Kurz vor sieben sprang Kufalt noch einmal von seinem Sofa auf, auf dem er in einer Mischung von Verdrossenheit und bänglicher Erwartung gelegen hatte, sah in den Bibliotheksschrank, goss sich den Rest des Kognaks in ein Wasserglas, trank ihn herunter und lief zum nächsten Delikatessengeschäft. Mit einer neuen Flasche Kognak in der Manteltasche kam er zurück.
Er wusste, er trank zu viel in diesen letzten Tagen. Aber das war wie eine Krankheit, wie eine Schwäche. Als er eben nach seiner Steinbesorgung auf dem Sofa gelegen hatte, war das Gefühl stark in ihm geworden, von all dem loszukommen, wieder ein sauberes, ordentliches Leben zu führen. Wie gut war das Tippen von Adressen in Friedensheim gewesen, saubere Arbeit, zu der man frisch gewaschen am Morgen ging. Und jetzt …?
Es war geradezu lächerlich. Er sollte in vier Stunden losgehen, um probeweise Scheiben einzuschlagen, probeweise! Alles war sinnlos. Man musste doch irgendwie herauskommen aus dem. Es wäre denn doch noch tausendmal schlauer, sich allein auf den Jungfernstieg zu begeben und nicht probeweise, sondern endgültig Mut zu haben. Aber heute Nacht zur Probe – vielleicht nächste Nacht wieder zur Probe – ganz wie es dieses Schwein Batzke befahl, und dann viele Nächte noch? Und Verhandlungen und Verrätereien, und was kam am Ende?
Er wusste es, aber er wollte es nicht wissen, und so trank er noch einmal und legte sich wieder auf das Sofa.
Kaum war er eingedämmert, kaum hatte er vergessen, so klopfte es an seine Tür, und der alte freundliche Vogelkopf von Frau Pastorin Fleege sah herein und rief: »Höchste Zeit fürs Theater, Herr Lederer!«
Er fuhr hoch aus dem Schlaf, er schrie wütend: »Ach, lassen Sie mich zufrieden mit Ihrem dämlichen Theater!«
Der Kopf zog sich zurück, Kufalt schämte sich einen Augenblick und trank noch einmal.
Er versuchte wieder einzuschlafen, aber es wurde nichts mehr daraus.
So stand er denn auf und ging hin und her in seinem Zimmer, viele Stunden lang. Er hörte die alte Frau auf dem Gang rascheln, er hörte, wie sie an seine Zimmertür schlich, um zu lauschen, er wusste, er hatte ein Herz, zutraulich wie das eines Kindes, tief erschreckt, aber was war das alles …?
Nein, es war weder Reue noch Bedauern, noch Entschluss, es war gar nichts. Es war Hin-und-Herlaufen von einer Wand zur anderen, das konnte er, das hatte er gelernt. Fünf Schritte in der Zelle, nun gut, hier waren es acht. Hier gab es Gardinen und dort Gitter. Aber das war auch der ganze Unterschied. Zehn Uhr dreißig würde er aus dem Hause gehen. Es war ihm gesagt worden, er hätte um elf da und da zu sein. Also ging er zehn Uhr dreißig aus dem Haus. War es etwa anders, als wenn er zur Freistunde im Kittchen ging? Es war genau dasselbe.
Trinken, jawohl, einen feinen Nebel in sich erzeugen, der die Dinge unklarer machte. Weitertrinken, bis irgendeine strahlend rote Sonne in ihm aufging und alles umlog, es würde gut ausgehen, und er würde zehntausend Mark bekommen, und es würde das letzte Mal sein, und er würde sich einen kleinen Laden kaufen, irgendwo fern in Süddeutschland, wo ihn keiner kannte, wo ihm nie einer begegnete von jetzt. Er würde eine ordentliche Frau haben und Kinder, und es würde nie einen Streit geben …
Da läuft er hin! Siehe, er hat ein Ende erwischt, er rollt den ganzen Faden auf, er braucht nicht mehr an das zu denken, was er zu bedenken hat. Er grübelt darüber, wie er sich seine zehntausend Mark einteilt, er überlegt, wie er seine Zigarren am besten lagern wird, er berechnet die Rentabilität von Zigarrengeschäften – das ist es, worauf es ankommt.
Aber als die Uhr zehn Uhr dreißig ist, fährt er prompt in seinen Mantel, nimmt sein Köfferchen mit der lächerlichen Last und trabt los.
