Die Lütjenstraße liegt im Zentrum der Stadt, Kufalt muss sie jeden Tag auf seinen Werbegängen vier-, fünfmal durchqueren. Er durchquert sie zehn-, zwölfmal.
Oben im ersten und einzigen Stock des Hauses, sechs Fenster Front, ist ein Spion angebracht. Kufalt denkt bei jedem Vorübergehen: Vielleicht schaut sie gerade hinein und sieht dich!
Dann bleibt er vor dem Schaufenster des Glasermeisters stehen, zum dreißigsten Mal betrachtet er das dem Herbst angemessene Prunkstück »Kämpfende Hirsche« – könnte sie ihm nicht einen Wink geben? Nein, sie bleibt verschwunden.
Die Damenuhr in der Aktentasche, jeden Morgen aufgezogen und wieder sorgfältig eingepackt, tickt umsonst. Keine Gelegenheit … Aber er kommt immer wieder, es wird Dezember, und die Hirsche weichen dem Bild »Schwesterchens Weihnachtstraum«, und immer noch läuft er umsonst. Diese Uhr wäre ein so schönes Geschenk gewesen am Tage danach, jetzt, anderthalb Wochen später, sieht sie wie ein Anbandelversuch aus, auch nach Reue, nach Bestechen, nach Kleinbeigeben.
Und doch musste sie ihr gegeben werden!
Am Tage danach, ja, am Tage danach war die Versuchung groß gewesen, die Glaser auf die Liste zu setzen – jetzt wurde es immer wieder hinausgeschoben. Kraft hatte schon gefragt: »Die Glaser vergessen Sie wohl ganz?« Aber womöglich in ihrer Gegenwart dem Vater sein Sprüchlein betreffs Abonnement aufsagen, und dieser Grobsack gab ihm ein derbes »Nein« …?
»Wollen Sie denn nie zu den Glasern gehen?«
»Doch, ja, morgen.«
Morgen kamen dann die restlichen Bäcker … Es gab da einen Bäcker, Süßmilch hieß er, einen jungen glatt- und mehlgesichtigen Kerl mit dicken, schwarzen Brauen, der bestellte sich öfters den Kufalt. »Ich möchte ja gerne Ihren ›Boten‹ abonnieren, aber ganz bin ich noch nicht überzeugt. Vielleicht überlegen Sie sich noch einen Grund, der völlig durchschlägt, und kommen damit am Freitag …?«
Kufalt wusste gut, er wurde einfach durch den Kakao geholt, aber als Abschluss seiner Tour ging er doch immer wieder mal gerne zu Süßmilch. Dann kam der Meister schläfrig aus dem Backraum gelatscht, mehlbestäubt, die nackten Füße in mehlbestäubten Pantoffeln, und fragte: »Na, junger Mann, wie ist es mit einem kräftigen Grund?«
»Der beste Grund ist mein Block«, sagte Kufalt. »Sehen Sie, was für Meister heute wieder alles unser Blatt bestellt haben!«
Und Süßmilch sah an und rieb sich das Gesicht, und Kufalt dachte: Jetzt könnte ich eigentlich in Harders Laden stehen.
Nein, dieses Mal bestellte Süßmilch auch noch nicht, an sich war alles in Ordnung, aber er musste heute noch Mehl bezahlen, bis Dienstag war dann vielleicht wieder so viel Geld zusammen, um die Zeitung zu bestellen … »Also am Dienstag, junger Mann!«
Und damit latschte der Meister wieder schläfrig in seinen Backraum, und Kufalt trabte zur Redaktion, die Lütjenstraße ließ er links liegen.
Geld wäre jetzt schließlich genug dagewesen für zwei Kinokarten, und übrigens hatte Freese auch mal gesagt, ins Kino könne er immer »so«, auch mit Braut. Er solle nur sagen, er käme vom »Boten« … Wieso übrigens Braut? Er dächte, Kufalt hätte die Trehne vornotiert? Mit weiblicher Braut wäre die auch nicht wärmer …
Also wieder mal besoffen, mit der Arbeit hatte er auch immer noch nicht angefangen, trotzdem die gegebenen Sechs fast jeden Tag überschritten wurden – aber Geld für zwei Kinobilletts wäre jedenfalls dagewesen.
