Buch lesen: «Schattenkriege», Seite 2

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Cave trank das Glas mit einem tiefen Zug leer und schenkte sofort nach.

„Rory und seine Kumpane konnten natürlich nicht zugeben, dass ein kleines Mädchen sie so fertiggemacht hatte. Das hätte ihnen auch niemand abgenommen. Also waren es natürlich wieder die üblichen Verdächtigen. Ich bin dann abgehauen, bevor die Bullen dumme Fragen stellen konnten.“

Tank hörte Cave zu, ohne eine Miene zu verziehen. Er erinnerte sich, wie er Jane in Van T’rac zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war tagelang auf der Flucht vor einer Special-Force-Einheit gewesen. Der Dschungel in Vietnam war die Hölle, das wusste er aus eigener Erfahrung. Als die Typen versuchten, sie sich zu greifen, fehlte nicht viel und sie hätte die Soldaten zu Kleinholz verarbeitet. Er hätte ihr damals den Arsch retten sollen, aber es war umgekehrt gewesen.

„Ich glaube, ich weiß, was du meinst.“

Cave fuhr fort: „Ich traf sie dann vor ein paar Monaten in Mexico wieder. Ich war ehrlich überrascht, sie dort bei Boyds üblem Haufen zu sehen. Sie hat dort echt was mitgemacht, eigentlich ein Wunder, dass sie nicht draufgegangen ist. Ich habe schnell gemerkt, dass die Feds an ihr dranhingen. Mein erster Gedanke war, dass es was mit Boyds Geschäften zu tun hat, aber das war nicht so. Sie waren hinter Jane her. Ich kann dir nicht sagen, was sie wollten, aber es ist gründlich schiefgegangen. Vielleicht hatten sie keine Ahnung, mit wem sie sich anlegen.“

Cave starrte auf den staubigen Boden und verstummte. Gewalt war Teil seines Lebens, aber bei der Erinnerung stellten sich ihm beinahe die Nackenhaare auf.

„Dein Mädchen ist ein Killer! Sie ist der gottverdammt schönste, effizienteste und gnadenloseste Killer, den ich je gesehen habe. Sie hat da unten mindestens ein Dutzend Leute massakriert. Nicht dass es mir leidtut, jeder von denen hatte das hundertfach verdient. Aber zwei Minuten später stand sie vor mir, wusste von nichts und heulte sich an meiner Schulter die Augen aus. Das ist gruselig.“ Cave beugte sich vor und senkte die Stimme. „Wenn du jemals irgendwem steckst, was ich dir jetzt sage, reiß ich dir das Herz raus: Ich mag das Mädchen, als sei sie meine kleine Schwester, aber gleichzeitig macht sie mir eine Scheiß-Angst.“

Hinter Tanks Stirn sprangen die Gedanken hin und her. Er war sich sicher gewesen, Jane zu kennen. Aber kannte er sie wirklich? Wer war sie? Was war sie? Was war mit ihr nach dem Autounfall ihrer Eltern passiert?

Seine Fragen schienen überdeutlich in seinen Augen zu stehen, denn Cave sah ihn nachdenklich an.

„Ich weiß es nicht, Mann. Mehr kann ich dir nicht sagen. Gib auf sie acht. Sie kann einen Freund gebrauchen.“

Washington D.C.
Ein Jahr später

Jane rührte das Milchpulver in ihrer Kaffeetasse um und schaute versonnen nach draußen. Es schneite leicht. Wo war nur das letzte Jahr geblieben?

