Buch lesen: «Hans Fallada – Gesammelte Werke», Seite 47

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69. Anna Quangels schwerster Entschluss

Anna Quan­gel hat­te es schwe­rer als ihr Mann: sie war eine Frau. Sie sehn­te sich nach Auss­pra­che, Sym­pa­thie, ein we­nig Zärt­lich­keit – und jetzt war sie im­mer al­lein, von mor­gens bis abends mit dem Ent­wir­ren und Aufrol­len von Bind­fä­den be­schäf­tigt, die sack­wei­se in ihre Zel­le ge­stellt wur­den. So knapp sie ihr Mann auch mit Wor­ten und Ta­ten der Ge­mein­sam­keit ge­hal­ten hat­te, die­ses We­nig schi­en ihr jetzt wie ein Pa­ra­dies, ja, die An­we­sen­heit nur ei­nes stum­men Otto wäre ihr schon ein Se­gen ge­we­sen.

Sie wein­te viel. Der har­te, lan­ge Dun­kelar­rest hat­te ihr biss­chen Kraft ge­nom­men, die­ses biss­chen durch das Wie­der­se­hen mit Otto wie­der auf­ge­flamm­te Kraft, das sie in der Haupt­ver­hand­lung so stark und mu­tig ge­macht hat­te. Sie hat­te zu sehr hun­gern und frie­ren müs­sen, sie muss­te es ja auch jetzt in ih­rer kah­len Ein­zel­zel­le. Sie konn­te nicht wie ihr Mann den schma­len Kü­chen­zet­tel mit ro­hen Erb­sen auf­bes­sern, sie hat­te es nicht ge­lernt wie er, ih­rem Tag eine sinn­vol­le Ein­tei­lung zu ge­ben, einen wech­seln­den Rhyth­mus, der im­mer noch et­was wie Freu­de er­war­ten ließ: nach der Ar­beit eine Stun­de Spa­zier­gang oder die Zufrie­den­heit über einen frisch ge­wa­sche­nen Kör­per.

Auch Anna Quan­gel hat­te es ge­lernt, nachts aus dem Zel­len­fens­ter zu lau­schen. Aber sie stand nicht nur manch­mal an ihm, sie tat es all­nächt­lich. Und sie flüs­ter­te, sie sprach am Fens­ter, sie er­zähl­te ihre Ge­schich­te, sie frag­te im­mer wie­der nach Otto, nach Otto Quan­gel … O Gott, wuss­te denn wirk­lich hier nie­mand, wo Otto war, wie es ihm ging, Otto Quan­gel, ja doch, ein äl­te­rer Werk­meis­ter, aber noch rüs­tig, sah so und so aus, drei­und­fünf­zig Jah­re – sie muss­ten es doch wis­sen!

Sie merk­te es nicht, oder sie woll­te es nicht mer­ken, dass sie den an­de­ren läs­tig fiel mit ih­ren ewi­gen Fra­gen, ih­rem hem­mungs­lo­sen Er­zäh­len. Hier hat­te jede ihre ei­ge­nen Sor­gen.

»Halt doch end­lich mal dei­ne Klap­pe, du da, Num­mer 76, das wis­sen wir nun al­les, was du quatschst!«

Oder auch: »Ach, das ist die wie­der mit ih­rem Otto, von hin­ten und von vor­ne Otto, was?«

Oder ganz scharf: »Wenn du nicht end­lich die Klap­pe hältst, ver­pfei­fen wir dich! Jetzt wol­len auch mal and­re dran­kom­men!«