»Schwesterchens Weihnachtstraum« – und besonders schön ist der Hampelmann auf der Bettkante. Er hat ein richtiges Nussknackergesicht wie Kraft, aber die Tür zum Laden ist mit einer Milchglasscheibe versehen, in der Mitte. Drum herum sind bunte Butzenscheiben, mit roten, blauen und gelben Glasknöpfen …
Ach Gott, es ist ja ganz egal, in so vielen Läden und Wohnungen bist du nun schon gewesen – und in diesen traust du dich nicht?
Das ist nun schon wieder die nächste Ecke, der Laden vom Konsumverein, und umsonst hat er sich Ruck um Ruck gegeben … Soll er diese verdammte Siebenundsechzig-Mark-Uhr denn ewig spazieren tragen, oder soll er sich wegen so einer Butterglocke ein anderes Mädchen anschaffen …?
Sie war doch süß!
Kehrt! Marsch, marsch! Besinnungslos in die Kugeln, Bomben und Granaten, Geschwindschritt, im Spion kann sie dich vielleicht sehen; nicht so mit der Tasche schlenkern, das ist der Uhr nicht gut …
Was du auch rennst, am Laden wirst du abbremsen und beim »Weihnachtstraum« enden, oder durchgaloppieren bis zur Redaktion …
Feierabend! Heute nur fünf, Herr Kraft. Übrigens gehe ich morgen zu den Glasern, bestimmt!
Vorbei! Nicht vorbei! Vorbei! Nicht vorbei!
Was die Klingel scheppert! Wie ein Komet funkt er in den Laden! O Gott, wie sieht der Töchterverklopper Harder anders aus! Ein kleiner Mann mit einem dicken Bauch und einem schwarzen Bart, fast wie ein Bruder von Wolle-Teddy …
»Und Sie wünschen …?«
»Ich komme im Auftrage …«
In diesem Augenblick sah er sie, seitlich hinten im Laden. Sie ordnete was, sah nicht her, ihr Gesicht war sehr bleich.
Er riss sich zusammen, der Satz wurde nie zu Ende gesprochen.
Bleich? Tränen? Nie, nie wieder! Wir wissen nicht, was wir tun. Nie wissen wir, was wir tun werden.
Er riss sich zusammen.
»Herr Glasermeister Harder?«
»Ja – und für welche Firma«
»Könnte ich Sie vielleicht einen Moment unter vier Augen sprechen?«
»Meine Tochter stört nicht.«
»Doch! In diesem Falle doch!«
»Also, Hilde, geh mal rauf.«
»Könnten wir nicht raufgehen? Was ich zu sagen habe, lässt sich schlecht im Laden abmachen.«
»Aber um was handelt es sich denn? Ich kauf doch nichts.«
»Es ist ganz privat.«
Der kleine Mann sagt: »Hilde, pass auf den Laden. Du kannst mich aber jederzeit rufen.«
Er betont »jederzeit«!
Kufalt sieht sie an beim Hinausgehen, ihre Lippen bewegen sich, er versteht nicht, was sie sagen will, aber ihr Gesicht, ihre ganze Gestalt sind ein Flehen: Oh, bitte nicht!
Sie gehen die Treppe hinauf, die Fenster sind schön verglast. Parterre: Trompeter von Säckingen. Erster Stock: Die Lorelei. Höher geht es nicht.
Das Zimmer mit dem Spion ist das Wohn-Esszimmer. Am Spion sitzt eine dürre Frau, beinahe blaugesichtig, so durchscheinend …
»Also!« sagt der Glasermeister Harder fast drohend. Plötzlich versteht Kufalt, dass der kleine Mann schlagen kann.
Die Frau, ihre Mutter, hat sich für den Gast halb erhoben und wieder rasch auf den Stuhl gesetzt, als sie das böse »Also« gehört hat.
Nein, zum Sitzen wird er nicht aufgefordert. Sie stehen einander gegenüber, der Glaser hat »Also« gesagt, und nun antwortet Kufalt ruhig (seltsam, hier ist er ganz ruhig, aber beim Abonnentenwerben noch lange nicht jedes Mal), sagt er also ruhig: »Mein Name ist Kufalt, Wilhelm Kufalt. Ich bin zurzeit als Annoncen- und Abonnentenwerber beim ›Stadt- und Landboten‹ beschäftigt. Mein Einkommen beträgt zwei- bis dreihundert Mark im Monat …«
»Und …?! Und …?!« schreit der kleine Bärtige und fährt mit rechten Wutaugen auf ihn los. »Was geht mich das alles an! Ich abonniere Ihr Käseblatt doch nicht!!!«
Kufalt holt tief Atem. »Ich bitte um die Hand Ihrer Tochter!« sagt er.
