Buch lesen: «Psychologie», Seite 3

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Akzentuierungen

der möglichst differenzierten Beschreibung des psychischen Geschehens bzw. sozialen Verhaltens,

dem Erklären von Verhaltensweisen,

dem Verstehen von Verhaltensweisen,

dem Erstellen von Prognosen zukünftigen Verhaltens,

dem Entwickeln von Maßnahmen der Veränderung

liegen.

Erinnern wir uns noch einmal an die Aufgaben der Alltagstheorien. Mit Hilfe seiner Alltagstheorien orientiert sich das Individuum in sozialen Situationen, schätzt die weitere Entwicklung ab und handelt dementsprechend.

Man kann nun leicht erkennen, dass die Aufgaben des Alltags und die der Wissenschaft sich entsprechen. So gesehen, gibt es keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Alltagstheorien und den Theorien in der Wissenschaft. Der Unterschied liegt eher im methodischen Vorgehen und im Geltungsbereich.

Je nachdem, welcher der dargestellten Aufgabenbereiche schwerpunktmäßig bearbeitet wird, lassen sich drei Typen psychologisch-wissenschaftlicher Forschung unterscheiden:

Forschungstypen

Beschreibende (deskriptive) Forschung: Wie sieht Realität aus?

Hypothesen-(Theorien-)prüfende Forschung: Warum ist das so?

Wirkungs-(Entwicklungs-)Forschung: Wie kann sie verändert werden?

beschreibend

Die deskriptive Forschung ist Grundlage jeglicher psychologischen Forschung überhaupt. Ohne sie kann es keine hypothesenprüfende Forschung und auch keine Entwicklungsforschung geben. Wir müssen jedoch feststellen, dass wir in vielen Bereichen der sozialen Realität über Beschreibungen nicht hinausgekommen sind, ja, dass wir häufig nicht einmal über genügend differenzierte Beschreibungen verfügen.

hypothesenprüfend

In der hypothesenprüfenden Forschung wird versucht, diejenigen Regeln zu entdecken, mit deren Hilfe wir die beschriebene Realität erklären könnten. Nicht ganz korrekt lässt sich dieser Typ von Forschung als Grundlagenforschung bezeichnen. Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen neigen manchmal dazu, die hypothesenprüfende Forschung als die wissenschaftliche Tätigkeit überhaupt zu bewerten. Aufgestellte Theorien müssen sich bewähren und zumindest potentiell zur Realitätsbewältigung beitragen. Sonst werden sie für die soziale Realität bedeutungslos.

anwendend/entwickelnd

Die Entwicklungsforschung dagegen wird nicht selten von Berufspraktikern hoch geschätzt. Sie unterliegen dem Druck, kurzfristig konkrete Aufgaben erledigen zu müssen. Dazu erwarten sie konkrete Hilfe und vergessen allzu leicht, dass Entwicklungsforschung ohne hypothesenprüfende Forschung langfristig nicht möglich ist. Sie erschöpfte sich sonst in »blindem« Aktionismus.

Tagtäglich kommen wir als Einzelpersonen in unserer sozialen Welt nur zurecht, weil wir uns orientieren, Entwicklungen abschätzen und dementsprechend handeln. In gleicher Weise wird die Psychologie als Wissenschaft nur dann im Dienste der Menschen stehen, wenn im aktiven Forschungsprozess alle drei Forschungstypen gefördert werden. Es besteht somit keinerlei Veranlassung, die beschriebenen Forschungstypen unterschiedlich zu bewerten. Jeder ist, auf seine Art, gleichermaßen notwendig und legitim.

Mit was beschäftigt sich die Psychologie nun aber inhaltlich? Etwas anschaulicher wird das Bild von der Wissenschaft Psychologie, wenn man ihre Aufgliederung in Teilgebiete betrachtet.