Heute lässt auch Batzke nicht auf sich warten, Kufalt betrachtet ihn von der Seite, es muss Batzke nicht sehr gut gehen. In einem hellen, viel zu dünnen Sommermantel geht er durch die Kälte neben Kufalt her.
Er redet nichts, er hat nur gesagt: »So, da bist du, machen wir schnell.«
Und ist losmarschiert.
Sie gehen sehr schnell und sehr lange. Die Straßen, in Schneeschmutz ertrinkend, spärlich beleuchtet, sind so gut wie verlassen. Sie sehen auf ihrem ganzen Weg nicht einen Schupo, kaum je einen eilig Vorübergehenden.
Manchmal kommen sie durch Felder, gehen an Laubenkolonien vorüber, dann wird Kufalts Herz leichter und geht ruhiger.
Aber wenn die Häuserblocks näher rücken, wenn er die Fassaden unterscheiden kann, die Läden, dann klopft das Herz hastiger, jeden Augenblick kann Batzke stehenbleiben und sagen: Los!
Und dann wünscht er sich, dass sie noch immer weitergehen, so durch die Nacht, oder dass es vorüber wäre und sie jetzt schon auf dem Wege nach Haus.
Er wechselt häufig den Koffer von der Rechten zur Linken. Eine Zeit lang redet er sich in Wut, dass Batzke sich nicht erbietet, den Koffer auch einmal zu tragen. Aber dann denkt er wieder an andere Dinge.
Es fällt ihm plötzlich ein, dass Batzke recht hatte, an einem tatenlosen Vormittag nach Fuhlsbüttel zu fahren und sich den Bunker anzusehen. Wenn man dagegen nimmt, wie man jetzt in der Nacht durch Kälte und Nässe läuft, war das doch eigentlich keine schlechte Zeit. Licht aus und Zelle warm, man kroch unter die Decken.
»Ich hab mir das überlegt«, sagt Batzke. »In so ’nem Ding, so ’ner großen Scheibe, muss ’ne ziemliche Spannung stecken. Du muss zuerst mal sehen, dass du den Stein nicht wirfst, sonst fliegt er einmal in die Auslage und kann uns gerade das Tablett runterschlagen. Oder es gibt vielleicht nur ein kleines Loch. Du musst den Stein möglichst kurz anfassen und von oben schlagen, möglichst weit nach unten runter. Verstehst du das?«
»Ja«, sagt Kufalt gehorsam, aber es ist ihm nicht gut zumute.
»Natürlich musst du aufpassen, dass du nicht mit deinen Fingern in die Nähe von Glas kommst, sonst gibt’s Blut und Fingerspuren, und du hast die Schmiere gleich auf dem Hals. Vielleicht kann es auch sein, dass die ganze Scheibe runterrasselt. Ich weiß das nicht, habe keine Erfahrung darin. Man weiß immer zu wenig.«
Er ist unzufrieden und brummelt dumpf vor sich hin. Schließlich sagt er: »Na, wir werden ja gleich sehen.«
Kufalt wird es sehr übel. Habe zu viel getrunken, denkt er, wie sein Magen so weich zu werden anfängt und sich langsam dreht.
Sie gehen immer weiter. Eine Weile sind sie auf so etwas wie einer richtigen Landstraße, mit Bäumen rechts und Bäumen links.
Aber nun kommen sie wieder zu Häuserblocks, langen weißen Blocks, mit flachen Dächern. Kufalt weiß: Jetzt gleich ist es soweit.
Und wirklich sind sie kaum zwanzig Schritt weiter, da kommen sie an eine Straßenecke, da ist dort ein Laden. In der einen Straße zwei Scheiben, in der anderen Straße eine Scheibe, und Batzke sieht die Straßen auf und ab, und plötzlich schreit er: »Also los!«
Es ist wie Zwang, nein, es ist Zwang. Blitzschnell setzt Kufalt sein Köfferchen in den Schnee, hat es schon offen, nimmt den Ziegelstein (Kurz fassen, ganz kurz fassen, dass ich mir die Finger nicht schneide!) und schlägt zu.
Den Bruchteil einer Sekunde war es, als seufzte die Scheibe auf. Dann klirrt es unerträglich hell, seine Hand scheint von ihm sich loszulösen, der Schlag wird immer schwerer, reißt die Hand, die den Mauerstein hält, mit sich …
Und dann steht er da, starrt auf die Scheibe, in der ein großes, sicher halb Meter großes Loch klafft.