Kroch dann Anna Quan­gel end­lich tief in der Nacht un­ter ihre De­cke, schlief sie noch viel spä­ter ein, so fand sie am nächs­ten Mor­gen nicht recht­zei­tig her­aus. Die Auf­se­he­rin schalt mit ihr und droh­te ihr einen neu­en Ar­rest an. Spät setz­te sie sich an die Ar­beit, zu spät. Sie muss­te sich het­zen und mach­te al­len Er­folg ih­rer Het­ze­rei wie­der zu­nich­te, weil sie ein Geräusch auf dem Flur ge­hört zu ha­ben glaub­te und nun an der Tür lausch­te. Eine hal­be Stun­de lang, eine Stun­de lang. Sie, die eine ru­hi­ge, freund­li­che, müt­ter­li­che Frau ge­we­sen war, ver­än­der­te sich durch die Ein­zel­haft so, dass alle sich an ihr är­ger­ten. Da die Auf­se­he­rin­nen stets Mühe mit ihr hat­ten und un­freund­lich mit ihr wa­ren, fing sie Streit mit ih­nen an; sie be­haup­te­te, ihr gebe man am we­nigs­ten und am schlech­tes­ten zu es­sen, aber die meis­te Ar­beit. Schon ein paar­mal hat­te sie sich bei die­sem Wort­ge­fecht so er­hitzt, dass sie zu schrei­en an­fing, ein­fach sinn­los zu schrei­en.

Dann hielt sie selbst er­schro­cken inne. Sie be­dach­te den Weg, den sie ge­gan­gen war, bis in die­se kah­le To­des­zel­le hin­ein, sie dach­te an ihr Heim in der Ja­blons­ki­stra­ße, das sie nie wie­der­se­hen wür­de, sie er­in­ner­te sich des Soh­nes Otto, wie er grö­ßer wur­de, sei­nes kind­li­chen Ge­plau­ders, der ers­ten Schul­sor­gen, der klei­nen grau­en Hand, die mit un­ge­schick­ter Zärt­lich­keit ihr ins Ge­sicht ge­fasst hat­te – ach, die­se Kin­der­hand, die sich in ih­rem Lei­be, aus ih­rem Blut zu Fleisch ge­bil­det hat­te, sie war längst wie­der zu Erde zer­fal­len, sie war ihr auf ewig ver­lo­ren. Sie dach­te an die Näch­te, da die Tru­del bei ihr im Bett ge­le­gen hat­te, wenn sie flüs­ternd, den blü­hen­den jun­gen Leib nahe dem ih­ri­gen, sich stun­den­lang un­ter­hal­ten hat­ten, über den stren­gen Va­ter, der drü­ben im Bett schlief, über Ot­to­chen und über ihre Zu­kunfts­aus­sich­ten. Aber auch die Tru­del war ver­lo­ren.

Und dann dach­te sie an die ge­mein­sa­me Ar­beit mit Otto, an den Kampf, den sie bei­de über zwei Jah­re in al­ler Stil­le ge­führt hat­ten. Die Sonn­ta­ge ka­men ihr in Erin­ne­rung, wenn sie ge­mein­sam am Tisch in der Stu­be sa­ßen, sie in der So­fae­cke, St­rümp­fe stop­fend, und er auf sei­nem Stuhl, sein Schreib­zeug vor sich, ge­mein­sam Sät­ze for­mu­lie­rend, ge­mein­sam Träu­men von großem Er­folg nach­hän­gend. Ver­lo­ren, vor­bei, al­les ver­lo­ren, al­les vor­bei! Ein­sam in der Zel­le, nur noch den na­hen, ge­wis­sen Tod vor sich, ohne Wort von Otto, viel­leicht nie wie­der sein Ge­sicht – al­lein zum Ster­ben, al­lein im Gra­be …

Sie geht stun­den­lang in der Zel­le auf und ab, sie er­trägt es nicht. Sie hat ihre Ar­beit ver­ges­sen, die Bind­fa­den­knäu­el lie­gen noch im­mer ver­kno­tet und ver­wirrt auf der Erde, sie stößt sie mit dem Fuße fort, un­ge­dul­dig – und als die Wär­te­rin die Zel­le am Abend auf­schließt, ist nichts ge­tan. Es gibt har­te Wor­te, aber sie hört gar nicht hin, mö­gen die doch mit ihr ma­chen, was sie wol­len, mö­gen die sie doch schnell hin­rich­ten – umso bes­ser!