2.2.2. Teilgebiete der Psychologie

Wenngleich eine klare Trennung zwischen Teilgebieten nicht immer möglich ist, kann eine entsprechende Aufteilung ein Mindestmaß an Orientierung bieten und so einen weiteren Einstieg in die Psychologie erleichtern. Bei der Aufteilung der einzelnen Gebiete kann unterschieden werden in solche, deren Bearbeitung relativ unabhängig von der gesellschaftlichen Situation erfolgt (Grundprinzipien des Lernens können beispielsweise unabhängig von den sozialen Bezügen der Menschen außerhalb der menschlichen Gesellschaft an Ratten oder Tauben untersucht werden) und in solche Gebiete, deren Bearbeitung in Abhängigkeit von konkreten gesellschaftlichen Situationen geschieht (beispielsweise lassen sich die Wirkungen von Fließbandarbeit nur untersuchen und sind nur ein Problem, wenn Fließbandarbeit existiert). Zuweilen werden diese unterschiedlichen Gebiete auch als Grundlagen- bzw. Anwendungsbereiche bezeichnet.

In diesem Sinne sind Grundlagengebiete: Allgemeine Psychologie einschließlich Forschungsmethodik, Differenzielle Psychologie, Entwicklungspsychologie und Sozialpsychologie. Anwendungsgebiete sind z. B.: Arbeits- und Organisationspsychologie, Klinische Psychologie oder Pädagogische Psychologie.

Grundlagen

Die Allgemeine Psychologie hat das zum Forschungsgegenstand, was für alle Individuen zutrifft. Sie sucht nach allgemeinen Prinzipien, Regeln oder Gesetzmäßigkeiten psychischer Prozesse. Ihre wichtigsten Forschungsfelder sind Wahrnehmung, Lernen, Gedächtnis, Denken, Motivation und Emotion. Die Entwicklung von Forschungsmethoden kann ebenfalls dem Aufgabenbereich der Allgemeinen Psychologie zugeordnet werden.

Die Differenzielle Psychologie kann als Gegenstück zur Allgemeinen Psychologie beschrieben werden. Sie untersucht die Unterschiede zwischen Personen und versucht, diese zu erklären. Ein damit zusammenhängendes Arbeitsgebiet ist die psychologische Diagnostik.

Die Entwicklungspsychologie beschreibt und erklärt die Entwicklung von Menschen. Sie fragt danach, wie einzelne Funktionen (z. B. das Denken), Merkmale der Person (z. B. die Intelligenz) oder einzelne Verhaltensaspekte (z. B. hilfreiches Verhalten) sich im Laufe des Lebens verändern. Eine häufige Beschreibungsform ist die nach Lebensabschnitten. So entsteht eine Psychologie des Kleinkindes, des Kindes, des Jugendlichen, des Erwachsenen und des alten Menschen.

Die Sozialpsychologie hat das Verhalten und Erleben von Personen in ihren sozialen Beziehungen zum Gegenstand. Sie fragt nach der gegenseitigen Beeinflussung der Menschen untereinander.

Anwendungen

Die Arbeits- und Organisationspsychologie beschäftigt sich mit allen Fragen des Arbeits- und Berufslebens (z. B. Berufseignung oder optimale Gestaltung des Arbeitsplatzes) sowie den Einflüssen von Strukturen und Organisationsformen in Betrieben und Behörden auf den Einzelnen.

Die Pädagogische Psychologie umfasst den Problembereich des Erziehens und Unterrichtens in Familien und Institutionen.

Die Klinische Psychologie ist dasjenige Teilgebiet, das sich mit den Störungen des Verhaltens und Erlebens befasst. Sie wird beispielsweise in der Arbeit von Psychotherapeuten, Ehe- oder Familienberatern sichtbar.

Solche Teilgebietsnennungen sind nun keine klaren unveränderlichen Beschreibungen. Die Teilgebiete stehen miteinander in Beziehung; die Übergänge sind fließend. So kann etwa eine allgemeinpsychologische Fragestellung durchaus entwicklungspsychologisch bearbeitet werden (z. B. das Denken: wie entwickelt es sich etwa von Geburt bis zur Einschulung?). Die praktischen Probleme der Erziehungsberatung können beispielsweise zum Bereich der Pädagogischen und der Klinischen Psychologie gezählt werden. Innerhalb der Arbeits- und Organisationspsychologie gibt es eindeutig pädagogisch-psychologische Fragestellungen (z. B. die der beruflichen Weiterbildung, Umschulung oder Rehabilitation).