»Nicht schlecht, Jungeken«, sagt Batzke, »für den Anfang und für ein so verdammt feiges Aas wie dich wirklich nicht schlecht. Aber etwas tiefer hättest du schlagen können. Das Tablett steht nicht so hoch – los, die nächste!«
»Aber Batzke«, will Kufalt protestieren, denn ihm klingt noch das helle Klirren in den Ohren, und ihm ist, als hätte dort und dort und dort eben noch kein Licht gebrannt.
»Willst du losmachen!« schreit Batzke. »Nimm den Pflasterstein, schmeiß, aber so, dass er durch die Auslage in den Laden fliegt!«
Und schon tut es Kufalt.
Es klirrt wieder, es prasselt, man hört, wie der Stein dumpf hinten im Dunkel des Ladens irgendwo aufschlägt, noch einmal kollert, und es ist still.
»Dacht ich mir«, sagt Batzke. »Zu klein das Loch.«
Plötzlich schreit eine Frauenstimme über ihnen: »Hilfe! Diebe! Hilfe!«
»Los, Mensch«, sagt Batzke, »nimm deinen Koffer. Ab! Willst du mal nicht laufen. Wir haben alle Zeit, die Gott werden lässt, bis die aus ihren Betten auf der Straße sind.«
Sie gehen wieder nebeneinander. Nun ist der Koffer leicht, nun ist es auch Kufalt leicht. Der Häuserblock liegt hinter ihnen, Batzke führt. Es scheint immer noch weiter von Hamburg wegzugehen, in die Felder hinaus.
Jetzt sind sie nicht mehr still. Jetzt reden sie miteinander. Ja, Batzke ist zufrieden. Der große Batzke hat zugegeben, er hätte das nicht von Kufalt gedacht. Kufalt wäre am Ende doch ganz brauchbar. Man könnte das Ding vielleicht zusammen drehen.
Kufalt ist glücklich. Sicher auch über Batzkes Lob. Aber vor allem darum, weil es hinter ihm liegt. Weitab noch ist jene Nacht, in der er das, was er heute tat, am Jungfernstieg wird wiederholen müssen. Bis dahin ist er noch frei, bis dahin kann er unbesorgt sein, Batzke wird alles regeln, Batzke wird sich um alles kümmern.
Und er lädt in überströmender Freude Batzke zu einem Glas Grog ein.
Am nächsten Vormittag gab der Frau Pastorin Fleege ihr Mieter keinen neuen Anlass zu Besorgnis. Diesmal schlief Herr Lederer brav wie sonst immer bis zwölf Uhr, erschien dann vergnügt und munter, bat um sein Frühstück und plauderte während des Frühstücks freundlich mit ihr, wie sie es sonst auch gewohnt war.
Kurz danach ging er fort. Und nun hatte Frau Fleege doch wieder Kummer, oder mindestens erfuhr sie den Grund, warum er sie gestern so angefahren hatte. Die eine Kognakflasche stand leer in der Ecke, und eine neue im Schrank war schon wieder zu einem Drittel geleert.
Es war sicher, ihr Mieter hatte Sorgen. Darum trank er. Darum hatte er sie angefahren. Darum saß er plötzlich in der Unterhaltung da, als hörte er nichts mehr.
Frau Pastorin Fleege war vielleicht das weltfremdeste Hühnchen im großen Vogelhaus Hamburg, aber das wusste sie, dass dieser grobknochige, dunkle Kollege mit dem bösen Blick ihrem Mieter nichts Gutes brachte. Und sie beschloss, heute Nachmittag ganz vorsichtig und zart das Gespräch auf diesen Kollegen zu bringen und Herrn Lederer vor der Bank zu warnen, auf der die bösen Buben sitzen.
Aber leider blieb der Mieter am Nachmittag aus. Er kam nicht wie sonst wieder, zu seinem gewohnten Nachmittagsschlaf, und Frau Pastorin hätte ein Grauen bekommen, wenn sie ihn in dem schäbig eleganten Zimmer am Steindamm hätte hocken sehen, am Bett des Mädchens Ilse.
Ja, nachdem Kufalt geschlafen hatte, nachdem er sich gefreut hatte, dass die Probenacht vorüber war und gut vorüber war, war ihm plötzlich eingefallen, dass er doch noch Grund hatte, sich zu fürchten.
