richtung« sah – »eines rücksichtslosen Zentralismus, dessen Lebensprinzip einerseits die scharfe Heraushebung und Absonderung des organisierten Trupps der ausgesprochenen und tätigen Revolutionäre von dem sie umgebenden, wenn auch unorganisierten, aber revolutionär-aktiven Milieu [ist], andererseits die straffe Disziplin und die direkte, entscheidende und bestimmende Einmischung der Zentralbehörde in alle Lebensäußerungen der Lokalorganisationen der Partei«. Bei ihm fungiere das ZK als der eigentliche aktive Kern der Partei, alle übrigen Organisationen lediglich als seine ausführenden Werkzeuge.54

Während sich für Lenin mit der Unmöglichkeit formal-demokratischer Verfahren unter den Bedingungen der Konspiration das Problem des Demokratismus vorerst erledigt hat, Nachdenken und gar Reden darüber unnütze Zeitverschwendung war, legten seine Kontrahenten das Schwergewicht auf einen anderen, trotz der unerlässlichen Konspiration wenigstens ansatzweise realisierbaren Gesichtspunkt, den der demokratischen Kommunikation zwischen den (nach dem geltenden martowschen § 1 des Statuts viel weiter als in Lenins Verständnis gefassten) Mitgliedern und Gliederungen der Partei sowie den zentralen Körperschaften. Martow ging es darum, »zwischen den lokalen Einrichtungen der Partei und ihren zentralen Organen eine feste und auf gegenseitigem Vertrauen beruhende Verbindung zu schaffen, angesichts derer die Frage eines Antagonismus der lokalen ›Interessen‹ und jener der Gesamtpartei gar nicht erst entstehen kann«. Und dies bedeutete, »dass die Zentren der Partei den lebhaftesten Verkehr mit allen sozialdemokratischen Parteiarbeitern unterhalten müssen und dass, je mehr uns die russischen Bedingungen dazu zwingen, aus unseren organisatorischen Beziehungen das formal-›demokratische‹ Prinzip zu tilgen, wir um so mehr vermeiden müssen, es durch ein ebenso formal-›bürokratisches‹ Prinzip zu ersetzen; um so wichtiger sind sie (demokratische Grundsätze – H. P.) für uns, damit die Parteizentren sich mit ihrer Tätigkeit unter dem ständigen Druck der ›öffentlichen Meinung‹ der Partei, der bewussten Revolutionäre befinden, die sich um so bereitwilliger den bisweilen strengen Forderungen der Disziplin unterwerfen werden, je mehrP a r t e i -und je wenigerZ i r k e lcharakter die Politik der Zentren tragen und je ernsthafter sie mit dieser öffentlichen Meinung rechnen wird.«55

Für Lenin spielte natürlich der Verkehr zwischen den verschiedenen Ebenen in der Partei auch eine gewichtige Rolle, worauf wir später noch einmal zurückkommen werden. Er hob die Notwendigkeit hervor, »dass alle, die an der Arbeit teilnehmen, dass ausnahmslos sämtliche Zirkel das Recht haben, ihre Beschlüsse, Wünsche, Anfragen sowohl dem Komitee als auch dem zo und dem ZK zur Kenntnis zu bringen«.56 Ihn trieb dabei aber nicht der Wunsch, die Zentrale dem Druck der öffentlichen Meinung in der Parteimitgliedschaft auszusetzen. Ihm war besonders wichtig:

»Damit die Zentralstelle nicht nur (wie es bisher der Fall war) beraten, überreden, diskutieren, sondern das Orchester wirklich dirigieren kann, ist es erforderlich, dass man genau weiß, wer wo welche Geige spielt[…].«57

Die auf diese Weise erreichbare Kontrollierbarkeit aller Mitglieder der revolutionären Organisation58 sieht eher wie deren Beaufsichtigung im Sinne ihrer Disziplinierung aus – Lenin weist wohl nicht zufällig in diesem Zusammenhang darauf hin, »dass eine aus wirklichen Revolutionären bestehende Organisation vor keinem Mittel zurückschrecken wird, wenn es gilt, sich von einem untauglichen Mitglied zu befreien« (Ein Schelm, wer Arges dabei denkt!), und verweist auf die öffentliche Meinung unter den Revolutionären als eine Kraft, »die mit schonungsloser Härte jede Verletzung der Pflichten der Kameradschaft straft«.59 Martow dagegen geht es darum, die unter den Bedingungen der Konspiration natürlich eingeschränkten Möglichkeiten demokratischer Kommunikation konsequent zu nutzen, denn daraus erst kann eine rational begründete Urteilsfähigkeit der Mitglieder und eine in ihrer bewussten Mitwirkung am geistigen Leben der Partei wurzelnde ›öffentliche Meinung‹ erwachsen und damit ständiger produktiver Druck der Mitgliedschaft auf die Leitungen, die der Konspiration wegen so stark im Verborgenen arbeiten müssen. Auf diesem Wege wird auch der Erfolg sichtbar, mit dem der Druck der öffentlichen Meinung ausgeübt wird. Der unter den Bedingungen der Illegalität noch nicht mögliche Vollzug ›formal‹-demokratischer Verfahren der Wahl oder Absetzung von Funktionären und Leitungen wird erst unter der Voraussetzung demokratischer Kommunikation zum unverfälschten Ausdruck des Willens der Mitgliedschaft. Ohne diese, das haben uns die traurigen Erfahrungen langer Jahre in der ›Partei neuen Typs‹ und im von ihr geführten Staat gelehrt, bleiben Wahlen und andere formaldemokratische Verfahren ein Steuerungsinstrument in den Händen unkontrollierter Führer.