Psychologie ist veränderlich. Mit ihren Teilgebieten verhält es sich nicht anders. Sie verändern sich, tauchen auf oder verschwinden wieder. Von »Charakterkunde« spricht kaum noch jemand in der Psychologie. Biopsychologie ist ein relativ neues, aufstrebendes Fach, das nach den biologischen Grundlagen des Verhaltens und Erlebens sucht. In der Pädagogischen Psychologie etwa nahmen, mit zurückgehenden Schüler- und Lehrerzahlen, die Forschungsaktivitäten im Bereich der Schule ab, während die Zunahme alter Menschen in unserer Gesellschaft die Frage nach einer pädagogischen Betreuung drängend werden lässt. Es entsteht eine Gerontopsychologie. Eine Öko-Psychologie, die nach den Konsequenzen des Umweltgebrauchs und Missbrauchs für menschliches Verhalten und Erleben fragt, scheint sich vorerst nur zögernd zu entwickeln.

Kurz: Psychologie ist eine dynamische Wissenschaft und kein geschlossenes System. Dies ist durchaus etwas Faszinierendes, wenn man bereit ist, lange Zeit die Unsicherheit zu ertragen, nicht genau zu wissen, was Psychologie »eigentlich« ist.

2.3. Psychologische Erkenntnis: Weichenstellungen im Erkenntnisprozess

Jeder Mensch gewinnt im Laufe seiner Biographie Lebenserfahrung über andere Menschen, erwirbt Wissen über deren Charakter, findet Erklärungen ihres Verhaltens und entwickelt know-how der Beeinflussung anderer Menschen. Ein solches Erfahrungswissen findet sich zu allen Zeiten; es ist heutzutage gespeist auch von psychologischen Ratgebern in Buchform, von Fernsehmagazinen oder Wochenendseminaren. In einem gewissen Sinne ist jeder Mensch ein handlungspraktisch (mehr oder weniger) erfolgreicher Psychologe. Von einem solchen alltagspraktisch gewonnenen Erfahrungswissen über andere Menschen unterscheidet sich das psychologische Wissen einer Psychologin vor allem dadurch, dass diese ihre Erkenntnisse in einen ausgebauten Theoriezusammenhang einbindet und aus diesem heraus begründen kann, dass sie ihre Erkenntnisse methodisch kontrolliert und in nachvollziehbarer Weise gewinnt – und dadurch, dass sie in einem gesellschaftlichen Kontext als Psychologin tätig ist, in dem ihr und ihrem Wissen ein bestimmter Status und eine bestimmte Reputation verliehen ist. Im Unterschied zu alltagspraktischer Erkenntnis über andere Menschen, die durchaus »aus dem Bauch heraus« zustande kommen kann, muss die Psychologin ihre Erkenntnis strengen Begründungs- und Rechtfertigungsanforderungen unterwerfen. Damit wird psychologische Erkenntnis nicht wahrer, richtiger oder besser als alltagspraktische Erkenntnis. Sie wird aber zur Erkenntnis mit besonderer Verfahrensqualität. Wodurch diese besondere Qualität zustande kommt, soll im folgenden mit der Erläuterung des typischen Forschungsablaufs gezeigt werden.

Erkenntnis als Problemlösen

Eine ausführliche Darstellung gibt Breuer (1991). Dabei wird für diese Darstellung die Erkenntnistätigkeit als Problemlöse-Prozess betrachtet. Jede Erkenntnis beginnt mit der Wahrnehmung eines Problems – dies ist in der Entdeckungszusammenhang Psychologie nicht anders als in anderen Wissenschaften. Dieses Problem kann die Psychologin im Rahmen ihrer systematischen Forschungstätigkeit erkennen (»Die Vorbildfunktion von Boygroups auf Kinder russischer Migranten zwischen 10 und 13 Jahren ist noch nicht untersucht.«), dieses Problem kann sie aufgrund ihrer persönlichen Biographie umtreiben (»Was wissen wir eigentlich über die Entstehungsbedingungen von Homosexualität?«) oder es kann von Auftraggebern an sie herangetragen werden (»Wie können wir das Arbeitsklima in unserem Unternehmen verbessern?«). Diese Phase wird auch als Entdeckungszusammenhang bezeichnet.