Er hatte sich erinnert, dass das Mädchen Ilse im Bösen von ihm gegangen war, dass sie Drohungen ausgestoßen hatte, und wenn sie auch nichts Richtiges wusste, gefährlich konnte jetzt alles werden. Gefährlich konnte ihm immer alles werden.
So saß er denn neben ihrem Bett, und das Mädchen Ilse war jedenfalls nicht so dumm, dass sie nicht gewusst hätte, was ihn hierher führte. Und weil sie das wusste, vermied sie ständig, auf das, was ihm am Herzen lag, einzugehen. Sie hatte so viel zu erzählen, vom Café Steinmarder und von der mangelnden Marie und von den Kolleginnen, die alle mehr Geld einnahmen als sie und weniger verdienten, und: »Nicht war, Ernstel, heute schenkst du mir zehn Mark? Ich habe bei Klockmann so eine schöne Tasche gesehen.«
Kufalt war nicht für zehn Mark ohne Äquivalent.
»Du könntest aber versuchen«, meinte er vorsichtig, »rauszukriegen, wo der Batzke eigentlich wohnt.«
»Gibst du mir zehn Mark, wenn ich dir sage, wo er wohnt?«
»Weißt du es denn?«
»Sonst könntest du mir doch keine zehn Mark geben.«
»Also schön. Aber nur fünf.«
»Für fünf Mark kriege ich die Tasche nicht.«
»Sagst du mir auch seine richtige Adresse?«
»Wenn ich es dir doch sage!«
»Also meinethalben. Hier hast du. Und wo wohnt er?«
Sie lehnte sich zurück und lachte. »Gar nicht wohnt er.«
»Wieso wohnt er gar nicht?« fragte Kufalt und fing an, böse zu werden.
»Sei doch nicht so dumm«, lachte sie ihn aus. »Er hat eben gar keine Bleibe. Jede Nacht muss ihn eine andere mitnehmen. Und wenn sie Geld verlangen, schlägt er los.«
»Gib mir meine zehn Mark wieder«, sagte Kufalt wütend. »Du hast gesagt, du weißt seine Adresse.«
»Ich hab gesagt, ich weiß, wo er wohnt. Und das hab ich dir erzählt.«
»Mein Geld sollst du wiedergeben.«
Nun, es gab natürlich neuen Streit. Nichts von Versöhnung, nichts davon, dass die Furcht aus dem Wege geräumt war. Zehn Mark los und neuen Zank. Damit ging er nach Haus.
Und als er nach Haus kam, sprach ihn die alte Fleege auf dem Flur an und flüsterte: »Ihr Herr Kollege sitzt wieder drin, er trinkt Ihren guten Kognak – ach, Herr Lederer …«
Sie sah ihn flehend an.
»Gut, gut, Frau Pastorin«, sagte Kufalt eilig. »Wir sehen uns noch nachher.«
Und er ging in sein Zimmer. Da saß Batzke, finster wie die Nacht, dass einem das Wort im Halse steckenblieb und man alle Mühe hatte, harmlos zu sagen: »Na, Batzke, was Neues?«
»Ja, was Neues«, sagte Batzke. »Da lies.«
Und er reichte ihm ein Zeitungsblatt und deutete mit dem Finger.
Kufalt las.
»Im Stadtteil Lokstedt wurden in der letzten Nacht von zwei Männern die beiden großen Schaufensterscheiben eines Neubauladens mit einem Ziegelstein und einem Pflasterstein eingeschlagen. Die Täter sind unerkannt entkommen. Interessant ist bei diesem Fall die Bekundung des Prokuristen einer Baustoffgesellschaft, dass am Nachmittag des gestrigen Tages ein junger Mann bei ihm erschienen sei, der unter dem Vorgeben, er wolle Muster haben, einen Ziegelstein und einen Pflasterstein verlangte. Die Polizei weiß noch nicht, ob diese beiden Vorfälle in Zusammenhang stehen, verfolgt aber eine bestimmte Spur.«
Kufalt hatte längst zu Ende gelesen, sah aber immer noch auf das Zeitungsblatt.
»Na«, hörte er Batzke fragen, und es klang wie der nahende Donner eines sehr kräftigen Gewitters.
»Ja?« fragte Kufalt dagegen und versuchte, Batzke anzusehen. Es gelang aber nicht ganz.