»Passt auf, was ich euch sage«, sagt die Auf­se­he­rin ih­ren Kol­le­gin­nen. »Die fängt bald an zu spin­nen, hal­tet im­mer schon eine Tob­ja­cke be­reit. Und seht oft nach ihr rein, die ist im­stan­de und bau­melt sich am hel­ler­lich­ten Tage, im Handum­dre­hen bau­melt sie sich auf, und wir ha­ben nach­her die Sche­re­rei­en!«

Aber dar­in hat die Auf­se­he­rin un­recht: an Auf­bau­meln denkt Anna Quan­gel nicht. Was sie am Le­ben er­hält, was selbst die­ses nie­de­re Da­sein ihr le­bens­wert er­schei­nen lässt, das ist der Ge­dan­ke an Otto. Sie kann doch nicht so von hier fort­ge­hen, sie muss war­ten, viel­leicht be­kommt sie eine Nach­richt von ihm, viel­leicht wird ihr so­gar er­laubt, ihn noch ein­mal vor ih­rem Tode wie­der­zu­se­hen.

Und dann, ei­nes Ta­ges un­ter die­sen trü­ben Ta­gen, scheint das Glück ihr zu lä­cheln. Eine Wär­te­rin öff­net plötz­lich die Zel­len­tür: »Mit­kom­men, Quan­gel! Be­such!«

Be­such? Wer soll mich hier be­su­chen? Ich habe doch kei­nen, der mich hier be­su­chen kann. Es wird Otto sein! Es muss Otto sein! Ich füh­le es, das ist Otto!

Sie wirft einen Blick auf die Wär­te­rin, sie möch­te ihr so ger­ne die Fra­ge nach dem Be­su­cher stel­len, aber es ist ge­ra­de eine Wär­te­rin, mit der sie stän­dig Streit ge­habt hat, sie kann die­se Frau nicht fra­gen. Sie folgt ihr, am gan­zen Lei­be zit­ternd, sie sieht nichts, sie weiß nicht, wo­hin sie ge­hen, sie er­in­nert sich nicht mehr, dass sie bald ster­ben muss – sie weiß nur, sie geht zu Otto, zu dem ein­zi­gen Men­schen auf der gan­zen Welt …

Die Wär­te­rin über­gibt die Ge­fan­ge­ne 76 ei­nem Wacht­meis­ter, sie wird in eine Stu­be ge­führt, die durch ein Git­ter in zwei Hälf­ten ge­teilt ist, auf der an­de­ren Sei­te des Git­ters steht ein Mann.

Und alle Freu­de fällt von Anna Quan­gel ab, als sie die­sen Mann sieht. Es ist nicht Otto, es ist nur der alte Kam­mer­ge­richts­rat Fromm. Da steht das Männ­lein, sieht ihr ent­ge­gen mit sei­nen blau­en Au­gen, die von ei­nem Fält­chen­kranz um­ge­ben sind, und sagt: »Ich woll­te doch mal nach Ih­nen se­hen, Frau Quan­gel.«

Der Auf­sichts­be­am­te hat sich ans Git­ter ge­stellt, er be­trach­tet nach­denk­lich die bei­den. Dann wen­det er sich ge­lang­weilt ab und geht ans Fens­ter.

»Schnell!«, flüs­tert der Rat und hält ihr durchs Git­ter et­was hin.

In­stink­tiv fasst sie zu.

»Ste­cken Sie es weg!«, flüs­tert er.

Und sie ver­birgt das wei­ße Röll­chen.

Ein Brief von Otto, denkt sie, und ihr Herz klopft wie­der frei­er. Die Ent­täu­schung ist über­wun­den.

Der Be­am­te hat sich wie­der um­ge­dreht und sieht vom Fens­ter her auf die bei­den.