Begründungszusammenhang

An diese Phase schließt die Problemformulierung an. Bei der Problemformulierung erfolgt eine kritische Weichenstellung im Erkenntnisprozess. Je nach Wahl der Begrifflichkeit und des theoretischen Hintergrunds erhält das Problem an dieser Stelle eine spezifische Kontur oder »Handschrift«. Wahl der Theorien Die Entscheidung für das gewählte Vokabular bzw. die gewählte Theorie ist daher begründungspflichtig. Diese Phase wird auch als Begründungszusammenhang bezeichnet. Diese Begründung kann allerdings immer nur bis zu einer gewissen »Tiefe« gegeben werden. »Darunter« liegt die besondere Forscherindividualität, die in ihrer Subjektivität durch das Problem angesprochen und »zum Klingen« gebracht wird. Diese Subjektivität der Forscherin ist notwendige Bedingung von Erkenntnistätigkeit (Devereux 1998). Für die Lösung eines Problems liefern unterschiedliche Theorien unterschiedliche Perspektiven. Sie geben an, in welcher Richtung die Lösung gesucht werden könnte und welche Folgen dann wahrscheinlich wären. Diejenige, die viele Theorien kennt, wird viele Perspektiven einnehmen können. Sie wird fähig sein, »ihr« Problem facettenreich zu analysieren. Je mehr Perspektiven sie einzunehmen vermag, desto eher wird sie eine angemessene Lösung finden. Theorien verhelfen so zu einem höheren Grad an Reflexionsfähigkeit und steigern mittelbar die praktische Kompetenz.

Wahl der Methoden

Das Ausgangsproblem hat jetzt den Status einer theoriegeleiteten Fragestellung. Mit der Wahl eines bestimmten Theoriezusammenhangs sind meist auch schon Grundsatzentscheidungen für das weitere Vorgehen – die Wahl der Methode – bei der empirischen Untersuchung verbunden, d. h. der Untersuchung eines Wirklichkeitsausschnitts. Alle Tätigkeiten der Psychologin sind in dieser Phase hohen Anforderungen an Planung, Kontrolle und Transparenz unterworfen. Die Art und Weise, in der die Psychologin zu ihren Erkenntnissen kommt, muss von anderen Menschen nachvollzogen werden können bzw. begründet kritisiert werden können. Dies schließt den faktischen Vollzug von Forschungstätigkeit und seine Beeinflussung durch Faktoren der Arbeitsbedingungen und Forscherkommunikation mit ein (vgl. Knorr-Cetina 2002).

Verwertungszusammenhang

Eine weitere Weichenstellung in der Erkenntnistätigkeit tritt auf, wenn die Psychologin ihre Erkenntnisse formuliert. Das gewählte Darstellungsmuster und die Entscheidung für einen bestimmten wissenschaftlichen Schreibstil prägt wiederum die besondere Kontur ihrer Ergebnisse (vgl. Geertz 1993).

Mit der Übermittlung der Ergebnisse überlässt die Psychologin ihre Erkenntnisse der (fach-) wissenschaftlichen Öffentlichkeit, der Öffentlichkeit generell oder auch dem Auftraggeber im Besonderen. Hier entscheidet sich, wie die Erkenntnisse aufgenommen werden (Rezeption): Liefern sie Anregungen für weitere Forschung, werden sie in der Lehre eingesetzt, finden sie Eingang in die Berichterstattung, werden sie praktisch umgesetzt, werden sie ignoriert? Diese Phase wird auch als Verwertungszusammenhang bezeichnet.

2.4. Psychologische Untersuchungsperspektiven

2.4.1. Unterschiedliche Wissenschaftsauffassungen

Jede Wissenschaftlerin fühlt sich einem bestimmten Konzept wissenschaftlicher Tätigkeit verpflichtet, einer Methodologie.

Innerhalb der Psychologie als empirischer Wissenschaft gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher Haltungen (oder »Mentalitäten«), aus denen heraus man seine Erkenntnisse gewinnen will und kann. Diese Haltung bestimmt den Zuschnitt wissenschaftlicher Erkenntnisse ganz wesentlich. Wenn zwei Psychologinnen also von ihrer wissenschaftlichen Arbeit sprechen, können sie darunter etwas durchaus Verschiedenes verstehen oder sogar eine Debatte darüber führen, ob es sich bei der Arbeit der jeweils anderen wirklich um wissenschaftliche Erkenntnis handelt. Mit der Entscheidung für eine bestimmte Haltung übernimmt die Wissenschaftlerin persönliche Verantwortung, die sie – jedenfalls im Rahmen demokratischer Gesellschaften – nicht »objektiven Interessen«, »höheren Instanzen«, dem »Zeitgeist« oder anderen Größen übertragen kann. Diese Haltungen unterscheiden sich in dem Selbstverständnis, das sie der Psychologin als Wissenschaftlerin vermitteln, in den Prinzipien, die für sie als Forscherin leitend sind, in den Methoden, die nahegelegt werden oder im Stil der wissenschaftlichen Texte. Die wichtigsten dieser wissenschaftstheoretischen Konzepte werden im Folgenden skizziert:

Kritischer Rationalismus

Kritische Theorie

Grounded Theory

Feminismus

Konstruktivismus.