Besondere Besorgnis der Minderheit löste die von Lenin den zentralen Parteiinstanzen zuerkannte Machtfülle aus. Für Plechanow war diese Frage »der zentrale Punkt allen unseren Streits um die Organisation. Sobald sie nur eine angemessene Lösung erfährt, erledigen sich alle übrigen Streitpunkte fast von selbst«.60 Er setzte sich scharf mit den Auffassungen von der Organisation auseinander, die Vertreter der Parteikomitees von Ufa, des mittleren Urals und von Perm in einem Brief an die Iskra geäußert hatten. Er zitiert sie:

»Sowohl Komitees als auch einzelne Mitglieder der Partei können sehr große Vollmachten erhalten, das aber muss vom Zentralkomitee abhängen. Umgekehrt kann das Zentralkomitee auch, wenn es das für nötig und nützlich hält, kraft seiner Macht ein Komitee oder eine andere Organisation auflösen, es kann diesem oder jenem Parteimitglied seine Rechte entziehen. An- ders ist es unmöglich, die Sache des proletarischen Kampfes erfolgreich zu organisieren.«61

Plechanow schrieb dazu:

»Mit diesen Worten drücken die ›Vertreter‹ das ganze Wesen ihrer organisatorischen Ansichten aus. Und nicht nur ihrer. Ich bin überzeugt, dass mit ihnen fast alle Anhänger der ›Mehrheit‹ übereinstimmen, und das ZK selbst hat nicht nur einmal seine Überzeugung geäußert, dass ihm im Interesse ›des proletarischen Kampfes‹ das unbegrenzte Recht zusteht, Menschen ›zu kassieren‹. Eben dieses Recht weigert sich die ›Minderheit‹ unserer Partei ihm zuzuerkennen. Ist der Anspruch des ZK begründet? Das werden wir gleich sehen.«

Daran nun schließt Plechanow schwerwiegende Befürchtungen an:

»Stellen Sie sich vor, dass wir alle das bislang umstrittene Recht des ZK zu ›kassieren‹ anerkannt hätten. Und nun geschieht folgendes: Da ein Parteitag bevorsteht, ›kassiert‹ das ZK überall alle mit ihm unzufriedenen Elemente, setzt überall seine Kreaturen ein und sichert sich, mit ihnen alle Komitees auffüllend, ohne Mühe eine völlig beruhigende Mehrheit auf dem Parteitag. Der aus den Kreaturen des ZK zusammengesetzte Parteitag schreit ›Hurra!‹, billigt alle erfolgreichen und misslungenen Handlungen des ZK und applaudiert allen seinen Plänen und Unternehmungen. Dann werden wir in der Tat weder eine Partei der Mehrheit noch eine der Minderheit haben, weil dann bei uns das Ideal des persischen Schahs verwirklicht wird.«62

Plechanow kommentiert:

»Die ›Vertreter‹ (der Parteikomitees von Ufa, des mittleren Urals und von Perm – H. P.) nennen das Zentralismus. Es reicht[…]! Das wäre schlicht und einfach eine fest um den Hals unserer Partei zugezogene Schlinge. Das wäre Bonapartismus, wenn nicht die absolute Monarchie nach alter, vorrevolutionärer Manier. Ihr bildet euch ein, dass so ein angeblicher ›Zentralismus‹ für die Sache des proletarischen Kampfes notwendig sei, ich aber sage euch, dass er absolut nichts mit dem proletarischen Kampf gemeinsam hat. Und allein das Entstehen der Vorstellung von ihm in den Köpfen russischer Sozialdemokraten zeigt, dass unsere Partei leider ihre Kindheitsperiode noch nicht hinter sich gelassen hat. Ein solcher Zentralismus hätte wahrscheinlich dem verewigten Sergej Netschajew63 gefallen, aber er kann keinesfalls von einem orthodoxen Marxisten gutgeheißen werden, der sich die Herrschaft über seine geistigen Fähigkeiten bewahrt hat.«64

Und weiter:

»›Natürlich‹, fahren die ›Vertreter‹ fort, ›stellen wir uns das Zentralkomitee als Kollegium der erfahrensten, energischsten, am meisten gestählten Kämpfer vor, der klügsten und erprobtesten Verfechter der Ideen des revolutionären Sozialismus; ihnen kann und muss man deshalb gestatten, sich in jede Kleinigkeit der Sache einzumischen, man kann und muss gestatten, ihnen umfassende Vollmachten zu übertragen.‹ Ein Kollegium der erfahrensten und klügsten Kämpfer! Wo denkt ihr denn hin, […] über wen macht ihr euch lustig? Welcher erfahrene und kluge Mensch wollte wohl in solch ein Kollegium eintreten, das, eurem Plan zufolge, nicht weniger wäre als ein verbrecherischer Anschlag auf das Leben der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei?I ne i ns o l c h e sK o l l e g i u mw ü r d e nn u rb e s ch r ä n k t eE h r g e i z l i n g eg e h e nw o l l e n .Ehrgeizlinge, weil sie entschlossen wären, aus den Interessen der Partei das Postament für ihren persönlichen Ruhm zu machen. Beschränkte, weil sie nicht verstünden, wie niedrig, brüchig und kläglich ein solches Postament wäre. Nein, wenn unsere Partei sich wirklich mit einer solchen Organisation bedenken würde, so bliebe in ihren Reihen sehr bald Platz weder für kluge Menschen noch für gestählte Kämpfer. In ihr verblieben nur Frösche, die schließlich den gewünschten Zaren erhalten hätten; freilich einenZ e n t r a l e nK r a n i c h ,der diese Fröschlein ungehindert eines nach dem anderen verschlänge.«65

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