End­lich fin­det Anna ein paar Wor­te. Sie be­grüßt den Kam­mer­ge­richts­rat nicht, sie sagt kei­nen Dank, sie stellt die ein­zi­ge Fra­ge, die sie noch auf der Welt in­ter­es­siert: »Ha­ben Sie Otto ge­se­hen, Herr Kam­mer­ge­richts­rat?«

Der alte Herr wiegt den klu­gen Kopf hin und her. »Nicht in der letz­ten Zeit«, ant­wor­tet er. »Aber ich habe durch Freun­de ge­hört, dass es ihm gut geht, sehr gut. Er hält sich wun­der­bar.«

Er be­denkt sich und setzt nach ei­nem kur­z­en Zö­gern hin­zu: »Ich glau­be, ich darf Sie von ihm grü­ßen.«

»Dan­ke«, flüs­tert sie. »Dan­ke sehr.«

Vie­le ver­schie­de­ne Emp­fin­dun­gen sind bei sei­nen Wor­ten durch sie ge­lau­fen. Wenn er ihn nicht ge­se­hen hat, kann er auch kei­nen Brief von ihm ha­ben. Aber nein, er spricht von Freun­den; viel­leicht be­kam er durch die Freun­de einen Brief? Und die Wor­te »Er hält sich wun­der­bar« ge­ben ihr Glück und Stolz … Und die­ser Gruß von ihm, die­ser Gruß zwi­schen den Ei­sen- und Stein­zel­len, die­ser Früh­ling zwi­schen Mau­ern! O herr­lich, herr­lich, ein herr­li­ches Le­ben!

»Sie se­hen aber nicht gut aus, Frau Quan­gel«, sagt der alte Rat.

»Ja?«, fragt sie, ein we­nig ver­wun­dert, geis­tes­ab­we­send. »Aber mir geht es gut. Sehr gut. Sa­gen Sie das Otto. Bit­te, sa­gen Sie es ihm! Ver­ges­sen Sie nicht, ihn von mir zu grü­ßen. Sie wer­den ihn doch se­hen?«

»Ich den­ke, ja«, ant­wor­tet er zö­gernd. Er ist so pe­ni­bel, der klei­ne, or­dent­li­che Herr. Die kleins­te Un­wahr­heit die­ser Ster­ben­den ge­gen­über wi­der­strebt ihm. Sie ahnt es ja nicht, wel­che Lis­ten er hat auf­wen­den, wel­cher Int­ri­gen er hat an­zet­teln müs­sen, um die­se Be­suchs­er­laub­nis zu er­hal­ten! Dass er sei­ne sämt­li­chen Be­zie­hun­gen hat ein­span­nen müs­sen! Für die Welt ist Anna Quan­gel ja tot – kann man denn Tote be­su­chen?

Aber er wagt ihr nicht zu sa­gen, dass er Otto Quan­gel in die­sem Le­ben nie wie­der­se­hen wird, dass er nichts von ihm ge­hört hat, dass er eben ge­lo­gen hat mit sei­nem Gruß, um die­ser völ­lig ver­fal­le­nen Frau doch ein we­nig Mut zu ge­ben. Manch­mal muss man eben auch Ster­ben­de be­lü­gen.

»Ach!«, sagt sie plötz­lich ganz leb­haft, und – sie­he! – ihre blas­sen, ein­ge­fal­le­nen Wan­gen rö­ten sich. »Sa­gen Sie Otto doch, wenn Sie ihn se­hen, dass ich alle Tage, dass ich jede Stun­de an ihn den­ke und dass ich be­stimmt weiß, ich wer­de ihn noch se­hen, ehe ich st­er­be …«

Der Auf­se­her sieht einen Au­gen­blick ver­wirrt auf die al­tern­de Frau, die hier spricht wie ein jun­ges, ver­lieb­tes Mäd­chen. Al­tes Stroh brennt am hells­ten!, denkt er und geht wie­der ans Fens­ter.

Sie hat nichts da­von ge­merkt, sie fährt fie­ber­haft fort: »Und sa­gen Sie Otto doch auch, dass ich eine schö­ne Zel­le habe für mich ganz al­lein. Es geht mir gut. Ich den­ke im­mer an ihn, und so bin ich glück­lich. Ich weiß, dass uns nie et­was tren­nen kann, nicht Mau­ern, nicht Git­ter. Ich bin bei ihm, jede Stun­de bei Tag und bei Nacht. Sa­gen Sie ihm das!«

Sie lügt, oh, wie sie lügt, um ih­rem Otto nur et­was Gu­tes zu sa­gen! Sie will ihm Ruhe ge­ben, die Ruhe, die sie nicht eine Stun­de ge­habt hat, seit sie in die­sem Hau­se ist.

