»Und Fräulein Henriette, wie geht es ihr?« fragte er dann.
»Danke, sehr gut, sie ist verheiratet.«
»Ah! …«
»Und mit wem?« fuhr er fort, mühsam seine Bewegung unterdrückend.
»Nun, mit dem jungen Mann, wissen Sie, der uns damals begleitete; er übernimmt später das Geschäft.«
»Ah, jetzt verstehe ich.«
Als er fortging fühlte er unwillkürlich eine gewisse Traurigkeit. Madame Dufour rief ihn zurück.
»Wie geht es Ihrem Freunde?« fragte sie.
»Danke, recht gut.«
»Grüssen Sie ihn von uns; aber nicht vergessen! Und er möchte uns doch mal besuchen, wenn er vorbei käme …«
»Es würde mich besonders freuen, sagen Sie ihm das« fügte sie hinzu.
»Werde nicht verfehlen. Adieu!« entgegnete Henri.
»Nein, nicht Adieu! Auf baldiges Wiedersehen!«
*
Eines Sonntages im nächsten Jahre, als es wieder einmal sehr heiss war, traten Henri alle die unvergesslichen Einzelnheiten dieses Abenteuers plötzlich wieder so deutlich und begehrenswert vor die Seele, dass er, wie von einer dunklen Ahnung getrieben, allein nach dem alten Versteck im Gehölz ruderte.
Er prallte beim Eintritt erstaunt zurück. Sie war da, sie sass mit trauriger Miene im Grase, während neben ihr nur in Hemdsärmeln ihr Gatte, jener junge Mann mit dem Flachshaar, schlief und wie ein Maulesel schnarchte.
Als sie Henri erblickte, wurde sie kreidebleich, sodass er glaubte, sie würde ohnmächtig. Dann begannen sie ganz harmlos miteinander zu plaudern, als sei niemals etwas zwischen ihnen beiden vorgefallen.
Als er ihr aber erzählte, wie lieb ihm dieses Plätzchen sei, und dass er Sonntags oft hierher käme, um an süssen Erinnerungen zu zehren, sah sie ihm lange und tief in die Augen.
»Es vergeht keine Nacht, wo ich nicht daran denke« sagte sie.
»Komm, Liebe,« sagte ihr Mann munter werdend, »es ist Zeit, glaube ich, nach Hause zu gehen.«
*
Wenn die ersten schönen Tage erscheinen, wo die erwachende Erde sich in neues Grün kleidet, wo blumige Düfte unsere Sinne umschmeicheln und uns sozusagen bis zum Herzen dringen, dann ergreift uns ein dunkles Sehnen nach unnennbarem Glücke, ein Verlangen, hinauszustürmen aufs gerade Wohl, und Abenteuer zu suchen, mit einem Wort: Frühlingsluft zu schlürfen.
Nachdem der harte Winter des verflossenen Jahres verflogen, ergriff mich eines Tages im Mai dieses Sehnen nach Wonne und Behagen, wie ein trunkener Taumel, wie das Überquellen eines gärenden Saftes.
Als ich am Morgen erwacht war, sah ich durch mein Fenster, wie über den Dächern der Nachbarhäuser den blauen Himmel im Glanze des Sonnenlichtes lachte. Die Kanarienvögel auf dem Fensterbrett trillerten ihr Liedchen, in allen Stuben und Kammern sangen die Dienstmädchen, ein fröhliches Gewimmel drang von der Strasse her zu mir herauf, und ich ging hinaus, ohne ein bestimmtes Ziel, festliche Stimmung im Herzen.
Überall, wohin das Auge blickte, traf man vergnügte Gesichter; ein Hauch innerer Glückseligkeit wehte in dem warmen Schimmer des wiederkehrenden Frühlings. Man hätte glauben sollen, eine Wolke von entfesselter Liebe sei über der Stadt gelagert; und die jungen Mädchen, welche zierlichen Schrittes in ihren Morgenkostümen an mir vorüberschritten und in deren Augen verborgene Liebesglut schimmerte, setzten mein Herz ganz in Flammen.