»Erzähl mir doch mal«, sagte Batzke, »erzähl mir doch mal, Kumpel, wo hast du denn die Steine für gestern Nacht besorgt?«
»Am Hafen«, sagte Kufalt schnell. »Bei den Schuten.«
»So«, sagte Batzke, »und du bist nicht der berühmte junge Mann, der sich Muster holen will?«
Jetzt war dem Blick nicht mehr auszuweichen. Sie sahen sich an, einen Augenblick, noch einen Augenblick. Trotz kam in Kufalt hoch, Widerstand, und verging. Der andere starrte, ohne zu blinzeln, Kufalt wich dem Blick aus, lachte töricht und sagte: »Ich werd doch nicht so dumm sein …«
»So«, sagte Batzke langsam. »Wirst du nicht so dumm sein?«
Eine lange Pause entstand.
Dann sagte Batzke ganz ruhig: »Ich werde nämlich auch nicht so dumm sein. Schluss, Kufalt!«
Er stand auf, nahm ruhig und ohne Kufalt anzusehen noch eine Zigarette aus der Schachtel auf dem Tisch, brannte sie an.
Kufalt folgte ihm gespannt mit dem Blick. Ihm war, als müsste er aufspringen und etwas sagen – aber schon ging Batzke zur Tür, fasste die Klinke – und drehte sich noch einmal um.
»Scheiße«, sagte er, spuckte aus und ging. Kufalt sah die Tür an.
»Die Polizei verfolgt eine bestimmte Spur.«
Man kann sich überlegen, was man will, es bleibt ein hartnäckiger Satz. Man kann sich hundertmal sagen, dass es für die Polizei ausgeschlossen ist, in der Millionenstadt Hamburg einen jungen Mann zu finden, der einmal drei Minuten in einem Baubüro gestanden und ein paar dumme Fragen gestellt hat. Man kann sich immer wieder sagen, dass man nicht daran denkt, aus dem gemütlichen Quartier bei der Fleege fortzuziehen, und wacht doch nachts auf und horcht auf den Wind vor dem Fenster und horcht nach der Tür und glaubt, Wispern zu hören und Rascheln, und der Satz ist wieder da: »Die Polizei verfolgt eine bestimmte Spur.«
Ja, man wohnt noch immer bei der Fleege, aber man müsste irgendetwas Vernünftiges zu tun haben, damit man über einen solchen Satz fortkommt. Man hat zu viel Zeit zu grübeln, unbeschäftigt zu sitzen, sich Sorgen zu machen und zu trinken.
Ein paar Tage hat man es noch aufrechtgehalten vor der Wirtin und ist abends fortgegangen, als ginge man zum Theater. Man hat in irgendeinem Kino gesessen, und dann ist man wieder den Jungfernstieg entlanggegangen und hat vor den Ringen haltgemacht und hat sie angesehen. Und sie waren, als seien sie ein Stück von einem selbst. Sie waren da mit ihrem Schimmer und ihrem starken Licht, als hätte man ein Recht auf sie erworben, in all den vielen Nächten, in denen die Gedanken um sie kreisten, doch dann verblasste auch das. Und man wurde müde.
Das war vorbei. Selbst Batzke würde es nicht wagen. Da stand der Satz: »Die Polizei verfolgt eine bestimmte Spur.« Und wenn es der eine doch wagte, war der andere parat zum Verrat – nein, das war vorbei.
Man war müde geworden, und man sagte der alten Pastorin eines Tages etwas zögernd, man habe sein Engagement im Theater verloren und müsse nun sehen, was würde. Aber: »Um Ihr Geld brauchen Sie deswegen noch keine Angst zu haben. Ich habe noch Geld genug.«
»Aber, Herr Lederer«, hatte die alte Frau gesagt. »Ich habe gar nicht an Geld gedacht. Es tut mir leid, dass Sie arbeitslos sind, und wenn Sie mal in Verlegenheit kommen, ein bisschen Erspartes habe ich auch noch. Ich helfe gern einem so ordentlichen Menschen.«
Und sie hatte ihn in ihr Zimmer mitgenommen und hatte ihm von ihrem dünnen Pfefferminztee gegeben und von den komischen Aniskuchen, die es nirgendwo mehr gab, die immer irgendwie nach Kinderzeit schmeckten, und hatte ihm erzählt, wie ihr Mann als junger Vikar auch allen Mut verloren hatte, weil er bei drei Probepredigten hintereinander steckengeblieben war. Und wie es dann doch ganz anders gekommen war und er diese schöne Pfarre in der Wilstermarsch bekommen hatte. Sicher würde es ihm auch so gehen, und er würde ein viel besseres Engagement bekommen, und er sollte doch nur Geduld haben.