Kritischer Rationalismus

Der Kritische Rationalismus ist zweifelsohne die vorherrschende Wissenschaftsauffassung in der gegenwärtigen Psychologie. Er entwickelte sich im zwanzigsten Jahrhundert aus Ansätzen, die bestrebt waren, die Psychologie aus der Philosophie herauszulösen (siehe Abschnitt 2.1.), und die (elitäre) philosophische Wesensschau durch die (demokratische) transparente, nachvollziehbare Beobachtung ersetzen wollten.

Die kritische Rationalistin orientiert sich an einer Haltung, wie sie innerhalb der Naturwissenschaften propagiert wird: die der distanzierten, methodisch kontrollierten, theoriegeleiteten Beobachtung von Untersuchungsobjekten (klassischerweise im Laborexperiment). Ziel ist die Ermittlung von Erkenntnissen in Form gesetzesmäßiger Aussagen oder allgemeiner Tendenzen, die in allgemeiner Form einen Zusammenhang formulieren (»wenn ..., dann ...«). Handlungsleitende Prinzipien sind:

die logisch stringente Ableitung von Fragestellungen bzw. Hypothesen aus Theorien;

der Einsatz von Untersuchungsverfahren, die strengen Gütestandards entsprechen;

das Postulat der Wertfreiheit der Erkenntnis, d. h. die strikte Konzentration auf objektbezogene Aussagen und das Vermeiden nicht disziplinär bezogener, z. B. politischer, gesellschaftlicher, pädagogischer, etc. Bewertungen der Erkenntnisse.

Kritische Theorie

Die Kritische Theorie hat sich aus marxistischen Grundüberlegungen heraus entwickelt und versucht, diese Überlegungen auf Verhältnisse der Gegenwart zu beziehen. Eine klassische Untersuchung ist die Studie zur Autoritären Persönlichkeit von Theodor W. Adorno (1995).

Die Anhängerin der Kritischen Theorie begreift sich als Wissenschaftlerin, die dazu beitragen will, den Einfluss gesellschaftlicher Strukturen, insbesondere gesellschaftlicher Widersprüche, auf das Bewusstsein und das Verhalten von Menschen bewusst zu machen und dadurch zur Aufhebung dieser Widersprüche beizutragen. Im strikten Gegensatz zur kritischen Rationalistin betrachtet sie ihre Tätigkeit als politische, nämlich in emanzipatorischer Absicht. Sie versteht sich als Aufklärerin.

Die kritische Theorie setzt in der Psychologie bei der subjektiven Erfahrung gesellschaftlicher Widersprüche an und versucht, die psychologischen Auswirkungen solcher Widersprüche zu bestimmen. Sie bevorzugt den Einsatz qualitativer Verfahren wie z. B. Tiefeninterviews und Gruppendiskussionsverfahren, mit denen sie subjektive Spuren solcher Widersprüche aufzudecken hofft.

Grounded Theory

Die Grounded Theory wurde im Rahmen der verstehenden Soziologie entwickelt, die die Untersuchung der elementaren Strukturen des Alltagslebens zum Programm gemacht hat. Von der Soziologie aus hat sie sich mittlerweile auch in die Psychologie ausgebreitet (z. B. Breuer 1996).