Seit der furchtbaren Geschichte in Seattle waren die Monate nur so verflogen. Tank hatte sich rar gemacht, aber so hatte sie es ja gewollt. Womit er die letzten Monate verbracht hatte, wusste Jane nicht so genau. Viel Zeit war vermutlich für seine Jobsuche draufgegangen. Es war nicht leicht für einen Veteranen, Arbeit zu bekommen, auch nicht in Nebraska. Dort gab es so gut wie nichts, außer endlosen Flächen, die abwechselnd mit Getreide oder Gras bewachsen waren. Allerdings, was war überhaupt ein guter Job für Tank? Jane konnte ihn sich hervorragend als Detektiv vorstellen, aber da würde er in diesem Landstrich vermutlich verhungern. Eine Arbeit auf dem Bau? Schon eher. Burgerbrater, Verkäufer oder Versicherungsvertreter? Auf keinen Fall. Bei den wenigen Telefonaten sprachen sie nicht viel darüber, aber sie merkte schon, dass es an ihm nagte. Beim letzten Mal hatte er vor, als Autoverkäufer anzufangen. Tank besaß eine Menge Qualitäten. Er schoss wie ein Gott, war ein toller Ermittler, mutig, waghalsig und konnte auch seine Fäuste benutzen. Er könnte Trucker, Türsteher oder ihretwegen Holzfäller werden. Scheiße, sie vergaß, dass es in Nebraska ja keine Bäume gab. Wollte er wirklich in einem schlecht sitzenden Anzug arglosen Menschen überteuerte Autos aufschwatzen? Sie wusste, dass er das keine zwei Stunden ertragen könnte.

Sie war ehrlich erleichtert gewesen, als sie erfuhr, dass er bei den US-Marshals anfangen konnte. Den Job hatte er durch einen alten Freund bekommen, den er aus Vietnam kannte.

„Baby, hast du nicht Lust, einfach mal herzukommen? Jim würde sich freuen und …“

Sie wusste, was er als Nächstes sagen würde. Ja, sie vermisste ihn auch. Sehr sogar. Sie konnte sich kaum noch vorstellen, einen Menschen zu haben, dem man wirklich etwas bedeutete. Die Welt, in der sie lebte, war kalt, nicht nur, weil es Winter war.

Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Die letzten Monate hatten sie mehr geschlaucht, als sie zugeben wollte. Das Leben als Freelancer war ein ständiger Kampf ums Überleben. Dauernd auf der Jagd nach einer guten Story, um die besten Bilder. Sie musste schneller sein als andere. Es gab viele Journalisten und noch mehr Fotografen, auf jeden Fall mehr als gute Stories.

Aber was waren gute Stories, gute Bilder? Gewaltexzesse bei Demonstrationen? Opfer von Schießereien, die verdreht auf dem Pflaster lagen? Wohltätigkeitsevents irgendwelcher Politikergattinnen? Schauspieler in flagranti bei einem Seitensprung – oder, noch besser, beim Drogenkonsum?

Jane hasste diese Art von Berichterstattung. Das war nicht ihre Welt. Anderer Leute Privatleben durchschnüffeln? Lobhudeleien und falsche Freundlichkeit auf Partys? Es machte ihr weiß Gott keinen Spaß, aber sie musste leben. Der nächste Scheck für die Miete wurde fällig, sie brauchte Geld für Benzin, Strom, Essen und tausend andere Dinge.

Das Schlimme war, dass ihr das alles sinnlos erschien. Ihre Arbeit war ein Dreck im Vergleich zu dem, was sie in Vietnam gemacht hatte. Vietnam, das schien eine Ewigkeit her zu sein. Für die meisten war es ein Albtraum, den sie möglichst vergessen wollten, aber sie sehnte sich zurück. Hier riss sie sich den Arsch auf, schlug sich die Tage und Nächte um die Ohren. Und was brachte es? Bullshit-Fotos!

Die Ephedrintabletten halfen kaum noch. Sie hatte den Tipp ausprobiert, die Dinger mit hochkonzentrierten Vitaminpillen zu kombinieren. Nun ja, Vitamine konnten ja wohl nicht schaden und es war auf jeden Fall gesünder, als sich Kokain durch die Nase zu ziehen, was etliche Leute machten, die sie kannte. Gesünder …

Sie schüttelte den Kopf und lachte bitter. Gesund war gar nichts, was sie im Moment tat. Schlafen fiel oft genug aus. Es gab Wachmacher und die nahm sie. Essen? Mal einen Donut oder einen Hot Dog zwischendurch. Den meist miserablen Kaffee trank sie im Vorbeigehen. Sie lernte, Hunger zu ignorieren. Diätpillen waren eine gute Möglichkeit, das bohrende Gefühl in der Magengegend zu bekämpfen und trotzdem fit zu bleiben. Nicht, dass sie eine Diät nötig gehabt hätte, im Gegenteil. Außerdem litt sie unter Halluzinationen.

