Das Herz klopfte dem Kufalt doch, als er vor der Tür seines ersten richtigen Kunden stand. Er wartete eine Weile, ehe er die Klingel zog: Es sollte erst ruhiger gehen, aber es ging immer stärker.
Schließlich entschloss er sich zum Klingeln, Schritte kamen auf dem Flur, die Tür ging auf, und ein junges Mädchen stand da.
»Bitte«, fragte sie.
»Kann ich wohl Herrn Malermeister Benzin sprechen?« fragte Kufalt.
»Bitte schön«, sagte sie.
Sie ging voran über den Flur, sie machte eine Tür auf. »Vater, da ist ein Herr.«
Im Zimmer saß eine ältere, nette Frau am Tisch und schnitt Kohl in eine Schüssel. Der Meister, ein bärtiger Mann, stand am Fenster mit einem anderen Herrn.
»Was steht zu Diensten?« fragte der Meister.
Kufalt, in der Mitte des Zimmers, machte eine Verbeugung. Das Herz zog sich krampfhaft zusammen. Werde ich denn überhaupt reden können …? fragte er sich erschrocken.
Aber schon hörte er sich reden. Guten Tag, ja, und er käme von der Redaktion des »Stadt- und Landboten«. Man erlaubte sich die Anfrage, ob Herr Malermeister Benzin sich nicht entschließen könnte, das Blatt, vielleicht erst einmal probeweise, zu beziehen.
»Wir«, sagte Kufalt gesteigert, »wir sind ja in erster Linie das Blatt des gewerblichen Mittelstandes, und ganz speziell treten wir für die Interessen des Handwerks ein. Ihr Syndikus, Herr Benzin, ist unser ständiger Mitarbeiter. Wir haben in den letzten Wochen Artikel über Handwerkerfragen von ihm gebracht, die bis zur Handwerkskammer Aufsehen erregt haben. In diesen schweren Zeiten müssen Freunde zusammenhalten, und da wir speziell fürs Handwerk kämpfen …«
Er verhedderte sich. Aber er kam gleich wieder frei. Er warf einen Seitenblick auf die Frau, er sagte: »Und was unsere Romane angeht, so werden unsere Romane erster Autoren gerade in Familienkreisen besonders gern gelesen. Wir haben jetzt einen Roman, dessen hundertsiebenundsechzigste Fortsetzung läuft. Es handelt sich da um den Gegensatz zwischen Förstern und Wilderern …«
Plötzlich war er alle. Er war ausgepumpt, er hatte zum Schluss noch einen Schwung machen wollen, einen dringenden Appell, aber nein, nichts, alle. Er stand da und sah sich etwas verwirrt im Zimmer um. Alle sahen ihn an, der Regulator an der Wand tickte unerhört laut, dann hörte er Kinder auf der Straße rufen.
»Man kann es vielleicht mal versuchen, Vater?« sagte die Frau schließlich. »Was kostet denn der ›Bote‹?«
Nun kam Kufalt wieder in Fahrt, der Quittungsblock erschien. Geld wechselte seinen Besitzer, ein höfliches »Danke auch. Guten Tag.«
Und Kufalt stand wieder auf der Straße, fünf Viertel Mark reicher. Fünf Viertel Mark in fünf Minuten. Zweihundertfünfzig Adressen!! Mindestens drei Stunden tippen!
Kufalt ging beschwingt weiter zum Malermeister Herzog.
»Wie viel haben Sie?« rief das Fräulein an der Maschine, als Kufalt gegen vier durch die Expedition stürmte.
»Wie viel«, fragte Herr Kraft, der im Redaktionszimmer neben Freeses Stuhl stand, und sah aufmerksam in Kufalts Gesicht.
»Na?« fragte Freese und zwinkerte mit den Augen.
»Raten Sie!« rief Kufalt, warf den Hut auf den Tisch, die Aktentasche auf einen Stuhl, als sei er hier schon zu Haus.
Aber er wartete es nicht ab. »Ich hab heute die Maler genommen. Ich hab mir das überlegt, Herr Kraft, die Maler sind der beste Anfang, morgen nehme ich die Tapezierer, Sattler, Dekorateure …«
»Und wie viel?« fragte Kraft.
Freese guckte bloß.