»Wie …???«
Dann ist es lange still.
Die erfrorene Frau am Fenster hat sich umgedreht und starrt den jungen Mann fassungslos an.
Der wiederholt: »Ich bitte um die Hand Ihrer Tochter.«
»Stuhl!« sagt der Bart, sieht die Stühle an um den Esstisch, den Mann vor sich. Er entscheidet sich: »Also setzen Sie sich.« Und springt gleich wieder auf. »Wenn Sie mich aber veräppeln …!«
»Eugen!« ruft die Frau warnend.
»Wie hießen Sie?« fragt der Glaser und setzt sich wieder.
»Kufalt«, sagt Kufalt, »aber ohne h, einfach u f.« Und er lächelt beruhigend.
»Kufalt, ja. Und was sagten Sie, verdienten Sie?«
»Zwei- bis dreihundert Mark im Monat. Aber das ist leicht steigerungsfähig.«
»Steigerungsfähig«, murmelt der Mann. Und plötzlich: »Woher kennen Sie denn die Hilde?«
»Eugen!« ruft die Frau wieder warnend.
»Das ist unsere Sache«, lächelt Kufalt.
Harder reibt sich den Bart, steht auf, setzt sich wieder, wirft einen raschen Blick zur Frau, zur Tür, flüstert (und es ist, als kröche sein Kopf dabei in die Schultern): »Und Sie wissen auch …?«
»Von Willi? Weiß ich. Übrigens heiße ich auch Willi.«
Die Hand im Bart stockt. Der kleine Mann steht auf, baut sich vor Kufalt hin, er scheint immer größer zu werden, drohender vor Kufalt emporzuwachsen. »Dann sind Sie also der Lump …«
»Kommt gar nicht in Frage«, antwortet Kufalt rasch. »Ich bin erst seit sechs Wochen hier in der Stadt. – Aber es stört mich auch nicht.«
»Es stört ihn auch nicht«, sagt der Glaser verständnislos, hilfeflehend zum Fenster.
»Und wenn wir jetzt einmal die Hilde fragten, ob sie einverstanden ist?«
»Ob sie einverstanden ist …?!« schreit der kleine Mann. »Das will ich Ihnen zeigen!«
Er stürzt zu seinem Sekretär, wühlt in einem Fach, holt ein Blatt weißesten Bilderkarton, malt darauf, hebt es triumphierend: »Da!«
»Wegen Familienfestlichkeit geschlossen«, liest Kufalt.
»Ich mache es gleich an die Ladentür«, flüstert der Kleine feierlich. »Die Hilde bringe ich dann auch mit.«
Er hatte nichts erwartet, denn er hatte nicht gewusst, dass er sich dazu entschließen würde.
Nun hatte sie da am Tisch gestanden, sehr bleich, und als ihr Vater zu reden begonnen und sie zu begreifen angefangen hatte, hatte sie geschrien: »Nein! Nein! Nein!«
Und dann war sie hingefallen auf einen Stuhl wie ein Klotz aus Blei und den Kopf auf den Tisch und geweint, so geweint …!
Da kannst du dabeistehen. Du hast es nicht gewollt, und dass du einmal verheiratet sein wirst mit ihr, du glaubst es noch jetzt nicht. Nein, an dir soll es nicht liegen, wer so fassungslos weint vor Erlösung, den kann man nicht willentlich kränken. Aber es wird doch nichts, immer wird alles anders. Die Sache mit Batzke kommt ans Tageslicht, wie lange kann ihrem Vater verborgen bleiben, wer du warst, hier im Städtel – ach, dass sie sich nicht so freute! Dass sie nicht so glücklich wäre!