Der Kam­mer­ge­richts­rat schielt zu dem Auf­se­her hin­über, der aus dem Fens­ter starrt, er flüs­tert: »Ver­lie­ren Sie nicht, was ich Ih­nen ge­ge­ben habe!«, denn Frau Quan­gel sieht aus, als habe sie die gan­ze Welt ver­ges­sen.

»Nein, ich ver­lie­re nichts, Herr Rat.« Und plötz­lich lei­se: »Was ist es?«

Und er noch lei­ser: »Gift, Ihr Mann hat es auch.«

Sie nickt.

Der Be­am­te am Fens­ter dreht sich um. Er sagt mah­nend: »Hier darf nur laut ge­spro­chen wer­den, sonst ist gleich Schluss. Üb­ri­gens«, er be­fragt sei­ne Uhr, »ist die Be­suchs­zeit so­wie­so in an­dert­halb Mi­nu­ten um.«

»Ja«, sagt sie nach­denk­lich. »Ja«, und plötz­lich weiß sie, wie sie es sa­gen soll. Sie fragt: »Und glau­ben Sie, dass Otto bald ver­rei­sen wird – vor sei­ner großen Rei­se noch? Glau­ben Sie das?«

Ihr Ge­sicht drückt jetzt so sehr schmerz­li­che Un­ru­he aus, dass selbst der stump­fe Be­am­te merkt, es geht hier um ganz an­de­re Din­ge, als ge­spro­chen wird. Ei­nen Au­gen­blick will er ein­schrei­ten, aber dann sieht er die­se al­tern­de Frau an und die­sen Herrn mit dem wei­ßen Spitz­bart, der laut Be­suchs­schein Kam­mer­ge­richts­rat ist – der Be­am­te hat eine groß­mü­ti­ge An­wand­lung und sieht wie­der aus dem Fens­ter.

»Ja, das ist schwer zu sa­gen«, ant­wor­tet der Rat vor­sich­tig. »Mit dem Rei­sen ist es ja jetzt auch schwie­rig.« Und ganz rasch, flüs­ternd: »War­ten Sie bis zur al­ler­letz­ten Mi­nu­te, viel­leicht se­hen Sie ihn noch vor­her. Ja?«

Sie nickt, sie nickt wie­der.

»Ja«, ant­wor­tet sie laut. »So ist es wohl das Al­ler­bes­te.«

Und dann ste­hen sich die bei­den stumm ge­gen­über, plötz­lich füh­len sie, sie ha­ben sich nichts mehr zu sa­gen. Zu Ende. Vor­bei.

»Ja, ich glau­be, ich muss dann ge­hen«, sagt der alte Rat.

»Ja«, flüs­tert sie zu­rück, »ich glau­be, es wird Zeit.«

Und plötz­lich – der Auf­se­her hat sich schon um­ge­wen­det und sieht, mit der Uhr in der Hand, auf­for­dernd die bei­den an – über­kommt es Frau Quan­gel. Sie presst den Kör­per ge­gen das Git­ter, sie flüs­tert, den Kopf an den Git­ter­stä­ben: »Bit­te, bit­te – Sie sind viel­leicht der letz­te an­stän­di­ge Mensch auf der Welt, den ich zu se­hen be­kom­me. Bit­te, Herr Rat, ge­ben Sie mir einen Kuss! Ich wer­de die Au­gen zu­ma­chen, ich wer­de glau­ben, es ist Otto …«

Manns­toll!, denkt der Auf­se­her. Soll hin­ge­rich­tet wer­den und noch im­mer manns­toll! Und so ein ol­ler …

Aber der alte Rat sagt mit sanf­ter, freund­li­cher Stim­me: »Nicht ban­ge sein, Kind, nicht ban­ge sein …«

Und sei­ne al­ten, dün­nen Lip­pen be­rüh­ren sanft ih­ren tro­ckenen, ris­si­gen Mund.