»Ja, wie viel – neunundzwanzig Maler gibt es hier, fünf waren nicht zu Haus – klappere ich beim nächsten Male mit ab. Mit vierundzwanzig gesprochen …«
»Und wie viel?«
»Übrigens sind vierundzwanzig viel zu viel an einem Tag. Von morgen an nehme ich höchstens fünfzehn. Bei den letzten war ich viel zu müde, habe ich bloß geleiert. Überzeugen muss man die Leute …«
»Von was …?« fragte Freese.
»Na, dass es richtig für sie ist, den ›Boten‹ zu abonnieren.«
»Haben Sie denn den ›Boten‹ schon gelesen? Heute haben Sie nur die Leute davon überzeugt, dass Sie nötig Geld brauchen.«
»Auch schön«, lachte Kufalt. »Also raten Sie doch bloß, meine Herren, von vierundzwanzig habe ich …«
»Also sechs«, sagte Kraft, der zum Schluss kommen wollte.
»Zeigen Sie mal Ihren Block!«
»Gar nicht sechs!« rief Kufalt. »Neun!! Bitte, neun!! Von vierundzwanzig neun, beinahe vierzig Prozent!«
Er strahlte.
»Neun«, sagte Kraft, »neun – na ja, das ist tüchtig …«
»Neun«, krächzte Freese. »An einem Tag neun neue Abonnenten …«
Seine Hand tastete über den Tisch nach der Kognakflasche, er sagte: »Darauf wollen wir alle drei mal einen …« Er unterbrach sich, die Hand landete nicht bei der Flasche, beim Federhalter hielt sie an. »Gar nicht wollen wir darauf. Kraft, ich glaube, ich nehme meine Aufsatzreihe über die Geschichte der Stadt wieder auf … Es ist doch Interesse bei den Leuten. Neun, sagen wir, fünfzig neue Abonnenten in der Woche … Der ›Freund‹ wird spucken …«
»Dietrich geht an den ›Freund‹«, meldete Kufalt. »Will jetzt für den werben.«
Die lachten bloß.
»Den werden sie da gerade nehmen! Den Windhund, der nie abrechnet und immer nur losläuft, wenn er keinen Pfennig mehr hat.«
»Ihm habe ich auch noch ein Abonnement angedreht«, prahlt Kufalt. »Hat sogar bar bezahlt … Dietrich … Wollenweberstraße …«
»Raus!« sagt Freese. »Ich will jetzt arbeiten. – Kraft, nehmen Sie die Kognakbuddel mit, gießen Sie sie ins Klo.«
Kraft grinste, er klemmte die Flasche achtsam und zärtlich unter den Arm.
»Nee, recht haben Sie. Schließen Sie die Buddel in Ihren Schreibtisch ein, vielleicht wirbt der aufgeblasene Kaffer morgen nur zweie. Oder keinen.«
Freese seufzte. Über die Klemmergläser schielte er skeptisch auf Kufalt.
»Außerdem habe ich heute Skatabend. Ich kann auch morgen mit Arbeiten anfangen. Man muss erst sehen, wie der Hase läuft. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer. Stellen Sie die Flasche wieder auf meinen Tisch, Kraft, mehr wird sie auch nicht in Ihrem Schreibtisch. Guten Abend, die Herren.«
Manche Strafentlassene kommen gerne wieder in ihr Kittchen – zu Besuch. Es ist wirklich wie ein Stück Heimat, als Kufalt an der Gefängnistür klingelt, zumal Oberwachtmeister Petrow, der Posener, öffnet.
»Tachchen, Kufalt, olles Haus. Is sich recht, dass du wiederkommst zu uns, jetzt wo Winter ist. Willst du Untersuchung, oder hast du schon Knast …?«
»Nee, nee, Herr Oberwachtmeister, vorläufig möcht ich nur zum Direktor.«
»Ah – is sich Hose kaputt auf dem Arsch? Brauchst du Pinunse von Fürsorge? Direktor gibt, Direktor gibt immer. Beamte schimpfen, ich sage: Lass Direktor machen, wird sich Geld alle so oder so, ob versoffen, ob sich angeschafft Mädchen oder Hose – Gefangener behält kein Geld …«
»Ist der Direktor da?«
»Geh zu, altes Haus. Weißt du den Weg, was soll ich klingeln?«
Es ist nur das Verwaltungsgebäude vom Bunker, nicht der Bunker selbst, aber es ist schon der altvertraute Geruch nach Kalk, einer etwas staubigen Sauberkeit. Das Linoleum spiegelt, man grault sich ordentlich, mit Gummiabsätzen darauf zu gehen.