Oder wie sollte man es sonst nennen, wenn der grünhäutige Freund von Senator XY sich am Büffet das Essen in ein feistes, hauerbewehrtes Maul stopfte? Oder die in Lumpen gekleideten Waschbären, die in den Mülltonnen nach Essbarem wühlten und sie ansprachen, um ein paar Dollar zur erbetteln. Warum ließ ein kränklich aussehender Officer nach einem spektakulären Einbruch in eine Blutbank mehrere Beutel mit offensichtlich roter Flüssigkeit im Kofferraum seines Wagens verschwinden? Sie hätte schwören können, die Eckzähne dieses Kerls gesehen zu haben. Sie sah Dinge, die konnte es einfach nicht geben. Vielleicht sollte sie doch mal langsam mit diesen Scheiß-Pillen aufhören.

Als Tank ihr das nächste Mal vorschlug, sie zu besuchen, überlegte sie nicht lange. Sie nahm den Greyhound-Bus nach Lincoln, das Geld für den Flug konnte sie sich momentan nicht leisten. Und selbst hinfahren? Sie brauchte Ruhe, vielleicht konnte sie auf der Fahrt einfach mal ausschlafen. Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Entscheidung bereute. Klar, in D.C. war es im Winter auch kalt, aber hier in den Plains war es einfach barbarisch. Sie war derart durchgefroren, dass sie vermutlich nie wieder auftauen würde.

***

Der Bus traf an einem klaren kalten Wintertag in Lincoln ein. Der Himmel war blassblau. Die Sonne schien hell, aber selbst ihr Licht strahlte keine Wärme aus.

Jane sah Tank schon warten, bevor der Bus hielt. Der Stern glänzte auf der Lederjacke mit dem Pelzbesatz, er trug einen dicken Schal und einen Hut. Er hatte sich einen Schnauzbart wachsen lassen und sah aus wie frisch aus einem Westernklassiker entsprungen. Und dieser Traummann, dieser Cowboy wartete auf sie. Eine Welle des Glücks wärmte sie und zum ersten Mal seit Tagen stahl sich ein Lächeln in ihr Gesicht.

Tank ging zielstrebig auf den Bus zu. Einige Reisende schauten sich verstohlen um. Sie fragten sich ganz offensichtlich, wer jetzt gleich verhaftet werden würde. Jane schnappte sich ihre Reisetasche. Tank packte sie um die Taille, noch bevor sie die Stufen hinuntersteigen konnte, und zog sie an sich. Sein Kuss verriet ihr eindeutig, dass er sie genauso vermisst hatte wie sie ihn.

„Ich habe dich so vermisst, Baby.“ Seine Stimme war rau. Er hielt sie ein wenig von sich weg, um sie genauer zu betrachten. Wie blass sie aussah. Sie zitterte.

Trotz der beißenden Kälte zog Tank seine Jacke aus und legte sie Jane um die Schultern. „Komm mit, du brauchst erst mal einen heißen Kaffee und was zu essen. Das taut dich wieder auf.“

Jane kuschelte sich in das warme Kleidungsstück und folgte Tank zum Parkplatz. Er steuerte auf einen schwarzen 1967er Ford Torino zu, der regelrecht grimmig aussah. Der Motor grollte dumpf, als Tank anfuhr.

„Schickes Auto, gefällt mir.“

Tank grinste. Er war offensichtlich mächtig stolz auf den Wagen.

„Bei dem Wetter wäre ein Truck mit Allrad sicher sinnvoller. Meine Kollegen ziehen mich ständig auf, aber ich hänge an dieser Karre.“

Jane konnte sehr gut nachvollziehen, dass der Torino wesentlich lieber in wärmeren Gefilden unterwegs wäre. Er war ein Exot zwischen den ganzen Pick-ups. Er passte nicht so recht hierher. Jane fühlte sich gerade genauso. Vielleicht könnten sie einfach Richtung Süden fahren und erst anhalten, wenn das Wetter wärmer wurde.