Ja, die alte Fleege, sie war so rührend und so leicht verängstigt, er musste sich direkt in acht nehmen, am Tage zu viel zu trinken, damit er sie nicht erschreckte.
So gewöhnte er sich daran, den ganzen Tag über lange Wege zu machen. Für jeden Tag nahm er sich etwas anderes vor. Den einen Tag ging er in die Apfelstraße und sah das Friedensheim an. Er ging oft daran vorüber, aber er sah niemand hinter den Scheiben. Er spielte mit dem Gedanken, zu Wolle-Teddy zu gehen und sich vor ihm zu demütigen, um wieder in Gnaden angenommen zu werden und ewig Adressen zu schreiben.
Sicher würde irgendein Beerboom im Haus wohnen, ein noch Schwächerer, noch Beschädigterer als er. Und er würde nicht mehr der letzte aller Menschen sein, in der äußersten, ausweglosesten Einsamkeit.
Aber am nächsten Tage ging er dann doch nicht zum Friedensheim, sondern vor die Schreibstube des Herrn Jauch und schwankte wieder, ob er nicht da hinaufgehen sollte, patzig und ein großer Mann, und dann jemand zum Stenogramm nehmen, die Stunde für vier Mark. Er hatte sich in der Nacht die fabelhaftesten Geschäftsbriefe ausgedacht. Er würde Verfügungen und Überweisungen und Bestätigungen und Reklamationen diktieren, und sie sollten alle staunen auf der Schreibstube, wie weit er es gebracht hatte.
Aber er ging nicht hinauf. Mit seinen schmerzenden, müden Füßen tappte er durch den Schneeschlamm, in irgendein kleines Lokal, in eine Fischbraterei, eine Kartoffelpufferküche und aß hastig etwas für sechzig, achtzig Pfennig und rechnete sich dabei aus, dass er noch mindestens drei oder vier Monate zu leben hatte, bis er etwas anfassen musste.
Aber auch dies billige Essen war nur noch Spielerei. Das Rechnen war Spielerei, es saß keine richtige Lebensangst mehr in ihm. Alles war gleichgültig geworden, alles war grau, trübe, trostlos, und alles war zu Ende. Oh, du mein lieber Herrgott, jawohl, man konnte noch mal in die kleine Stadt fahren und der Hilde Harder aufpassen und ihr alles, alles sagen, aber wozu …?
Es gab ja nichts mehr zu sagen. Es gab für ihn nichts mehr zu tun, und eine heisere, versoffene Stimme flüsterte: Die Trehne entspringt bei Rutendorf, unterhalb des Galgenberges …
Eine Zeit lang ging es dann wieder besser. Kufalt entdeckte eine Leihbibliothek und las und trank die Nächte durch in seinem Bett und verschlief fast den ganzen Tag. Und stand erst gegen Abend kurz vor sieben auf, raste in die Bibliothek, um noch vor Ladenschluss seine zwei, drei neuen Bände zu bekommen.
Aber dann entzündete sich sein Hirn nicht mehr an diesen Geschichten. Er nickte über ihnen ein. Er konnte sich nicht mehr als ihr Held träumen, und er ging wieder ziellos durch die Straßen, immer durch Straßen und Anlagen und ließ es Nacht werden und trank eilig Schnäpse in kleinen Kaschemmen, eilig, als hätte er wirklich Eile, und rannte los. Heute Nacht gehe ich noch um die Binnen- und Außenalster, damit ich richtig müde werde. Aber er wurde nicht richtig müde.
Und doch war es nicht bei solch einem Spaziergang durch verlassene, nächtliche Anlagen, dass er zum ersten Mal wieder in diesen unheilvollen Wochen etwas tat. Nein. Es war in den richtigen Straßen, wo man jede Sekunde einem Menschen, einem Schupo gar, begegnen konnte.
Es kam ganz überraschend. Er war sich hinterher ganz sicher, dass er nie vorher daran gedacht hatte. Vielleicht hatte er ein bisschen viel getrunken. Vielleicht lag es daran. Es war irgendwo in Eilbeck gewesen oder in Hamm. Er erinnerte sich später nicht mehr genau, wo es das erste Mal gewesen war.