»Nicht ban­ge sein, Kind. Sie ha­ben den Frie­den bei sich …«

»Ich weiß«, flüs­tert sie. »Ich dan­ke Ih­nen sehr, Herr Rat.«

Dann ist sie wie­der in ih­rer Zel­le, die Bind­fä­den lie­gen un­or­dent­lich am Bo­den, und sie geht hin und her, sie un­ge­dul­dig mit den Fü­ßen in die Ecken sto­ßend, wie in ih­ren schlimms­ten Ta­gen. Sie hat den Zet­tel ge­le­sen, sie hat ihn ver­stan­den. Sie weiß nun, Otto wie sie ha­ben eine Waf­fe, sie kön­nen je­der­zeit die­ses jam­mer­vol­le Le­ben von sich wer­fen, wenn es gar zu un­er­träg­lich wird. Sie braucht sich nicht mehr quä­len zu las­sen, sie kann jetzt, in die­ser Mi­nu­te, da noch ein biss­chen Glück von dem Be­such in ihr ist, ein Ende ma­chen.

Sie wan­dert, sie re­det mit sich, sie lacht, sie weint.

An der Tür lau­schen sie. Sie sa­gen: »Jetzt fängt sie rich­tig an zu spin­nen. Ist die Tob­ja­cke be­reit?«

Die Frau drin­nen merkt nichts da­von, sie kämpft ih­ren schwers­ten Kampf. Sie sieht den al­ten Rat Fromm wie­der vor sich, sein Ge­sicht war so ernst, als er sag­te, sie möge bis zur al­ler­letz­ten Mi­nu­te war­ten, viel­leicht be­kom­me sie ih­ren Mann doch noch ein­mal zu se­hen.

Und sie hat ihm zu­ge­stimmt. Na­tür­lich ist es das Rich­ti­ge, sie muss war­ten, Ge­duld üben, viel­leicht dau­ert es noch Mo­na­te. Aber sei­en es auch nur noch Wo­chen, es ist so schwer, jetzt noch zu war­ten. Sie kennt sich doch, wie­der wird sie ver­zwei­feln, lan­ge wei­nen, in Trüb­sinn ver­fal­len, alle sind so hart mit ihr, nie ein gu­tes Wort, nie ein Lä­cheln. Die Zeit wird kaum zu er­tra­gen sein. Sie braucht nur ein biss­chen zu spie­len, mit der Zun­ge und mit den Zäh­nen, es braucht ja noch gar nicht Ernst zu sein, nur so ein biss­chen pro­bie­ren, und schon ist es ge­sche­hen. Es ist ihr jetzt so leicht ge­macht – es ist ihr zu leicht ge­macht!

Das ist es. In ir­gend­ei­ner Stun­de wird sie schwach sein, sie wird es tun, und in dem Au­gen­blick, da sie es ge­tan hat, in dem ganz klei­nen Au­gen­blick zwi­schen Tat und Tod wird sie es be­reu­en, wie sie nie et­was im Le­ben be­reut hat: sie hat sich der Aus­sicht be­raubt, ihn noch ein­mal wie­der­zu­se­hen, weil sie fei­ge und schwach war. Man wird ihm die Nach­richt von ih­rem Tode brin­gen, und er wird er­fah­ren, dass sie ihn ver­las­sen hat, dass sie ihn ver­ra­ten hat, dass sie fei­ge war. Und er wird sie ver­ach­ten, er, des­sen Ach­tung ihr al­lein auf der Welt et­was gilt.

Nein, sie muss die­se un­se­li­ge Glas­röh­re auf der Stel­le zer­stö­ren. Mor­gen früh kann es viel­leicht zu spät sein, wer weiß, in wel­cher Stim­mung sie mor­gen früh auf­wacht.