Ohne recht zu wissen, wie und warum, war ich schliesslich an’s Ufer der Seine gelangt. Dampfboote glitten auf der Fahrt nach Suresnes vorüber und ihr Anblick erweckte plötzlich in mir das unwiderstehliche Verlangen, mich einmal nach Herzenslust im Walde zu ergehen.
Das Verdeck der »Mouche« wimmelte von Passagieren; denn der erste Sonnenstrahl lockt einen unweigerlich aus dem Hause und alles, was Leben hat, flutet heute auf den Dampfschiffen ab und zu unter behaglichem Geplauder mit dem Nachbarn oder der Nachbarin.
Ich hatte eine Nachbarin, eine kleine Arbeiterin ohne Zweifel, ganz mit dem echten Pariser Chik; ihr niedliches Köpfchen wies eine Fülle von blondem an den Schläfen gelockten Haar auf. Diese Haare, die wie frisiertes Licht aussahen, fielen über die Ohren auf den Nacken herab, und tanzten im Winde; weiter unten wurden sie so fein wie ein Flaum, so leicht, so blond, dass man sie kaum noch sah. Aber zugleich spürte man ein unbezwingliches Verlangen eine Flut von Küssen darauf zu pressen.
Unter meinem brennenden Blicke wandte sie mir unbewusst ihr Gesicht zu, senkte aber sofort ihre Augen, während um ihre Mundwinkel sich eine leichte Falte, wie ein halbentstehendes Lächeln, legte. Dabei entdeckte ich auch auf ihrer Oberlippe diesen duftigen weichen Flaum, den das Sonnenlicht ein wenig vergoldete.
Ruhig und schwer wälzte sich der Strom dahin. Ein warmer Frieden lag in der Luft und stille Lebenslust zitterte durch die Atmosphäre. Meine Nachbarin schlug die Augen wieder auf und diesesmal, als ich sie wieder beharrlich anstarrte, lächelte sie ganz entschieden. Sie sah reizend aus bei diesem Augenaufschlag, und in ihrem flüchtigen Blicke entdeckte ich tausend bis dahin mir fremde Dinge. Ich sah dort unbekannte Tiefen, den ganzen Reiz der Liebe, die ganze Poesie unserer Träume, das ganze Glück, nach dem wir unaufhörlich suchen. Ich fühlte ein unsinniges Verlangen die Arme zu öffnen, sie irgendwohin zu entführen, um ihr die süssen Töne der Liebe ins Ohr zu flüstern.
Im Begriff den Mund zu öffnen und sie anzureden, fühlte ich plötzlich einen leichten Schlag auf meine Schulter. Überrascht und unwillig sah ich auf und bemerkte vor mir einen Mann von gewöhnlichem Aussehen, weder jung noch alt, der mich mit melancholischem Blick betrachtete.
»Ich möchte ihnen etwas sagen,« bemerkte er.
»Es ist sehr wichtig,« fügte er hinzu, da er mir die Ungeduld am Gesichte ablesen mochte.
Ich stand auf und folgte ihm an’s andere Ende des Schiffes.