„Kannst du die Heizung höher drehen?“

Tank nickte und warf ihr einen besorgten Seitenblick zu. Ein Blinder konnte sehen, dass Jane sich ziemlich unwohl fühlte. Sie war blass und hatte ziemliche Ringe unter den Augen. Von ihrem gewohnten Elan und ihrer Fröhlichkeit war nicht viel zu spüren. Sie hatte es in der letzten Zeit wohl ziemlich schwer gehabt. Wenn sie freiwillig in einen Bus gestiegen war, statt zu fliegen, sagte das auch einiges aus. Genauso wie die Tatsache, dass sie bereits zwei Kopfschmerztabletten mit erschreckendem Automatismus genommen hatte. Ein paar Tage Ruhe, vernünftiges Essen und frische Luft würden ihr bestimmt guttun.

„Hey, ich kenne ein sehr nettes Lokal. Was hältst du von Steak, French fries mit Sour-Cream und zum Nachtisch ein großes Stück Käsekuchen?“

In diesem Moment wurde Jane klar, dass sie furchtbaren Hunger hatte. Ihr Magen rebellierte schon beinahe.

„Ja, gute Idee.“ Sie versuchte ein zaghaftes Lächeln. Mehr ließen ihr Magen und die stechenden Kopfschmerzen einfach nicht zu.

Tank hatte nicht zu viel versprochen. „Larry’s“ war ein alter Straßenbahnwagen, der auf irgendwelchen undefinierbaren Wegen nach Lincoln gefunden hatte. Er war jetzt zur Mittagszeit sehr gut besucht.

Tank schien Stammgast zu sein, denn Larry kam persönlich an den Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Tank war noch nie in Begleitung hergekommen. Neugierig musterte er Jane. Hübsch war sie ja, wenn auch etwas zu blass und zu dünn für seinen Geschmack. Eine richtige Großstadtpflanze.

Das Essen war wirklich sehr gut. Ihr Magen knurrte, seit Tagen hatte sie nichts Vernünftiges mehr in den Bauch bekommen, aber jetzt war es, als stecke ein Kloß in ihrer Kehle und hindere sie, zu schlucken. Ihre Hände zitterten.

Tank schaute sie mit einem besorgten Seitenblick an. Es entging ihm nicht, dass sie seit ihrer Ankunft mindestens drei verschiedene Pillen geschluckt hatte. Die Beiläufigkeit, mit der sie das Zeug runterspülte, ließ eine Gewöhnung erkennen, die ihn mit Sorge erfüllte. Kein Wunder, dass sie so kaputt und fahrig war. Das Ganze passte ihm ganz und gar nicht.

„Sollen wir fahren? Du schläfst dich erst mal aus, und wenn es dir morgen nicht besser geht, schleppe ich dich zum Arzt.“

Jane nickte, während Tank Larry bedeutete, dass er zahlen wollte.

„Marshal, du hast ja noch gar nicht aufgegessen. Und ihr Teller“, er schaute Jane an, „ihr Teller ist ja praktisch unberührt. Schmeckt es Ihnen nicht, Miss?“

Tank angelte eine Decke von der Rückbank und reichte sie Jane.

„Hier. Ich möchte nicht, dass du frierst. Es dauert immer einen Moment, bis die Karre warm ist. Jane rang sich ein Lächeln ab.

„Ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie dein neuer Job ist. Wie fühlt man sich so als US-Marshal?“

Tank grinste. „Ist nicht halb so spannend wie bei Wyatt Earp. Mittlerweile reiten wir auch in Nebraska nicht mehr durchs Land und suchen nach den bösen Jungs. Wir vollstrecken Haftbefehle, aber das ist meistens nicht besonders spektakulär. Dann Bewachung von Zeugen, Überstellungen von einem Gefängnis zum nächsten. Gerichtstermine. Aber ich beklage mich nicht, hätte es wirklich schlimmer treffen können. Die Kollegen sind ganz in Ordnung, Jim kennst du ja. Er und seine Frau würden sich übrigens freuen, wenn wir in den nächsten Tagen mal zum Abendessen reinschauen.“

Jane nickte. Sie waren gute Freunde gewesen, damals in Saigon. Saigon – das schien in einem anderen Leben gewesen zu sein. Sie fragte sich, ob sie wieder hinfliegen würde, aber nein – es gab dort keinen Tank mehr. Saigon ohne Tank, das wäre nicht dasselbe und Tank war heilfroh, dass er wieder hier war.

Sein warmer Bariton unterbrach ihre Gedanken.

„Woran arbeitest du im Moment?“

Das wüsste sie selbst gern.

„Mal dies und mal das. Die richtig tollen Sachen werden meist von den Leuten erledigt, die für die großen Zeitungen schreiben. Für Leute wie mich bleiben da mehr so die Krümel, die unter den Tisch fallen. Nichts wirklich Großartiges. Das Aufregendste war letzte Woche eine Dinnerparty bei einer Society-Lady, Felicity irgendwas. Die Party plätscherte vor sich hin, bis die Tochter des Hauses vollkommen stoned die Treppe herunterkam. Wäre vielleicht nichts Besonderes gewesen, aber bis auf die Sandaletten, die sie in der Hand trug, war sie nur mit einem Slip bekleidet …“

Tank hörte Jane zu, während der Torino immer weiter über den Highway grollte. Das war also Janes Leben? Sie hatte tolle Reportagen gemacht. War rausgegangen, an die Front. Sie genoss große Anerkennung bei den Jungs. Und jetzt hörte sie den Polizeifunk ab, um lohnende Objekte zu finden, oder fotografierte auf drittklassigen Promipartys. Er konnte es nicht fassen. Irgendwann nickte sie ein, den Kopf an die Scheibe gelehnt.

„Wir sind da, Baby, aufwachen!“

Jane rappelte sich hoch und schaute aus dem Fenster. „Habe ich geschlafen?“

„Wie ein Murmeltier während der letzten halben Stunde.“ Das Lächeln in seinen Augen wärmte beinahe besser als die Decke. „Schau mal, sieht das nicht wundervoll aus?“ Er wies mit der Hand zum Seitenfenster.

„Wow!“

Vor ihnen breiteten sich endlose Felder aus. Getreidestoppeln schauten durch den Schnee, der die Landschaft wie mit Puderzucker überdeckt hatte. Darüber färbte die tiefstehende Sonne den Himmel rosa-golden, bevor sie bald hinter dem Horizont verschwinden würde.

Tank legte den Arm um ihre Schulter und zog sie an sich. Verträumt schaute er in die endlose Weite.

„Hier ist mein Zuhause.“

Jane hob den Kopf und küsste ihn auf die Wange.

„Ja, das sehe ich. Der weite Himmel, das ist etwas anderes als die Straßen von Washington. Ich mag es und jetzt musst du mir den Rest zeigen, bevor es dunkel ist.“

„Erwarte bloß nicht zu viel. Das Haus ist eine Ruine und die Scheune wartet nur noch auf den nächsten Sturm, um wegzufliegen! Aber das ist mir egal.“

Jane sah ihn erstaunt an. „Und wo werden wir dann schlafen? Sag bitte nicht in diesem Auto!“

Tank lachte schallend. „Nein Baby, keine Sorge. Ich habe einen Trailer hinter die Scheune gestellt. Das ist zwar nicht gerade ein Palast, aber es ist warm, es ist trocken und dort ist genug Platz für uns beide!“

Ihnen blieb nur ein kleiner Blick auf das, was einmal die Farm von Tanks Eltern gewesen war, denn die Dunkelheit senkte sich rasch über die Ebene. Tank würde viel Zeit und Arbeit investieren müssen, bis das Ganze wieder bewohnbar war.

Es war, als könne er ihre Gedanken lesen. Er zog sie an sich und schloss seine Arme um sie.