Aber auf dem Wege zum Kü­bel hält sie inne …

Und wie­der nimmt sie ihre Wan­de­rung auf. Plötz­lich hat sie sich er­in­nert, dass sie ster­ben muss und wie sie ster­ben muss. Sie hat es ja ge­hört in die­sem Ge­fäng­nis bei ih­ren Fens­ter­ge­sprä­chen, dass es nicht der Gal­gen sein wird, der sie er­war­tet, son­dern das Fall­beil. Sie ha­ben es ihr ger­ne ge­schil­dert, wie man sie auf den Tisch schnal­len wird, auf dem Bau­che lie­gend, wird sie in einen mit Sä­ge­mehl halb­ge­füll­ten Korb star­ren, und auf die­ses Sä­ge­mehl fällt in we­ni­gen Se­kun­den ihr Kopf. Man wird ih­ren Na­cken ent­blö­ßen, und über die­sem Na­cken wird sie die Käl­te des Fall­beils spü­ren, noch ehe es zu stür­zen be­ginnt. Dann wird das Sau­sen im­mer lau­ter wer­den, es wird in ih­ren Ohren dröh­nen wie die Trom­pe­te des Jüngs­ten Ge­richts, und dann wird ihr Kör­per nur ein zu­cken­des Et­was sein, des­sen Hals­stumpf di­cke Strah­len Blut aus­speit, wäh­rend der Kopf im Kor­be viel­leicht nach dem blut­spei­en­den Hal­se glotzt und noch se­hen kann, füh­len kann, lei­den kann …

So ha­ben sie es ihr er­zählt, und so hat sie es sich vie­le hun­dert Male vor­stel­len müs­sen, und da­von hat sie ge­träumt man­ches Mal, und von all die­sen Schreck­nis­sen kann ein ein­zi­ger Biss auf das Glas­röhr­chen sie be­frei­en! Und das soll sie von sich tun, die­se Er­lö­sung soll sie auf­ge­ben? Sie hat die Wahl zwi­schen ei­nem leich­ten Tod und ei­nem schwe­ren Tod – und sie soll den schwe­ren Tod wäh­len, bloß weil sie Furcht hat, schwach zu wer­den, vor Otto zu ster­ben?

Sie schüt­telt den Kopf, nein, sie wird nicht schwach wer­den. Sie kann das doch, war­ten bis zur letz­ten Mi­nu­te. Sie will Otto wie­der­se­hen. Sie hat die Angst aus­ge­hal­ten, die sie im­mer er­griff, wenn Otto die Kar­ten ab­leg­te, sie hat den Schreck der Ver­haf­tung aus­ge­hal­ten, sie hat die Quä­le­rei­en des Kom­missars Laub über­stan­den, sie hat Tru­dels Tod ver­wun­den – sie wird doch noch war­ten kön­nen, ein paar Wo­chen, ein paar Mo­na­te! Sie hat al­les er­tra­gen – auch dies wird sie er­tra­gen! Na­tür­lich muss sie das Gift auf­be­wah­ren bis zur letz­ten Mi­nu­te.

Sie wan­dert auf und ab, auf und ab.

Aber der eben ge­fass­te Ent­schluss er­leich­tert sie nicht. Von Neu­em be­ginnt der Zwei­fel, und von Neu­em schlägt sie sich mit ihm her­um, und wie­der be­schließt sie, das Gift jetzt, so­fort, auf der Stel­le zu ver­nich­ten, und wie­der tut sie es nicht.

Dar­über ist es Abend ge­wor­den und Nacht. Man hat die un­ge­ta­ne Ar­beit aus der Zel­le ge­holt, und es ist ihr er­öff­net wor­den, dass ihr we­gen Faul­heit für eine Wo­che die Ma­trat­ze ent­zo­gen und dass sie für eine Wo­che auf Was­ser und Brot ge­setzt wor­den ist. Aber sie hat kaum hin­ge­hört. Was geht das sie an, was die re­den?

Ihre Abend­sup­pe steht un­an­ge­rührt auf dem Tisch, und noch im­mer läuft sie auf und ab, tod­mü­de, kei­nes kla­ren Ge­dan­kens mehr fä­hig, eine Beu­te des Zwei­fels: Soll ich – soll ich nicht?