»Mein Herr!« begann er wieder, »wenn der Winter mit seinen Frösten, mit Regen und Schnee, sich naht, so sagt Ihnen täglich der Arzt: »Halten Sie sich die Füsse recht warm; hüten Sie sich vor Erkältungen, vor Schnupfen, Husten und Lungenentzündung.« Nun gut; Sie treffen allerhand Vorsichtsmassregeln, Sie tragen Flanell, dicke Überzieher, warme Schuhe und anderes mehr; aber trotzdem bringen Sie mindestens zwei Monate der Zeit im Bette zu. Aber wenn der Frühling mit neuen Blüten und Blättern, mit seinen warmen und weichen Winden, mit jenem Duft der wiedererwachenden Natur sich naht, der Ihr Herz in Flammen setzt und sie ohne eine bestimmte Ursache zu zärtlichen Regungen treibt, dann sagt Ihnen niemand: »Freund, hüte Dich vor der Liebe! Sie lauert überall verborgen, sie hockt in allen Winkeln. Alle ihre Pfeile sind gespitzt, ihre Waffen geschärft, ihre List bereit. Hüte Dich vor der Liebe! … Ja hüte Dich vor ihr! Sie ist gefährlicher als Schnupfen, Husten oder Rheumatismus! Sie kennt kein Erbarmen und treibt Dich zu den grössten und unwiderruflichsten Tollheiten.« Ja, mein Herr, ich sage, die Regierung sollte jedes Jahr in großen Lettern die Worte anschlagen lassen: »Achtung vor dem Frühling! Bürger Frankreichs! Hütet Euch vor der Liebe!« ebenso gut wie man an die Haustüren schreibt: »Achtung! Frisch angestrichen!« Da nun die Regierung so etwas nicht macht, so trete ich an ihre Stelle und sage Ihnen: »Hüten Sie sich vor der Liebe! sie ist im Begriff Sie anzustecken, und ich habe die Pflicht, Sie zu warnen, so gut, wie man in Russland jemanden warnt, der im Begriff ist, sich die Nase zu erfrieren.«
Ich stand ganz erstaunt vor diesem sonderbaren Kauz und sagte schliesslich mit abwehrender Miene:
»Sie scheinen sich eigentlich in Dinge zu mischen, mein Herr, die Sie garnichts angehen.«
Er machte eine ungeduldige Bewegung.
»Ach, mein Herr! mein lieber Herr!« sagte er »wenn ich bemerke, dass ein Mann sich in eine ihm fremde Gefahr stürzen wollte, sollte ich ihn dann umkommen lassen? Ich bitte Sie, hören Sie meine eigene Geschichte, und Sie werden begreifen, warum ich so zu Ihnen zu sprechen wage.«
»Es war voriges Jahres zur nämlichen Zeit. Ich musste Ihnen zunächst sagen, dass ich Beamter im Marine-Ministerium bin, wo unsere Chefs die Kommissare, allen Ernstes ihre Stellung so auffassen, dass sie uns als Lasttiere behandeln. – Ja, wenn alle Chefs aus dem Zivilstande wären. – Doch weiter: Ich konnte von meinem Büro aus einen kleinen Streifen des blauen Himmels wahrnehmen, und es packte mich die Lust, mitten unter meinen staubigen Aktenbündel umherzutanzen.
Mein Wunsch nach Freiheit wuchs derartig, dass ich, trotz aller Scheu, es schliesslich wagte, meinen Chef aufzusuchen. Es war ein kleiner Tyrann, der aus dem Jähzorn nicht herauskam. Ich meldete mich krank. Er sah mir ins Gesicht und schrie:
»Ich glaube nichts dergleichen, mein Herr! Nun gut, gehen Sie! Aber denken Sie, dass ein Büro mit ähnlichen Leuten, wie Sie, bestehen kann?«
Ich ging indessen und begab mich an die Seine. Es war ein Wetter wie heute und benutzte ebenfalls die »Mouche,« um eine Fahrt nach Saint-Cloud zu machen.
Ach, mein Herr! hätte der Chef mir doch den Urlaub abgeschlagen!
Es war mir zu Mute, als lebte ich unter der Sonne neu auf. Ich begann alles zu lieben, das Schiff, den Fluss, die Bäume, die Häuser, meine Nachbarn, alles! Ich musste irgendetwas küssen, was es auch sein mochte. Das war die Liebe, die ihre Schlingen ausbreitete.
Beim Trocadero stieg plötzlich ein junges Mädchen mit einem kleinen Packet in der Hand, auf und setzte sich mir gegenüber.
Sie war hübsch, ja mein Herr! sie war sehr hübsch. Aber es ist merkwürdig wie viel besser einem die Weiber im Frühling gefallen, wenn das Wetter hübsch ist. Sie haben dann etwas Besonderes, einen Reiz ganz eigener Art. Es ist das ungefähr, wie wenn man auf ein Stück Käse einen Schluck guten Wein trinkt.