»Was haben wir heute zum Essen, Mutter?«
Und dann geht die Mutter selbst und holt noch frische Blutwurst zur Linsensuppe, denn Hilde darf bei ihrem Bräutigam bleiben. Und der zweijährige Willi wird gebracht und soll Papa sagen, und es gibt einen Süßwein, einen Malaga, achtundachtzig Pfennig die Flasche, etwas wirklich Gutes, Reines …
Aber immer, bei allem Essen und Trinken und Reden und Lachen, hat Kufalt ein Gefühl, als träumte er: Wenn sie unter dem Tisch nach seiner Hand tastet, ist ihm, als müsste der Hauptwachtmeister mit dem Schlüssel gegen die Glocke schlagen …
Doch er schlägt nicht, und Kufalt träumt weiter, und in seinem Traum sagt er, dass er noch auf die Redaktion müsse, damit die neuen Besteller auch morgen früh ihre Zeitungen hätten, und zum ersten Male brächte er nur fünf …
Und in tiefem Bass lachend, abonniert Glasermeister Harder, Lütjenstraße 17, das Käseblatt und bricht damit sein Wort und bleibt seinem Schwiegersohn die eine Mark fünfundzwanzig schuldig. »Ich zieh’s dir von der Aussteuer ab, Willi …« Und Hilde darf ihn zur Redaktion begleiten …
Aber drinnen, als Kufalt aufgeregt erzählt, was er getan hat, und die Herren bittet, ja doch dichtzuhalten und eine gute Auskunft über ihn zu geben, er würde es selbst mal erzählen, in einem passenden Augenblick … Drinnen also ist er einmal dicht vor dem Aufwachen aus seinem Traum, denn die beiden sehen ihn so seltsam an, und Freese sagt ganz unmotiviert als Antwort: »Stört Sie der Ofen nicht? Ist er Ihnen nicht zu heiß …?«
Aber schon geht der Traum weiter, denn Hilde hängt sich bei ihm ein, und es ist ihr unterdes wohl eingefallen, dass auch sie etwas zu sagen hat, und sie sagt es: »Du bist so gut! Nicht wahr, du hast verstanden, warum ich damals so geweint habe …?«
Und die Uhr wird übergeben, und im Goldwarengeschäft von Linsing werden Ringe gekauft. Und dann kommt der Abend, und die Verwandten sind da, und es ist eine sehr diskrete, gefühlvolle Verlobung mit manchem Seitenblick von Tante Emma zu Tante Bertha …
Und schließlich geht er nach Haus in sein Bett, und der Traum ist aus, und er wacht auf und weint: Was habe ich getan!
Aber doch – trotz allen Weinens – wurde dieser Dezember der glücklichste, verzaubertste Monat in Willi Kufalts ganzem Leben.
Eines Tages sagte Herr Kraft zu ihm: »Ich weiß nicht, in diesem Jahre trudeln die Weihnachtsinserate nicht so ein wie früher, Sie müssen mal auf Inserate losgehen, Kufalt!«
Und Kufalt ging los auf Inserate.
Morgens von acht Uhr an klapperte er die größeren Läden ab, die Konfektionshäuser, die Goldwarengeschäfte, Wäsche, Leinen, Betten, Besteckvertretungen, Delikatessen, Weine – er verkaufte Sechzehntel- und Zweiunddreißigstel-Seiten. Er verkaufte auch drei- oder viermal eine ganze Seite, nicht selten eine halbe – und am Sonnabend rechnete er mit Herrn Kraft ab und erhielt seine hundertachtzig, seine zweihundert Mark Werbelohn. »Sie verdienen ja das Doppelte von Freese, Kufalt! Von mir ganz zu schweigen.«
Ja, Kufalt war in eine Erfolgsserie geraten, nun erwies es sich, dass der Knast doch zu was gut war. Dort hatte er eine gewisse Hartnäckigkeit im Bitten und Betteln erlangt, eine Abweisung entmutigte ihn nicht so leicht, in der Bestürmung von Wachtmeistern mit Sonderwünschen hatte er sich als ein überzeugender Kämpe im Wort erprobt – das kam ihm nun zugute!