Jetzt spielt ihre Zun­ge mit dem Gift­röhr­chen im Mun­de, ohne dass sie es recht weiß, ohne dass sie es recht will, setzt sie ihre Zäh­ne sanft, sanft auf das Glas auf, ganz vor­sich­tig bei­ßen die Zäh­ne ein we­nig …

Und has­tig holt sie das Glas aus der Mund­höh­le. Sie wan­dert und pro­biert, sie weiß nicht mehr, was sie tut – und drau­ßen liegt die Tob­ja­cke für sie be­reit …

Dann plötz­lich, schon tief in der Nacht, ent­deckt sie, dass sie auf ih­rer Holz­prit­sche liegt, auf den har­ten Bret­tern, mit der dün­nen De­cke zu­ge­deckt. Sie zit­tert vor Käl­te am gan­zen Lei­be. Hat sie ge­schla­fen? Ist das Röhr­chen noch da? Hat sie es etwa ver­schluckt? Sie hat es nicht mehr im Mun­de!

Sie fährt in ir­rer Angst hoch, setzt sich auf – und lä­chelt. Da ist es – in ih­rer Hand. Sie hat es in der hoh­len Hand ge­hal­ten wäh­rend des Schlafs. Sie lä­chelt, noch ein­mal ist sie ge­ret­tet. Nicht den an­de­ren, fürch­ter­li­chen Tod muss sie ster­ben …

Und wäh­rend sie da so frie­rend sitzt, denkt sie dar­an, dass sie von heut an je­den Tag, der wer­den wird, die­sen schreck­li­chen Kampf kämp­fen muss zwi­schen Wil­len und Schwä­che, Feig­heit und Mut. Und wie un­ge­wiss der Aus­gang die­ses Kamp­fes ist …

Und durch Zwei­fel und Verzweif­lung hört sie eine sanf­te, gü­ti­ge Stim­me: Nicht ban­ge sein, Kind, bloß nicht ban­ge sein …

Plötz­lich weiß Frau Anna Quan­gel: Jetzt wer­de ich mich ent­schlie­ßen! Jetzt habe ich die Kraft!

Sie schleicht zur Tür, sie lauscht hin­aus auf den Gang. Der Schritt der Auf­se­he­rin nä­hert sich. Sie stellt sich an die Wand ge­gen­über, be­ginnt dann, als sie merkt, sie wird durch den Spi­on be­ob­ach­tet, lang­sam auf und ab zu ge­hen. Nicht ban­ge sein, Kind …

Erst als sie ganz si­cher ist, die Auf­se­he­rin ist wei­ter­ge­gan­gen, klet­tert sie am Fens­ter hoch. Eine Stim­me fragt: »Bist du das, 76? Hast du heu­te Be­such ge­habt?«

Sie ant­wor­tet nicht. Sie wird nie mehr ant­wor­ten. Mit der einen Hand hält sie sich an der Fens­ter­blen­de, die an­de­re streckt sie hin­aus, zwi­schen den Fin­gern das Röhr­chen. Sie drückt es ge­gen die Stein­wand, sie fühlt, der dün­ne Hals bricht ab. Sie lässt das Gift in die Tie­fe des Ho­fes fal­len.

Als sie wie­der in der Zel­le ist, riecht sie an ih­ren Fin­gern: sie rie­chen stark nach bit­te­ren Man­deln. Sie wäscht sich die Hän­de, sie legt sich auf das Bett. Sie ist tod­mü­de, ihr ist, als sei sie ei­ner schwe­ren Ge­fahr ent­ron­nen. Sie schläft rasch ein. Sie schläft sehr tief und traum­los. Sie wacht er­frischt auf.

Von die­ser Nacht an gab 76 kei­nen An­lass mehr zu Ta­del. Sie war ru­hig, hei­ter, flei­ßig, freund­lich.

Sie dach­te kaum noch an ih­ren schwe­ren Tod, sie dach­te nur noch dar­an, dass sie Otto Ehre ma­chen muss­te. Und manch­mal, in trü­ben Stun­den, hör­te sie wie­der die Stim­me des al­ten Kam­mer­ge­richts­rats Fromm: Nicht ban­ge sein, Kind, bloß nicht ban­ge sein.

Sie war es nicht. Nie mehr.

Sie hat­te es über­wun­den.

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Altersbeschränkung:
18+
Umfang:
5251 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783962813598
Rechteinhaber:
Bookwire
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