„Ich habe doch jede Menge Zeit, Baby. Es reicht, wenn es fertig ist, wenn du bleiben möchtest.“

Tanks Wohnwagen war tatsächlich ziemlich gemütlich. Er hatte den Abend zwar etwas anders geplant, aber Jane sollte sich erst mal etwas ausruhen. Ihnen blieb schließlich eine ganze Woche Zeit. Mit etwas Glück schneiten sie ein und er würde seinen Boss anrufen, dass er im Frühjahr wiederkommen würde. Er grinste bei der Vorstellung.

Jane kramte in ihrer Tasche und suchte nach dem Fläschchen mit den Ephedrinkapseln. Sie war schließlich nicht zum Schlafen hergekommen. Tank lehnte sich gegen die Wand und schaute ihr unverwandt zu.

„Meinst du nicht, du hast schon genug davon geschluckt?“

Jane sah irritiert auf. „Was soll denn die Frage?“

„Seit ich dich abgeholt habe, hast du drei verschiedene Pillen geschluckt und zusätzlich die beiden Kopfschmerztabletten bei Larry. Hältst du das für normal?“

Jane spürte, wie der Ärger in ihr hochstieg. Wieso führte Tank sich auf wie ein elender Besserwisser?

„Zählst du jetzt jede Pille mit, die ich schlucke? Ich habe Kopfschmerzen und ich möchte nicht den ganzen Abend verschlafen, wo wir uns endlich mal wiedersehen. Was hast du damit für ein Problem?“

Tank hob abwehrend die Hände. „Baby, jetzt reg dich doch nicht direkt auf. Ich mache mir einfach Sorgen. Du bist weiß wie ’ne Leinwand, zitterst und hast Ringe unter den Augen. Du wirfst dir das Zeug rein, als seien es Smarties. Ja, du hast so was auch früher schon genommen, aber nicht so.“

Musste der Kerl so maßlos übertreiben? Er tat so, als leide sie an einem absoluten Kontrollverlust.

„Ich finde, wir sollten diese Unterhaltung lassen. Das führt zu nichts. Ich habe alles unter Kontrolle, okay?“

„Den Satz kenne ich. Habe ich schon oft von Leuten gehört und am Ende gehen sie vor die Hunde oder sehen weiße Mäuse!“

Jane holte tief Luft. „Du unterstellst mir also, ich sehe Dinge, die nicht da sind? Ich sehe weiße Mäuse? Ich sehe Dämonenfratzen? Sagt ausgerechnet der Mann, der sich bei Fehlzündungen in Deckung wirft, weil er denkt, neben ihm geht ’ne Bombe hoch? Ich glaube, wir sollten mal ernsthaft darüber reden, wer hier ein Problem hat! Ich habe mich nicht nach Nebraska verkrochen!“

Tank unterdrückte den dringenden Wunsch, Jane durchzuschütteln. Dieser Vergleich war mehr als unfair. Schön, wenn sie das Gefühl vergessen hatte, wie es ist, wenn jederzeit und überall eine Sprengladung hochgehen konnte. Er lebte jeden Tag damit. Jeden Tag kämpfte er dagegen an, und zwar ohne zu saufen oder irgendwelche Pillen zu schlucken. Und ja, wenn sie schon dabei waren: Jane sah Dinge, die nicht da waren!

„Wenn du mich so fragst, ja, ich unterstelle dir, dass du Dinge siehst, die nicht da sind. Ich wollte nicht auf Seattle zu sprechen kommen, weil ich mir denken kann, wie furchtbar das für dich war. Ich habe es auf deine überreizten Nerven geschoben. Wenn ich es aber recht überlege, hattest du da bereits eine Armada von Pillen im Schrank.“ Seine Stimme war sehr ruhig. „Erwarte nicht von mir, dass ich zusehe, wie du dich damit kaputt machst, ohne dass ich ein Wort dazu verliere.“

Jane sah aus, als würde sie ihn jeden Moment anspringen. Er hatte sie noch nie so wütend gesehen.