Jetzt ist die stille Stunde, Kufalt hat sie sich ausgesucht, keine Vorführungen, kein Gerenne. Die Herren Beamten frühstücken. Einen Augenblick lauscht er an der Tür vom Alten, aber es scheint kein Besuch drin zu sein. So klopft er, hört das frische »Herein«, tritt ein …
Es ist nun Spätherbst geworden, beinahe Winter, der Dezember steht vor der Tür, aber der Direktor trägt noch immer einen hellen Sportanzug mit untadeligen Oberhemden. Kufalt kann sie gut sehen, denn der Direktor geht in Hemdsärmeln im Zimmer auf und ab.
Er bleibt einen Augenblick stehen und betrachtet den Kufalt. Drei-, vierhundert Gefangene hat der Direktor seit jenem Maitage sicher entlassen, aber er ist sofort im Bilde. »Tag, Kufalt. Ich hab schon gehört, dass Sie wieder im Städtchen sind. Was arbeiten Sie hier? Oder arbeiten Sie nichts?«
Dabei schüttelt er ihm die Hand. Wie damals fragt er gleich: »Zigarette?«, und wie damals ist es eine Sechserzigarette. Nur, dass dieses Mal Kufalt eine solche Zigarette nicht so imponiert wie damals.
»In Hamburg haben Sie also Schluss gemacht, nicht wahr? Wir hatten da mal eine Anfrage von der Polizei nach Ihnen, ich hab aber nichts mehr davon gehört. Haben Sie was abgekriegt, oder mögen Sie nicht davon sprechen?«
Doch, Kufalt mag, und er erzählt die Geschichte von Cito-Presto.
Der Direktor wiegt den Kopf. »Schade, ja, aber auch nicht schade, es hätte immer schiefgehen müssen, all ihr Vorbestraften zusammen, es wäre nie etwas Rechtes geworden. – Und was machen Sie nun?«
»Werbe Abonnenten für die hiesige Zeitung. Den ›Landboten‹, Herr Direktor.«
»Und davon können Sie leben?«
»Auf zweihundert im Monat komme ich sicher, Herr Direktor«, sagt Kufalt stolz.
»Soso! Ich hatte mal gehört, die Zeitung wär so gut wie pleite. Hab sie nie gesehen. Und nun wollen Sie mir ein Abonnement andrehen?«
»Nein, nein, Herr Direktor«, sagt Kufalt hastig und ein bisschen gekränkt. »Das habe ich wirklich nicht nötig, ich kriege meine Abonnenten schon so zusammen.«
»Und …?« fragt der Direktor. »Alte Schulden …? Ein Wintermantel? Ihrer ist übrigens noch sehr gut. Wo fehlt’s also?«
Kufalt ist wirklich ein wenig beleidigt. Kann man denn nicht zum Direktor kommen, ohne etwas für sich zu wollen, bloß mal, um ihm guten Tag zu sagen, aus Dankbarkeit also, aus Freundschaft …?!
Aber nein, ihm fällt ein, auch er will ja was vom Direktor, hier kommt wohl keiner, der nicht was will.
»Also, Kufalt …?« fragt der Direktor wieder.
»Bruhn«, sagt Kufalt. »Herr Direktor kennen doch den Bruhn?«
»Bruhn?« sucht Direktor Greve. »Ich weiß nicht recht, wir haben hier öfter Bruhns. Welcher war das zu Ihrer Zeit?«
»Der Emil, Herr Direktor, der Kleine mit dem runden Kopf, wegen Raubmord, Herr Direktor, aber es war kein Raubmord …«
»Ach ja«, sagt der Direktor, »ich erinnere mich jetzt, elf Jahre oder so was. Etwas Bewährungsfrist.« Seine Stirn zieht sich zusammen. »Das war doch der Bengel, der sich gleich am Entlassungstag sinnlos betrunken hat und mit ’ner Schlägerei und Weibern anfing? Leben Sie jetzt mit dem zusammen, Kufalt …?«
»Nein, nein, ich lebe allein, ich habe mein möbliertes Zimmer. Aber ich sehe ihn manchmal, Herr Direktor, er ist wirklich ein guter Junge und ein fleißiger Kerl …«
Und dabei denkt Kufalt: Der Direktor hat ein besseres Gedächtnis als du. Du hast den Emil nie danach gefragt, was das war am Entlassungstag, hast es ganz vergessen.