Die Anhängerin der Grounded Theory begreift sich als Forscherin, die die Lebenswirklichkeit von Menschen aus deren Perspektive erkennen möchte. Sie sieht ihre Aufgabe darin, subjektive Sichtweisen von Menschen zu rekonstruieren und verständlich zu machen und zu zeigen, wie Menschen ihrer Existenz Sinn verleihen. Ziel ist ein vertieftes Verstehen fremder Perspektiven. Sie versteht sich als Wissenschaftlerin, die für ihre Forschung eine enge Beziehung zu den untersuchten Menschen entwickeln muss, um diese verstehen zu können. Diese Haltung wird am prägnantesten durch die Ethnographin verkörpert. Der vertiefte Kontakt zu den Untersuchungspersonen ist schon deswegen wichtig, weil die Forscherin nur auf dieser Grundlage Charakteristika der Perspektiven und Sichtweisen ermitteln und als wissenschaftlich leitende Fragestellungen formulieren und verfolgen kann. Die Hypothesenbildung erfolgt also, wie man auch sagt, empirisch geleitet. Das Vorgehen ist qualitativ; es erfolgt in Feldforschung mit Hilfe von Interviewtechniken (v. a. narrativen Interviews) und mit Beobachtungs- und Dokumentenanalysen (v. a. Gesprächsanalysen, vgl. Deppermann 2008).

Feminismus

Der Feminismus ist eine Wissenschaftsströmung, die sich im Zuge der Emanzipationsbewegung entwickelt und sich mittlerweile in allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen positioniert hat. Großen Einfluss in der Psychologie hatte die Arbeit von Gilligan (1993).

Die feministische Wissenschaftlerin begreift sich in starkem Maße in ihrer Forschungstätigkeit als politisch handelnd. Ihr Ziel ist die Emanzipation von Frauen aus den gegebenen, als patriarchalisch betrachteten Verhältnissen. Dieses Ziel der Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung von Frauen bestimmt ihr wissenschaftliches Handeln. Sie ist entschieden parteiisch. Sie betrachtet bisherige Vorgehensweisen in der Wissenschaft als »Instrument zur Herrschaftssicherung« (Mies 1987, S. XX) und propagiert statt dessen »aktive Teilnahme an emanzipatorischen Aktionen und die Integration von Forschung in diese Aktionen. Dies bedeutet ferner, dass die Veränderung des Status Quo als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Erkenntnis angesehen wird. Das Motto für diese Vorgehensweise könnte sein: »Um ein Ding kennenzulernen, muß man es verändern« (Mies 1987, S. XX). Der prinzipielle Herrschaftsverdacht traditionellen Formen und Verfahren wissenschaftlicher Tätigkeit gegenüber stellt auch das Prinzip der Beobachtung in Frage, da die Erkenntnisgewinnung über das Beobachten, d. h. das Sehen, als männlich geprägte Erkenntnisweise betrachtet wird (Mies 1987). Erkenntnismöglichkeiten über andere Sinnesmodalitäten (Hören, Fühlen) werden diskutiert.

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus hat sich im Zuge der Postmoderne als Wissenschaftsauffassung etabliert; eine programmatische Darstellung in der Psychologie ist die von Gergen (1985). Die Konstruktivistin will das Selbst- und Weltverständnis von Menschen zum einen in Frage stellen und zum anderen zeigen, dass dieses auf der Grundlage kulturell vorgegebener Muster erfolgt. Sie nimmt psychologische Phänomene gleichsam nicht für bare Münze, sondern fragt nach den Redeweisen, in denen solche Phänomene erwähnt werden. Sie hält solche Phänomene – kurz gesagt – für gesellschaftliche Erfindungen, z. B. die Erfindung der »Mutterliebe« (vgl. Badinter 1999). Den Gründen und Folgen solcher Erfindungen sucht sie auf die Spur zu kommen. Ein Verfahren, das sie dabei einsetzt, ist die Dekonstruktion, d. h. das kritische Hinterfragen selbstverständlich erscheinender Annahmen, Vorstellungen und Denkgewohnheiten. Die Konstruktivistin hat in besonderer Weise Abstand zu den Dingen, die sie untersucht, und nimmt eine Haltung an, die auch als ironisch gekennzeichnet wird – sie betrachtet Phänomene nicht als real, sondern als kulturell ausgedachte Konstruktionen, die entsprechend nicht ernsthaft als Gegenstände der Wirklichkeit untersucht werden können.

2.4.2. Zusammenfassende Übersicht

Im Schema Übersicht über verschiedene Wissenschaftstheorien auf S. 33 stellen wir die verschiedenen Auffassungen stichwortartig noch einmal gegenüber. Um die Unterschiedlichkeit deutlich zu machen, wählen wir ein psychologisches Untersuchungsphänomen, »Liebe«, und zeigen, wie dieses Phänomen in den verschiedenen Wissenschaftsauffassungen zum Thema gemacht werden würde.