Es war spät in der Nacht. Vor ihm ging irgendeine Frau oder ein Mädchen, und die Straße war einsam. (Aber darauf hatte er nicht einmal sehr geachtet.)
Plötzlich war er neben dem Mädchen gewesen und hatte flüsternd zu ihr gesagt: »Na, Fräulein, wie ist es denn mit uns?«
Sie hatte ihn wütend von der Seite angesehen und irgendetwas Albernes gesagt wie: »Lassen Sie mich zufrieden oder ich schreie.« So etwas.
»Na, schrei doch«, hatte er gesagt und sie plötzlich mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Und mit einem Ruck hatte er die Handtasche an sich gerissen und war um die Ecke.
Wie sie schrie.
Ach was, sie schrie eben! Aber das hatte ihn wenig zu kümmern. Er hatte im Bunker schon ganz anders schreien gehört. Da hatte er auch nicht helfen können.
Jeder helfe sich selbst. Darum war er auch längst gemütlich um die nächste Ecke. Es war ihm warm und wohl, als er in einen Autobus stieg und nach Haus fuhr. Er hatte endlich wieder etwas getan, und in dieser Nacht schlief er ausgezeichnet.
Zweifellos, eine ärmliche Tasche, diese erste Tasche. Aber war es ihm denn um die Tasche zu tun gewesen? Sieben Mark zwanzig, zwei Schlüssel, ein zerknülltes Taschentuch, ein gesprungener Spiegel. Er aber hatte noch fünfhundert Mark im Haus. Was gingen ihn Taschen an!
Ihn ging an: der angstvolle Blick, die fliehende Gestalt, das schmerzliche Schreien; ihn ging an, dass er nicht mehr der Letzte, der Getretenste von allen war, sondern dass auch er noch treten und Schmerzen bereiten konnte.
Ja, sieh einmal, du brauchst wahrhaftig nicht jeden Abend loszugehen und eine Tasche zu klauen und einem Mädchen ins Gesicht zu schlagen. Das hast du nicht nötig. Aber wenn dir so ist, dann wirst du es tun. Und wenn die Welt grau vorher war und zerschlagen, so ist sie hell von Neuem, wenn du den Schlag führst, und hell, weil auch andere Schmerzen leiden.
Du kannst jetzt sitzen, Willi Kufalt, im Zimmer deiner Frau Pastorin, du kannst mit ihr plaudern über den Kuhstall, und wie es war, als Pastor Fleeges ihr erstes Kalb kriegten, und keiner wusste recht Bescheid, und dann war’s doch da und taumelte auf seinen Beinchen und zog ganz richtig am Euter. Aber wenn es während solcher Erzählung draußen klingelt und der Gasmann kommt und die alte Frau muss bezahlen, so siehst du zu, wie sie einen Schlüssel aus ihrem Schlüsselkorb nimmt, und es ist ein kleiner, einzelner, glatter Schlüssel mit einem gezackten Bart, das merkst du dir. Und sie schließt damit das Vertiko auf und holt daraus einen Nähkasten hervor. Den Einsatz aus dem Nähkasten nimmt sie hoch. Merke dir weiter, darunter liegt das Bargeld, das sie im Haus hat, und daneben ein Sparkassenbuch.
Während sie aber draußen mit dem Gasmann spricht, stehst du ruhig und leise auf, dein Herz klopft nicht schneller, und du siehst nach: Es ist nicht viel Bargeld, an die hundert Mark nur, aber auf dem Sparkassenbuch stehen vierzehnhundert Mark. Und die Kontrollmarke zum Sparkassenbuch liegt hübsch darin.
Ja, dann kommt die Alte wieder herein und packt ein und schließt ab, und du plauderst weiter mit ihr, und du denkst ruhig daran, dass du irgendwann einmal, nächste Woche etwa oder in zwei Monaten, dies Geld und das Sparkassenbuch nehmen wirst.
Und wenn du das hast und bist weg, und sie findet die leere Wohnung, und sie entdeckt das Fehlen des Geldes, dann wirst du dich, fünfzig Straßen weiter in deinem neuen Zimmer, bei einer anderen Wirtin, freuen und finden, dass die Welt wieder einmal in Ordnung ist.