»Die Sache«, sagt der Direktor, »die der Bruhn am Entlassungstage gemacht hat, war jedenfalls nicht gut. Die haben da den Hauswirt die Treppe hinuntergeworfen, der Pastor hat sechs-, siebenmal laufen müssen, bis der Strafantrag zurückgenommen wurde. Sonst wäre Ihr Freund Bruhn seine Bewährungsfrist losgewesen …«
»Ich hab nichts davon gewusst, Herr Direktor«, sagt Kufalt bestürzt.
»Na ja, es ist gut – und nun erzählen Sie, was ist mit Bruhn?«
Und Kufalt erzählt, was für ein geschickter, begabter Tischler der Bruhn ist, wie er all die Jahre im Gefängnis nichts gemacht hat wie tischlern, und wie er es nun draußen nicht weitermachen darf, weil er die Gesellenprüfung nicht hat. Und dass er, der Kufalt, sich ausgedacht hat, vielleicht könnte man den Bruhn noch einmal zu einem Meister schicken in die Lehre, der Meister stünde sich doch nur gut dabei, einen perfekten Gesellen als Lehrling ohne Lohn, und dass dann der Bruhn einen richtigen Beruf hätte, in dem er vorwärtskommen könnte …
Kufalt erzählt das alles sehr eifrig, und aufmerksam hört der Direktor zu. Er wandert dabei in der Stube auf und ab, sagt einmal »ja«, seufzt auch einmal und gibt dem Kufalt zwischendurch die zweite Zigarette.
Als der aber fertig ist, bleibt er stehen und sagt: »Also erstens einmal müsste man einen vorurteilslosen Meister finden, der sich nicht an dem Raubmord stößt. Sehr, sehr schwierig. – Ja, ja, ich weiß schon, Sie sagen, es war keiner, aber in den Akten steht Raubmord, und gebrummt hat er auch dafür, und Wiederaufnahme hat er auch nie beantragt …
Und dann müsste man für die lange Lehrzeit, wo er kaum was verdient, seinen Lebensunterhalt sicherstellen. Der Fürsorgefonds müsste herhalten, auf drei, vier Jahre, fünfzig Mark monatlich mindestens. Das wird noch viel schwieriger, denn wir wissen ja nicht, über wie viel Geld wir im nächsten Jahre verfügen können, und ob nicht viel, viel Bedürftigere da sind …«
Kufalt möchte etwas einwenden, aber der Direktor sagt: »Nein, noch nicht. Und dann müsste ich die Sache vor die Beamtenkonferenz bringen, und von allen anderen Schwierigkeiten abgesehen, müsste man da nun erreichen, dass alle Beamte den Bruhn solcher Auszeichnung und Hilfe für würdig halten. Und da, lieber Kufalt, sehe ich sehr schwarz, denn allein die Sache an seinem Entlassungstage …«
»Aber, Herr Direktor!« sagt Kufalt, »Herr Direktor wissen doch selbst, am Entlassungstage ist doch keiner normal. Jeder ist doch durchgedreht, wenn er rauskommt. Ich war’s auch.«
»Na ja«, sagt der Direktor. »Das wissen wir schon. Und darum haben wir uns ja auch für ihn eingesetzt, dass der Strafantrag zurückgenommen wurde. Aber eine Empfehlung ist es nicht, das müssen Sie schon zugeben, Kufalt.«
»Und im Hause hat Bruhn nie ’ne Hausstrafe gehabt! Und der fleißigste Arbeiter von allen ist er immer gewesen.«
»Man müsste das mal nachsehen«, sagt der Direktor. »Wenn er wirklich so tüchtig ist … Vielleicht … Aber nein, Kufalt, es ist eigentlich kaum zu verantworten, an einen Mann so viel Geld …«
»Aber er verdient es wirklich, Herr Direktor, er ist ein so netter Junge!«
»Jaaa …?« fragt der Direktor plötzlich sehr gedehnt und sehr laut und sieht Kufalt dabei scharf an. »Jaaa …? Ist er ein so netter Junge? – Haben Sie eigentlich ein Mädchen, Kufalt …?«
Kufalt läuft langsam, aber sicher sehr rot an. »Ja, ich habe ein Mädchen, Herr Direktor. Und wie Sie das denken, Herr Direktor, so ist das nicht. Ich will ja nicht lügen, vor vier oder beinahe fünf Jahren, da war es mal, aber seitdem nie wieder. Ganz bestimmt nicht, Herr Direktor. Deswegen bitte ich nicht für ihn, weil er so mein Freund ist.«
»Ist schon gut«, sagt der Direktor. »Und weswegen bitten Sie für ihn, Kufalt?«
Ja, warum bittet er für ihn? Kufalt fragt es sich hastig, er weiß es nicht. Was ist es denn …?