2.5. Forschungsmethoden in der empirischen Psychologie

Wissenschaftliche Tätigkeit zeichnet sich durch ein begründetes und kontrolliertes Vorgehen bei der Gewinnung von Erkenntnissen aus. Eine Wissenschaftlerin muss bei der Mitteilung ihrer Erkenntnisse die Frage »Woher weißt Du das?« sehr genau und ausführlich beantworten können. Innerhalb der Psychologie haben sich bestimmte Vorgehensweisen oder Methoden eingebürgert bzw. durchgesetzt, die die Wissenschaftlerin bei ihrer Erkenntnisgewinnung anleiten. Die Leistung solcher Methoden besteht darin, dass sie den Erkenntnisprozess systematisieren und kontrollieren. Im Rahmen der empirischen Psychologie spielen u. a. die folgenden Bewertungskriterien eine Rolle:

Objektivität: die Methode soll Ergebnisse liefern unabhängig von der Person, die die Methode einsetzt. Das bedeutet: Wenn mehrere Personen ein und denselben Gegenstand untersuchen, sollte jeweils dasselbe Ergebnis herauskommen.

Reliabilität

Reliabilität: die Methode sollte beim Untersuchungsobjekt immer wieder zu demselben Ergebnis führen. Das bedeutet: Wenn ein und derselbe Gegenstand mit der Methode zu unterschiedlichen Zeiten untersucht wird, sollte sich jeweils dasselbe Ergebnis finden – vorausgesetzt, dass der Gegenstand selbst sich nicht verändert.

Validität

Validität: die Methode soll den Gegenstand erfassen können, der untersucht werden soll. Das bedeutet: Wenn ein bestimmtes Merkmal (z. B. »Intelligenz«) einer Person untersucht werden soll, dann sollte die Methode wirklich genau dieses Merkmal erfassen und nicht noch ein anderes (z. B. »Aufmerksamkeit«).

Diese Gütekriterien sind im Rahmen des Kritischen Rationalismus (siehe Abschnitt 2.4.) entwickelt worden. Inwieweit sie auf das Vorgehen im Rahmen anderer Methodologien angewendet werden können, ist daher umstritten (zur Entwicklung anderer Gütekriterien vgl. Nothdurft 1998, S. 54ff.). Aber selbst wenn die Kriterien anerkannt werden, gilt: Psychologische Methoden erfüllen diese drei Kriterien niemals vollständig, sondern jeweils nur annäherungsweise. Dies macht es notwendig, stets abzuwägen, unter welchen Umständen welches Kriterium am wichtigsten ist.


Kritische TheorieGrounded TheoryFeminismusKonstruktivismus
Selbstverständnis als Wissenschaftlerinobjektiv analytisch Distanz zum Untersuchungsobjektpolitisch-kritisch dialektischverstehende Haltung Untersuchungsobjekt gegenüber ethnographischparteiisch emanzipatorisch Identifikation mit Untersuchungsobjekthistorisch-kritisch dekonstruktivistisch ironisch sprachanalytische Haltung zum Untersuchungsobjekt
Prinzipien des VorgehensAbleitung von Hypothesen aus Theorien kontrollierte Beobachtung kritische Prüfung des Vorgehens Wertfreiheit der Erkenntnisallgemeine gesellschaftliche Widersprüche an Phänomenen des Psychischen aufzeigen und bewusst machenempirisch geleitete Hypothesenbildung Beobachtung Binnenperspektive des Untersuchungsobjekts rekonstruieren (subjektiver Sinn)»Um ein Ding kennenzulernen, muss man es verändern« Forschung muss Beitrag zum Emanzipationsprozess leisten Integration von Forschung in politische AktionAufzeigen des untersuchten Phänomens als historisch-kulturell konstruiert
VertreterKarl PopperTheodor W. AdornoAnselm Glaser & Barney StraussCarol GilliganKenneth Gergen
typischer TextQuantitative StudieEssay Qualitative StudieQualitative StudieManifestEssay
Beispiel »Liebe«»Messung emotionaler Erregungszustände von Jugendlichen in Abhängigkeit von …«»Das Durchschlagen kapitalistischer Grundwidersprüche auf die Entwicklung intimer Beziehungen von Jugendlichen«»Das interaktive Management von Flirtbeziehungen in US-amerikanischen Großstadtbars«»Maßnahmen gegen die Unterdrückung weiblicher Empfindungsfähigkeit in patriarchalischen Arbeitsstrukturen«»Die Konstruktion erotischer Handlungsmuster im französischen Film der 30er Jahre«

Schema: Übersicht über verschiedene Wissenschaftstheorien

Zwei wichtige Methoden in der Psychologie werden im Folgenden vorgestellt:

das Experiment

die Feldforschung.