Ich sah sie an und sie schaute mich an – aber nur von Zeit zu Zeit, ganz wie ihre da. Nachdem wir uns so eine Weile gegenseitig betrachtet hatten, dachte ich, wir kennten uns nun hinreichend, um ein Gespräch anzuknüpfen, und ich begann die Unterhaltung, sie antwortete. Von Minute zu Minute wurde sie gesprächiger, und ich für meinen Teil wurde einfach wie ein Trunkener; das kann ich Ihnen versichern, mein Herr!
In Saint-Cloud, wo sie eine Bestellung abzuliefern hatte, stieg sie aus – ich natürlich mit ihr. Als sie wiederkam, fuhr das Dampfschiff gerade ab. Ich ging neben ihr her und wir sogen beide mit Behagen die frische, würzige Frühlingsluft ein.
»Ich glaube, im Walde würde es herrlich sein,« sagte ich.
»Ach ja!« antwortete sie.
»Hätten Sie nicht Lust einen Spaziergang dorthin zu machen, Fräulein?«
Sie streifte mich von unten her mit einem raschen Blick, als wollte sie sich über meine Absichten vergewissern; dann willigte sie nach kurzem Zögern ein. Bald befanden wir uns unter den grünenden Bäumen. Noch lag hier und dort das fahle Laub des vergangenen Herbstes auf dem Boden, aber unter ihm sprosste duftiges Grün hervor, strahlend im zitternden Sonnenlichte, belebt von unzähligen kleinen und großen Wesen, die sich im Rausche erwachender Frühlingslust tummelten, während der vielstimmige Gesang der Vögel die Luft erfüllte. Da begann meine Gefährtin, von Frühlingsduft und Waldwürze berauscht, in lustigen Sprüngen davonzulaufen, und ich folgte ihr scherzend indem ich ebenfalls ausgelassene Sprünge machte. Man wird zuweilen wieder zum Kinde, mein Herr!
Hierauf stimmte sie übermütig ein Liedchen an, Opern-Melodien, den Gesang der Musette! Wie poetisch klang es mir damals! … Ich weinte fast. Alle diese Scherze machten mich ganz toll damals. Nehmen Sie niemals eine Frau, die auf einer Landpartie singt, zumal wenn sie das Lied der Musette singt.
Bald wurde meine Gefährtin müde und setzte sich auf einen grünen Hügel. Ich ließ mich zu ihren Füssen nieder und fasste ihre Hände, diese niedlichen kleinen Hände, die von Nadelstichen übersäet waren und deren Anblick mich ganz zärtlich stimmte. »Das sind die heiligen Narben der Arbeit,« sagte ich bei mir. Ach, mein Herr! mein guter Herr! wissen Sie, was das bedeutet, die heiligen Narben der Arbeit? Das bedeutet das ganze Geklatsche des Arbeitssaales, die geflüsterten heimlichen Zweideutigkeiten, die Befleckung der Seele durch all die schmutzigen Geschichten, die Untergrabung der Keuschheit, die ganze Gemeinheit jenes Geschwätzes, das ganze Elend des täglichen Lebens, die ganze Beschränktheit des weiblichen Ideenganges, die auf jenen lastet, welche an den Fingerspitzen die heiligen Narben der Arbeit tragen.
Dann sahen wir uns lange in die Augen. Ach, dieses Auge des Weibes! Welche Macht liegt doch in ihm! Wie betört, wie reizt, wie unterjocht und beherrscht es! Wie tief, wie unergründlich erscheint es, wie so voller Versprechen. Man nennt das: Auf dem Grund der Seele lesen! Ach, mein Herr! Welch ein Blödsinn! Könnte man dem Weibe in die Seele schauen, man wäre wahrhaftig vernünftiger.
Schliesslich war ich ganz in ihren Banden, ich war närrisch und wollte sie in meine Arme schliessen. »Hände weg!« war ihre Antwort.