Doch da sagt es der Direktor schon. »Sie sind nicht mehr der Vertrauensmann der dritten Stufe, Kufalt«, sagt der Direktor. »Lassen Sie ruhig nur jeden für sich selbst reden, Bruhn kann gut alleine zu mir kommen, ich versteh schon, was er will, wenn er auch nicht so fließend spricht wie Sie, Kufalt.«
Aber als er Kufalt so beschämt dastehen sieht, sagt er noch: »Na ja, ich glaub’s Ihnen ja, es ist nicht nur Wichtigtuerei gewesen, auch Freundschaft war dabei. Und nun bestellen Sie dem Bruhn, er soll in den nächsten Tagen mal zu mir kommen. Mittwoch oder Donnerstag um zwölf. Auf Wiedersehen, Kufalt. Noch eine Zigarette? Auf Wiedersehen.«
In seiner Schlafhöhle, diesem miesen Loch, saß am ungestrichenen Holztisch der Bruhn, den Kopf auf den Armen, und heulte. Ja, er hob den Kopf, antwortete: »’n Abend«, und ließ dabei ohne Scham seine blanken Tränen, das rot verheulte Gesicht sehen – und weinte weiter.
»Nanu!« sagte Kufalt leichthin. »Wo brennt’s?«
Aber in seines Herzens tiefstem Grunde war er ehrlich erschrocken, denn er dachte daran, dass er in fünf Jahren Knast den Emil nie hatte heulen sehen, im Gegenteil, immer lustig, immer munter – und Knast, das sagte schon der Name, war doch wirklich ein harter Ast im Lebensbaume.
Nun heulte er also ganz still vor sich hin, ließ die Tränen laufen, die Ärmel der feldgrauen Arbeitsjacke waren schon ganz nass. Weinte ganz kindlich, ließ sie laufen, ihm war so, »uah!« weinte er, »ach Gott, uah!«
»Was ist denn los, Emil?« fragte Kufalt.
Keine Antwort, uah und nichts weiter.
»Haben sie dich aus der Fabrik gestenzt?«
Nichts. Heulerei.
»Ist was mit ’nem Mädchen?«
Nichts. Uah.
Kufalt überlegte, er setzte sich auf die Bettkante neben den Tisch, legte seinen Arm auf Bruhns Arm und sagte: »Ich hab heute schönes Geld verdient, wollen wir ins Kino?«
Einen Augenblick schien das Heulen zu stocken, aber dann ging es doch weiter.
Kufalt bekam Angst.
»Bruhn, Emil, bist du krank?«
Nein, nichts, keine Äußerung.
Kufalt stand auf, würdig: »Also, wenn du mit mir nicht reden willst, kann ich ja gehen …«
Pause, nichts erfolgte, kein Protest.
»… und ich hatte dir gerade von meiner Unterredung mit dem Alten erzählen wollen …«
Das wirkte!
Mit einem plötzlichen Schnüffeln brach das Weinen ab, pielgerade saß Bruhn da, zwinkerte mit den Lidern, über denen die weißblonden Brauen knallrot angelaufen waren, und fragte atemlos: »Bist du bei ihm gewesen? Tut er’s?«
»Sachte! Sachte!« erklärte Kufalt. »Glaubst du, so was geht in einer halben Stunde? Der Mann muss sich das doch erst einmal überlegen.«
»Also Neese«, sagte Bruhn, wieder trostlos, »wenn der Direktor sich was überlegen will, wird es immer nein – das weiß ich von den Vorführungen.« Und er war schon dabei, den Kopf wieder auf die Arme sinken zu lassen.