Wenn er Herrn Lewandowski, dem Inhaber eines kleinen »Kaufhauses« in der nördlichen Vorstadt, klarmachte, er dürfe keinesfalls hinter der Konkurrenz zurückstehen, und eine Achtelseite sei einfach eine Schande für ein so gut geleitetes Geschäft, während eine Sechstel- oder gar eine Viertelseite einen verdoppelten Weihnachtsumsatz bedeuten würde …
Wenn er weitertrabte, jede Fassade musternd, jedes Schild lesend und überraschend bei einem blinden Stuhlflechter einfiel, dem er eine Sechzehntel versetzte, da doch alle Menschen den Wunsch hätten, zu Weihnachten ihre Stühle in Ordnung zu bringen …
Wenn er um halb elf keuchend in der Setzerei erschien und gegen den schreienden Protest aller Setzer durchdrückte, dass noch dreiviertel Seiten neue Inserate mitgenommen wurden (und die Zeitung kam doch schon um halb eins raus) …
Und wenn er dann mit Kraft und Freese zappelig vor Spannung auf Fräulein Utnehmer wartete, die die Zeitung der Konkurrenz brachte, und sie stürzten sich alle drei über den Inseratenteil, und Kraft sagte vorwurfsvoll: »Die haben doch eine Viertelseite von Haase und wir nicht!« und er unwirsch antwortete: »Bin heute früh dagewesen, hat mir gesagt, er will noch nicht inserieren, der alte Kaffer, rücke ihm heute Nachmittag wieder auf die Bude – aber den Löhne haben wir allein und den Wilms auch …«
Dann war er besessen von einem übersteigerten Kraftgefühl und Selbstvertrauen.
Jetzt war der Bunker endgültig überwunden, Kufalt taugte was, Kufalt konnte was, und kein Alkoholgespenst Freese vermochte mit Hinweisen auf die kühle Trehne irgendwas bei ihm zu erreichen …
In seinen Taschen klimperte das Geld, und war das Weihnachtsgeschäft vorüber, kam Silvester mit Inseraten von Pfannkuchenbäckern, Weinhandlungen und Gastwirten mit Schwof. Und im Januar kamen die Inventurausverkäufe, und so ging es weiter durch ein langes, nahrhaftes, mit Geldverdienen verbrachtes Jahr.
Schlug es aber sechs, so stürmte er nach Haus, warf sich fein in Schale, rasierte sich und ging dann beschwingt durch die Straßen der Stadt, ein freier Mann. Dann kaufte er noch beim Schlächter Godenschweger eine Sardellenleberwurst für die Schwiegermutter oder beim Zigarrenfritzen zehn Brasil für den alten Harder oder ein Blechspielzeug für den Jungen, und alle Geschäftsleute waren überaus höflich zu ihm und sagten: »Guten Abend, Herr Kufalt. Danke auch schön, Herr Kufalt.«
Ja, nie kam er ohne ein Geschenk zu seinen Schwiegereltern, und der alte Harder hatte vollkommen recht, zu seiner Frau zu sagen, die heutige Welt stünde auf dem Kopf, und dass ein Mädchen wie die Hilde, die sich mit allen Kerls herumgetrieben habe, einen so gut verdienenden, so gut aussehenden Mann abkriege, das sei im Grunde doch eine Sünde und Schande und direkt gegen Gottes Gebot.
Aber seinen Schwiegersohn mochte er gerne, der alte Harder, den ganzen Abend über schwatzten die beiden eigentlich alleine zusammen – die Frauen saßen still, die Aussteuer nähend, dabei. Harder aber berichtete von den einzelnen Geschäftsleuten, dass Kufalt sich bei Thomsen nach seinem Zucker erkundigen und bei Lorenz die Kakteen im Straßenfenster bewundern müsse.
Er führte ihn ein in das Leben der Stadt, er wusste alle Skandalgeschichten seit hundert Jahren, sorgfältig überliefert von Mund zu Mund. Darum konnte er genau begründen, warum die jungen Lävens ein schwachsinniges Kind hatten, denn der Großvater Läven hatte mit der Mutter von Frau Läven, die nämlich eine geborene Schranz war …
Ja, Kufalt war ein glänzender Zuhörer für all diese Hinweise und Geschichten, gierig fasste sein Kopf sie auf und hielt sie fest, während Harders Freude über den Schwiegersohn ständig wuchs. Nein, trotzdem Hilde es wahrhaftig nicht verdient hatte, sollte seinetwegen nichts an der Aussteuer fehlen, obwohl … obwohl …
Ein dunkler Schatten blieb beim alten Harder. Etwas war nicht in Ordnung bei diesem tüchtigen, jungen Geschäftsmann. Es wollte nicht in seinen alten, menschenerfahrenen Schädel, dass ein Mann wie dieser Kufalt ausgerechnet ein Mädchen mit Kind heiratete, ein Mädchen, das noch nicht einmal sonderlich hübsch war. Die große Verliebtheit – ah, bah, sie waren ja nicht einmal so verliebt!