Ich kniete vor ihr nieder und schüttete ihr mein Herz aus; ich flüsterte in ihren Schoss alle Zärtlichkeiten, die ich empfand. Sie schien über den Wechsel meines Benehmens sehr erstaunt und sah mich mit einem versteckten Blick an, als spräche sie zu sich selbst:
»Aha! so muss man mit Dir spielen, mein Bester! Schön, wir werden ja sehen.«
Sie wäre mein gewesen, ohne Zweifel; ich habe später meine Torheit eingesehen; aber was ich damals suchte, war nicht sinnlicher Genuss, sondern etwas Idealeres: Mich verlangte nach Zärtlichkeit. Ich war sentimental, statt meine Zeit auf etwas Besseres zu verwenden.
Als sie an meinen Liebesbeteuerungen genug hatte, erhob sie sich, und wir begaben uns nach Saint-Cloud zurück; erst in Paris trennten wir uns. Seitdem wir uns auf dem Heimwege befanden, hatte sie eine so traurige Miene, dass ich nicht umhin konnte, sie um die Ursache zu befragen.
»Ich denke daran,« antwortete sie »dass es nicht viele Tage im Leben gibt, so schön wie dieser.«
Mein Herz pocht zum Zerspringen.
Ich sah sie am nächsten Sonntag wieder, und am folgenden gleichfalls und so fort alle Sonntage. Ich führte sie aus, nach Bougival, Saint-Germain, Maisons-Laffitte, Poissy überall hin, wo sich die Schäferstunden in der Umgebung der Stadt abzuspielen pflegen.
Die kleine Hexe ihrerseits verstand es trefflich, mich zur vollen Raserei zu treiben.
Ich verlor endlich den Kopf und drei Monate später war sie meine Frau.
Was wollen Sie, mein Herr; man ist Beamter, allein in der Welt, ohne Familie, ohne Beraten. Man bildet sich ein, das Leben mit einer Frau müsse paradiesisch sein. Und man heiratet drauf los!
Von da an werden Sie von früh bis Abend gequält und geärgert; die Frau hat für nichts ein Verständnis, weiß von nichts, plappert ohne Unterlass, singt bis zur Verzweiflung das Lied der Musette (Ach das Lied der Musette, welch eine Qual!) streitet sich mit dem Kohlenhändler, erzählt der Hausmeisterin alle Geheimnisse des Haushalts, vertraut dem Dienstmädchen des Nachbarn alle Vorgänge im Schlafzimmer an, stürzt den Gatten bei sämtlichen Lieferanten in Schulden, und hat den Kopf so voll Schrullen, voll blödsinnigen Ideen, haarsträubenden Ansichten, und albernen Vorurteilen, dass man vor Verzweiflung weinen könnte. Ja, mein Herr! Ich habe geweint, jedes Mal schliesslich wenn ich mit ihr sprach.«
Er schwieg und schöpfte sichtlich erregt tief Atem. Ich sah ihn an voll Mitleid mit diesem armen harmlosen Teufel, und wollte ihm gerade etwas antworten, als das Dampfschiff anhielt. Wir waren in Saint Cloud.
Das junge Mädchen, dessen Anblick mich so erregt hatte, stand auf um abzusteigen. Sie ging nahe an mir vorüber und warf mir einen Blick zu, mit einem flüchtigen Lächeln, jenem Lächeln, das einen närrisch machen kann.
Ich wollte vorstürzen um ihr zu folgen; aber mein Begleiter hielt mich an der Hand fest. Mit einer heftigen Bewegung riss ich mich los. Da griff er mich an meine Rockschösse und zog mich zurück, wobei er immerfort rief: »Sie dürfen nicht gehen; Sie dürfen nicht!« und zwar mit so lauter Stimme, dass sich alles nach uns umwandte.
Ein Gelächter erhob sich ringsum und ich stand festgewurzelt, wütend, aber mutlos gegenüber der Furcht vor dieser lächerlichen Szene.
Das Dampfschiff fuhr weiter.