Experiment

Im Experiment werden Individuen, Versuchspersonen (Vpn) im Rahmen eines experimentellen Designs systematisch und kontrolliert Reizen ausgesetzt und dann ihre Reaktionen beobachtet und erfasst (gemessen). Ziel ist die Feststellung von Ursache-Wirkungsbeziehungen (»wenn ..., dann ...«).

Die Vorteile von Experimenten liegen auf der Hand. Es kann präzise das untersucht werden, was untersucht werden soll. Im Idealfall können Ursache-Wirkungs-Beziehungen eindeutig identifiziert werden. Dies gelingt um so besser, je restriktiver, also »künstlicher« die experimentelle Situation ist. Experimente eignen sich so vorzüglich zur Prüfung spezifischer Hypothesen. Dieser Vorteil muss mit einem Nachteil erkauft werden: Je künstlicher die Experimentalsituation ist, desto schwieriger wird die Übertragung der Ergebnisse auf natürliche Situationen.

Das experimentelle Vorgehen soll an einem Beispiel näher erläutert werden, ohne dass auf spezielle Fragen des Designs und der Planung eingegangen wird. Angenommen, es ginge um die Fragestellung, ob es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Videokonsum und Aggressivität bei Jugendlichen gibt.

Hypothese

Beim experimentellen Vorgehen würde die Frage nach einem Zusammenhang präzisiert zu einer Hypothese: »Erhöhter Konsum von Horror-Videos führt zur Steigerung der Aggressivität«.

Plan

Ein möglicher Untersuchungsplan: Einer Gruppe von Jugendlichen werden ausgewählte Horror-Videos gezeigt (Experimentalgruppe). Vorher und nachher erfasst man ihr aggressives Verhalten. Eine zweite Gruppe sieht währenddessen »harmlose« Videos (Kontrollgruppe). Auch bei ihnen wird das aggressive Verhalten vor und nach dem Videokonsum erfasst.

Ergebnis

Ein mögliches Ergebnis: Die Experimentalgruppe zeigt nach dem Videokonsum stärkeres aggressives Verhalten als vorher und als die Kontrollgruppe.

Leistung des Experimentes: Eindeutiger Nachweis der Wirkungsweise der ausgewählten Videos.

Offene Fragen: Werden Jugendliche, die sich solche Videos anschauen, sich auch in natürlichen Situationen (z. B. Jugendbegegnungsstätte) aggressiver verhalten? Dort werden sie durch viele weitere Faktoren beeinflusst sein (Freunde, Betreuer, Langeweile, Drogen), die ihr aggressives Verhalten ebenfalls fördern oder hemmen können. Das aggressive Verhalten in natürlichen Situationen wird aufgrund des experimentellen Ergebnisses allein nur unzulänglich vorhersagbar sein.

Feldforschung

In der Feldforschung (Ethnographie) wird das Verhalten von Menschen in natürlichen Situationen beobachtet und die Menschen werden zu ihren Verhaltensweisen befragt. Ziel ist es, zu einem genauen Verständnis des Verhaltens bzw. der Situation zu gelangen. Es geht um möglichst reiche, »dichte« Beschreibungen der Sichtweisen der Beteiligten und des Zusammenspiels ihrer Verhaltensweisen. Der Vorteil der Feldforschung liegt in ihrer Realitätsnähe, womit ein höheres Maß an praktischer Relevanz erreicht werden kann. Als Nachteil muss die eingeschränkte Eindeutigkeit und Generalisierbarkeit in Kauf genommen werden.

Fragestellung

Auch bei der Feldforschung erfolgt als erstes eine Zuspitzung der Fragestellung, hier zum einen hinsichtlich der untersuchten Situation, und zum anderen hinsichtlich einer genaueren Bestimmung, was »Zusammenhang« heißen soll.

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