„Ich bin vollkommen normal, Tank! Du hast doch gar keine Ahnung, wie mein Leben aussieht. Du warst nicht da. Du warst nicht da, als sie mich gefeuert haben. Du warst nicht da, als ich damit klarkommen musste, dass meine Familie verschwunden ist. Du hast dich in den hinterletzten Winkel dieser Welt zurückgezogen. Und jetzt meinst du, du könntest mir vorschreiben, wie ich zu leben habe?“ Ihre Stimme wurde schrill.

„Ich war nicht da? Ich habe dich allein gelassen? So siehst du das?“ Tank wusste, dass er bereuen würde, was er jetzt sagte, aber es war zu spät. „Dann werde ich dir jetzt was sagen. Eigentlich wollte ich nicht, dass du es je erfährst. Als du in Seattle in den Flieger gestiegen bist, bin ich zu Officer Wagmann vom Seattle Police Department gefahren. Wir haben gemeinsam ein paar Nachforschungen angestellt. Wir sind bis zur kanadischen Grenze hochgefahren. Wir haben deine Familie gefunden, sechs Fuß unter der Erde.“

Janes Hand klatschte in Tanks Gesicht. Er erstarrte. Verflucht, er hätte sich besser die Zunge abbeißen sollen.

„Du hast mir nichts gesagt! Du wusstest, dass sie tot sind. Du wusstest es und hast mir nichts gesagt. Wieso?“ Sie schrie die Worte heraus, während sie mit den Fäusten auf ihn losging.

Es gelang ihm mit Mühe, sie festzuhalten.

„Weil ich mir verdammt noch mal Sorgen mache und nicht wollte, dass du etwas Dummes tust. Weil du vollkommen fertig warst und ohnehin nichts hättest tun können. Du bist in Seattle gerade noch einer üblen Falle entgangen und du wärest ein zweites Mal hineingerannt. Du hast Feinde, Jane, und ich weiß nicht, warum.“

Jane hörte auf, sich zu wehren. „Du hättest es mir sagen müssen, Tank. Ich habe dir immer rückhaltlos vertraut. Immer, vom ersten Tag an. Wie konntest du mich so hintergehen? Ausgerechnet du?“ Ihr Blick war leer und verloren. „Du solltest mich jetzt besser zum Busbahnhof zurückbringen.“

„Es ist mitten in der Nacht, Jane. Bitte, bleib! Morgen reden wir darüber.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte gehen. Muss ich mir ein Taxi rufen?“

„Du würdest hier um diese Zeit keines bekommen. Ich fahre dich.“

Sie sprachen kein Wort, während der schwarze Ford Torino sie durch die Nacht trug. Tank verfluchte seine Worte mindestens tausendmal. Was hatte er nur angerichtet. Er wollte nicht, dass sie ging. Nicht so. Er sah die Entschlossenheit in ihrem Gesicht. Es würde ihm nicht gelingen, sie zurückzuhalten.

Er öffnete die Tür. „Soll ich deine Tasche nehmen?“

„Nicht nötig! Semper Fi, Tank.“

Tank saß in seinem Wagen und schaute Jane nach, wie sie entschlossen davonstapfte. Er stützte die Ellenbogen auf das Lenkrad und barg sein Gesicht in den Händen. Wie zum Teufel konnte alles so schiefgehen? Er hatte sich unglaublich auf dieses Wochenende gefreut. Jane! Er hatte sie so vermisst. Vielleicht war er naiv gewesen. Die Zeit hatte sie beide verändert, sie einander entfremdet. Wenn sie nicht einmal mehr verstand, dass er sich um sie sorgte, dass sie der einzige Mensch auf der Welt war, der ihm wirklich alles bedeutete … Wenn es nicht einmal mehr dieses Band zwischen ihnen gab, dann war es wohl sinnlos.

Er schluckte und startete den Motor. Im Radio spielten sie „We gotta get out of this Place“ von den Animals. Einer der Songs, die ihm in Verbindung mit dem Foto von Jane geholfen hatten, den Krieg durchzustehen. Jetzt konnte er ihn nicht ertragen. Er drehte das Radio aus.

***

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