Kufalt bekam gerade noch den Ärmel zu fassen. »Halt, Emil, fang doch nicht wieder an. Du sollst Mittwoch oder Donnerstag um zwölf zu ihm kommen, er will mit dir selbst reden.«
»Da ist doch gar nichts mehr zu reden!« bockte Bruhn. »Entweder tut er’s, oder er tut’s nicht. Reden ist immer Scheiße.«
»Sei kein Dussel, Emil«, sagte Kufalt streng. »Natürlich muss er erst mit dir reden. Vor allem muss er doch einen Meister für dich finden. – Das ist schon nicht so einfach, da kannst du ihm vielleicht helfen.«
»Ja«, sagte Bruhn, schnüffelte, ging an die Waschkommode, zog das Schubfach auf, sah rein, murmelte: »Hat das Schwein von Nachtwächter doch mein Taschentuch genommen!« und nahm den Ärmel.
»Siehst du!« sagte Kufalt. »Und dann muss er doch sehen, wie’s mit dem Gelde wird. Es hat doch keinen Zweck, er fängt die Sache an, und nach einem halben Jahre kann er dir kein Geld mehr geben.«
»Och«, sagte Bruhn ungläubig, »der hat doch immer Geld, wenn er will.«
»Nein, das hat er nicht«, entschied Kufalt. »Du weißt doch, wie die Brüder sind, mal wollen sie ’nen neuen Anzug von der Hilfe und mal Schuhe, oder sie brauchen Handwerkszeug, oder ein Koffer mit Sachen muss eingelöst werden – nein, Geld hat er nicht immer, da muss vorgesorgt werden.«
»Und wenn er’s Geld und den Meister hat – fehlt dann noch was?«
»Dann muss die ganze Beamtenkonferenz zustimmen, dass du würdig bist.«
Bruhn atmete erleichtert auf. »Wenn’s weiter nichts ist. Das ist das wenigste! Da ist keiner gegen mich, nicht einmal der Pfaffe.«
»Ach nee …«, sagte Kufalt gedehnt. »Denkst du das?! Aber du hast doch …« Und besann sich. Warum sollte er es Bruhn erzählen. Womöglich fing der wieder mit Heulen an.
»Was habe ich?« fragte Bruhn.
»Nee, nichts. Ich dachte nur … Bist du denn auch immer zur Kirche gegangen?«
»Selbstredend – und zum Abendmahl auch immer.«
»Dann klappt es ja«, sagte Kufalt befriedigt. »Geh man morgen gleich um zwölf zu ihm.«
»Um zwölf muss ich in der Fabrik sein.«
»Du wirst dir doch mal ’ne Stunde frei nehmen können?«
Bruhn antwortete nicht, einen Augenblick sah es so aus, als wollte er wieder losweinen. Aber dann wurde nichts daraus, die traurige Stimmung war verflogen, Wut kam stattdessen.
»Frei nehmen …? Am liebsten schmissen die mich ganz raus. Bloß, ich hab gesagt, so hintenrum, dass Holzfabriken wunderschön brennen.«
»Bruhn!«
»Na, Mensch, was denn …?! Wie die mit mir Schindluder spielen! Erst haben sie mich um mein Sparkassenbuch gebracht! Und dann sollte ich Vorarbeiter werden mit Vorarbeiterlohn und bin Vorarbeiter geworden mit Ungelerntenlohn. Und immer neue Abzüge haben sie mir gemacht, bloß weil sie denken, der Bruhn kriegt keine andere Arbeit, der Bruhn ist vorbestraft, der muss – bei dem machen wir’s.«
Er sieht Kufalt an, bitterböse, als sei sein Freund der Herr Steguweit von der Holzwarenfabrik, ja, in seine wasserblauen, freundlichen Augen kommt ein richtiger Ausdruck von Wut, von besinnungsloser Wut …
»Na und …?« fragt Kufalt. »Das bist du doch alles längst gewöhnt, Emil!«
»Aber ich will nicht!« schreit der plötzlich. »Wo ich mir die Schwarte von den Händen arbeite und soll weniger kriegen als jeder grüne Stiesel, der keinen Nagel richtig einschlagen kann! Und bloß, weil ich vorbestraft bin, weil das nie aufhören soll, und ich habe doch meinen Knast abgerissen …!«
»Arbeite doch auch langsam«, rät Kufalt.