In der Dämmerstunde sah er und sah zu, wie der kleine und der große Willi miteinander spielten auf dem Teppich, wie sie übereinanderkugelten, lachten, alberten, ritten, sangen – zwei Kinder, zwei unvernünftige, übermütige Kinder. Der Junge aber rief »Papa«, und Kufalt horchte darauf und stieß sich nicht daran und verzog keine Miene – es war nicht in Ordnung, etwas stimmte nicht.
Der alte Harder lag nachts manche Stunde sorgenvoll in seinem Bett und grübelte, und am liebsten wäre er aufgestanden und in das Wohnzimmer hinübergegangen und hätte wütend auf den Tisch gehauen und schreien mögen: Zum Donnerwetter, sagt endlich, was los ist mit euch!
Aber das tat er denn doch nicht, und er lag so lange wach, bis er die Tür leise einklinken hörte, und die beiden gingen hinunter, und die Haustür fiel ins Schloss. Vielleicht hatte sie ihn wirklich fortgeschickt, aber vielleicht war die Haustür auch nur so ins Schloss geworfen worden, und sie hatte ihn mit in ihr kleines, dunkles Hofzimmer genommen, das sie seit ihrem Fall mit dem Balg bewohnen musste. Ihm, dem alten Harder, war das ja nun egal, sie würde ja aufpassen gelernt haben, und verlobt war verlobt – aber das Schlimmste war eigentlich, dass er ganz fest der Überzeugung war, der Schwiegersohn ging wirklich nach Haus und nicht auf ihr Zimmer, und dass ihm das eigentlich am unheimlichsten dünkte.
Recht hatte er, sie nahm ihn nicht mit auf ihr Zimmer, und wenn doch einmal, so nur, dass sie wieder einmal an des Kindes Bett standen, wie damals in der ersten Nacht, und auf das Kind hinabsahen. Hand in Hand, ihr Kopf an seiner Schulter, ein Bild wie eine kolorierte Fotografie – aber vor dem Fenster hing die Nacht, und die Stadt war still geworden, wie das Leben still geworden war – in der Geduld! In der Geduld! Herz um Herz ruhig, sachte Nacht, Aufatmen, Stille.
»Komm, jetzt will ich nach Haus.«
»Schlaf auch schön, Willi.«
»Danke, dito.«
Ein rascher Kuss und der Heimmarsch durch die verödeten Dezemberstraßen, in denen unter dem Wind die Glasscheiben der Laternen klapperten, vielleicht noch drei, vier Stehschnäpse an einer Theke, damit man schneller, ohne sich Gedanken zu machen, einschlafen konnte.
Dann aber am nächsten Morgen frisch los auf die Inserate, fröhliche Jagd auf das Geld, Schwätzen und Überreden und Herumstehen in Läden und schließlich wieder der Abendweg zu ihr …
Es war unsinnig, wenn Vater sich da ausmalte, was sie wohl redeten und trieben im Wohnzimmer: Sie trieben gar nichts.
Einmal hatte Harder seine Tochter gefragt, warum sie denn noch so laut gewesen seien, und Hilde hatte erklärt: »Willi hat mir Gedichte aufgesagt.«
»Gedichte …?!!« hatte Harder zurückgefragt und sich wieder einmal gewundert, wie ein solcher Ausbund und Abgrund von Verlogenheit seine Tochter sein konnte.
Und doch hatte Hilde die Wahrheit gesprochen, und Kufalt hatte wirklich Gedichte rezitiert.
Das Rindenhäuschen in jener durchwehten Novembernacht lag weit dahinten, daran durfte man nicht mehr denken, sonst musste man sich nur schämen. Jetzt saßen die beiden in einem richtigen bürgerlichen, gut durchwärmten Zimmer auf dem Sofa nebeneinander als ein richtiges Brautpaar, er erzählte von seinem Tag, erzählte von Freese und Kraft und der Stenotypistin Utnehmer, die er schon wieder mit einem anderen Herrn auf dem Bummel gesehen hatte. Aber der Stoff war bald alle, das meiste hatte er ja schon seinem Schwiegervater erzählt.
Und wenn sie dann von ihrer künftigen Wohnung gesprochen hatten und von der Einrichtung, anderthalb Zimmer mit Küche – dann war es aber gänzlich vorbei.
Sie saßen stumm nebeneinander auf dem Samtsofa, Hand in Hand, er sehr gerade, mit den Augen auf die Lampe zu; sie mit der Neigung, gegen seine Schulter zu sinken und zärtlich zu werden.
Dann küsste er sie ein- oder zweimal und sagte beruhigend: »Ja, meine Liebste, es ist ja gut, Hilde, ich weiß ja.« Und dabei dachte er nach, worüber sie sprechen könnten, und ihre Brust war ihm so nah, und jetzt hätte er alles mit ihr tun können – aber nein, Rindenhäuschen vorbei. Jetzt hieß es Ordnung, Geldverdienen, Bürgerlichkeit. Ein klares Leben – und er wollte sich doch auch nicht schämen müssen vor den Harder, Freese und Kraft. Er hatte aufgeatmet, als sie ihm andeutete, damals – nein, es war nichts passiert, und vor Ostern wollten sie keinesfalls heiraten, und kam etwas, so würden sie doch alle mit den Fingern parat stehen und neun abzählen und sagen: »Aha, darum!!«
Nein, gerade nicht: Aha, darum!
Sie war sehr blass, mit dunklen Ringen unter den Augen, sicher war: Sie verstand nichts.
Einmal brach sie aus: »Willi! Willi! Warum willst du mich heiraten! Bloß, weil ich damals nicht mehr gekommen bin?! Du liebst mich ja gar nicht!«
Aber er beruhigte sie, er wiegte sie in seinen Armen, er sagte, es sei alles richtig, wie er es mache, und eines Tages würde sie alles verstehen.
Und dann saßen sie wieder stumm da, die Lampe brannte still weiter, und sie wussten wieder nicht, wovon reden. Und da eben geriet er auf seine Kindheit.
Sie gehörte hierher, in dieses gutbürgerliche Zimmer, diese geordnete Brautzeit. Sie gehörte genau an diese Stelle seines Lebens – Straftat, Gericht, Gefängnis wurden ausgemerzt; wo das bürgerliche Leben aufgehört hatte, da setzte er wieder an.
Gedichte, jawohl, aber nicht nur Gedichte. Manchmal saßen sie zusammen und summten ein Lied, leise, dass es die Eltern im Schlafzimmer nicht hörten:
»O Täler weit, o Höhen …«
»Ännchen von Tharau …«
»Wer hat dich, du schöner Wald …«
Und beider Gesichter wurden heller, eilig trat ihr kleiner Fuß im durchbrochenen Halbschuh den Takt, die Gardinen hingen weiß und friedlich vor den Fenstern – er aber sagte: »Jetzt lass mich mal allein …« Und er sang: »Beatus ille homo …«1 und »Gaudeamus igitur …«2
Seine paar Gymnasialjahre waren wieder da, und ihre Augen hingen an ihm.
Dann kam das Weihnachtsfest, und die beiden Verlobten standen richtig unter dem Lichterbaum, und richtig spielte der kleine Willi zu ihren Füßen mit einer Puffbahn. Herr Harder aber schenkte seinem Schwiegersohn eine kalblederne Brieftasche mit einem dreimal angespuckten blanken Pfennig darin. »Dass euch das Geld nicht ausgeht« – und Frau Harder schenkte ihm einen Schal.
Von Hilde war nichts da, aber Hilde lächelte, ihre Backen waren rot, sie war sehr glücklich, und alles war so unwahrscheinlich friedlich und geborgen mit dem weißgezuckerten Stollen und dem Karpfen in Bier, als gäbe es gar keine Welt voller Gefahren, gäbe es nicht Verbrechen, Not, Kittchen, Vorbestraftheit.
1 Jeder Mensch ist glücklich (Lat.), aus »Wanderlied der Prager Studenten« von Joseph Freiherr von Eichendorff <<<
2 Wir wollen also fröhlich sein (Lat.), bekanntes Studentenlied; <<<