»Hab’s versucht«, sagt Bruhn ruhiger. »Kann’s nicht, liegt mir nicht. Wühler bleibt eben Wühler, ich muss drauf wie Blücher, richtig roboten.« Er holt Atem. Dann: »Nein, ich hab mich hinter die Jungens gesteckt, und wir haben so gearbeitet, dass immer Reklamationen kamen, da ein Nagel gespießt, da ein Brett lose, da eine Klappe nicht in Ordnung. Und wie sie gekommen sind und gemeckert haben, was wir bloß arbeiten, und alle Ware kommt wieder zurück, da haben wir gesagt, für solchen Lohn kann man nicht anders arbeiten, da laufen eben Fehler mit unter, wenn man sich so hetzen muss …«
»Na und …?«
»Die Brüder!« sagt Bruhn verächtlich. »Speckjäger, die! Einen Aufpasser haben sie neu eingestellt zur Kontrolle, wo wir mit dem Gelde, was der verdient, heile zufrieden gewesen wären. Der revidiert jetzt die Ware, und immer sagt er ›Ausschuss‹, ›Zurück, Ausschuss‹.«
Bruhn schnauft wütend.
»Weiter! Weiter!« drängt Kufalt.
»Na, da habe ich wieder gesorgt, dass alles tadellos abgeliefert wird. Zurück, Ausschuss? habe ich gedacht; warte, Anschiss! habe ich gedacht. Und wenn alles abgeliefert war und stand unten fertig zum Versand, da bin ich nachts eingestiegen, jede dritte, vierte Nacht, mit zwei, drei anderen von den Jungens – und wir haben die Ware wieder schön fertiggemacht für Reklamationen.«
»Dinger drehst du!« sagt Kufalt.
»Wo sie mir mein Geld, das mir zukommt, nicht geben? Was würdest du denn tun, Willi?«
»Weiß ich nicht«, sagt Kufalt. »Erzähl fertig. Deswegen hast du doch vorhin nicht geheult?«
»Nein, aber die Brüder haben natürlich Lunte gerochen, dass ich dahinterstecke, und die Jungens, mit denen ich’s gemacht habe, das sind natürlich Achtgroschenjungens –: Es hat mich einer in die Pfanne gehauen. Und weil sie das wissen von mir, dass ich das mal gesagt habe, Holzwarenfabriken brennen so gut, da haben sie’s gedreht, dass ich von selber die Arbeit hinhauen soll …
Und wie ich da heute Morgen hinkomme und zeige dem Stachu, dass er die Deckel immer zu lose annagelt, schlägt er mit dem Hammer nach mir und schreit, Pierunna,1 dreckiger Raubmörder hat nichts zu sagen, hat er kein Blut an den Händen – der lausige Polacke, der! Und wie ich still werde und arbeite für mich, fragt einer, was die Zeit ist, ob die Mörder nicht die goldene Zwiebel zeigen wollen. Und in der Mittagspause haben sie mir mein ganzes Handwerkszeug gestohlen, und ich steh den ganzen Nachmittag da und muss es suchen und kann keinen Handschlag tun und muss die Reden hören, mit einem Raubmörder haben sie es nicht nötig zu arbeiten. Und der Werkmeister sagt noch, jeder soll auf seine Sachen sehen, die Firma kommt für nichts auf …«
Bruhn schweigt, er starrt vor sich hin.
»Mach doch Schluss da, Emil«, sagt Kufalt, »das hat doch keinen Zweck. Eine Weile wirst du ja zu leben haben, und vielleicht klappt mit dem Direktor der Laden, und dann können die dir alle im Mondschein begegnen.«
»Nee, Willi, nee«, sagt Bruhn langsam, »das verstehst du nicht. Sollen die immer recht behalten und ich immer unrecht? Wenn ich gehe, dann …!«
Er schweigt.
»Aber wenn es was wird mit dem Direktor, gehst du doch auch?«
»Ich denk oft«, sagt Bruhn, »mit uns wird es sowieso nichts mehr. Manchmal denkt man, es geht, aber es geht doch nie.« Leiser: »Und dann denkt man an den Bunker, da hat niemand einem was vorzuwerfen, und sein Fressen hat man, und arbeiten tu ich gerne …«
»Mach doch keine Geschichten, Bruhn«, warnt Kufalt. »Vielleicht bist du in ein paar Wochen schon bei einem Tischler und lachst über die lausigen Fallennester.«
»Und wenn es nun beim Tischler auch nicht anders geht …?« fragt Bruhn langsam. »Die riechen doch auch den Braten, wenn einer mit neunundzwanzig Jahren in die Lehre geht, nicht?«
1 aus dem Polnischen, etwa: Verdammt oder Zur Hölle! <<<