Das junge Mädchen war auf der Landungsbrücke stehen geblieben und sah mit enttäuschter Miene, wie ich weiterfuhr. Mein Begleiter aber rieb sich vergnügt die Hände und flüsterte mir ins Ohr:
»Ich habe Ihnen wirklich einen trefflichen Dienst erwiesen. Lassen Sie es nur gut sein.«
*
Schloss Uville in der Normandie hatte seit drei Monaten preussische Einquartierung. In dem Kamine eines eleganten Zimmers brannte ein lustiges Feuer. Vor demselben lehnte, in einem Sessel behaglich ausgestreckt, der Detachements-Kommandeur Major Graf Farlsberg und studierte die neuesten Zeitungen und Briefschaften, die ihm sein Büroschreiber kurz zuvor gebracht hatte. Seine bespornten Stiefel ruhten auf dem prächtigen Marmor, mit dem der Herd eingefasst war und in dessen glatter Fläche sie allmählich zwei tiefe Rillen eingekratzt hatten.
Neben ihm auf einem eingelegten Tischchen dampfte eine Tasse Kaffee. Das zierliche Möbelstück trug jetzt die Spuren von verschüttetem Kognak, Brandflecken von rücksichtslos zur Seite gelegten Zigarrenstummeln und Kritzer von dem Federmesser des feindlichen Offiziers, der gelegentlich auch mit dem gespitzten Bleistift irgend ein Wort oder eine Zahl, die ihm gerade einfielen, darauf einzugraben pflegte.
Nachdem der Graf mit seiner Lesung zu Ende war, erhob er sich und warf einige Stücke grünes Holz auf das Feuer. Die Herren Preussen lichteten nämlich zur Beschaffung von Brennmaterial allmählich den herrlichen Holzbestand des Parkes.
Der Regen floss in Strömen, ein echt normännischer Regen, spritzend, peitschend, alles durcheinander; wie von rasender Hand im Zickzack ausgeschüttet, bildete eine Art schräggestreiften Vorhang. Nur in der Umgebung von Rouen, dieser Kloake Frankreichs konnte ein solcher Regen fallen.
Lange betrachtete der Offizier die durchweichten Rasenflächen und weiter unten die hochangeschwollene ihre Ufer überflutende Andelle, während er den neuesten Rhein-Walzer auf den Scheiben trommelte. Ein Geräusch an der Türe veranlasste ihn, sich umzuwenden. Es war der Hauptmann Baron Helfenstein nach dem Kommandeur, der rangälteste Offizier, der soeben eintrat.
Der Major war ein breitschultriger Riese, mit einem fächerartigen über der Brust herabwaltenden Barte. Seine hohe Gestalt mit der feierlichen Haltung erweckte unwillkürlich die Vorstellung von einem kriegerischen Pfau, der den breiten Schweif unter dem Kinn entfaltet hat. Er hatte blaue Augen und einen ruhigen Blick. Quer über die rechte Wange lief eine Säbelnarbe, ein Andenken aus dem österreichischen Feldzuge. Es heisst, er sei ein eben so wackrer Mensch wie tapfrer Offizier.
Der Hauptmann war ein kurz untersetzter rötlich aufgedunsener stark geschnürter Mann, dessen flammender kurz geschnittener Bart bei einer gewissen Beleuchtung den Eindruck erweckte, als sei das Gesicht mit Phosphor eingerieben. Er hatte bei irgend einer leichtsinnigen Gelegenheit, daran er selbst sich nicht mehr genau erinnern konnte, zwei Zähne verloren. Infolge dessen stiess er die Worte etwas undeutlich hervor, sodass man ihn zuweilen kaum verstehen konnte. Auf seinem Haupte sah es ziemlich kahl aus; er trug eine große Platte wie ein Mönch, die von einem Kranz goldlockiger glänzender Härchen eingefasst war.
Der Kommandeur schüttelte ihm die Hand, und trank auf einen Zug seine Kaffeetasse (die sechste seit dem Morgen) aus, während er den Rapport über die neuesten dienstlichen Vorkommnisse entgegennahm. Dann traten beide wieder an das Fenster, um ihrem Unmute über die Witterung Luft zu machen. Der Major, ein ruhiger Mann, der zu Hause Weib und Kind hatte, wusste sich leicht in alles zu finden; aber der Hauptmann war ein echter Lebemann, der dem Bachus wie der Venus gleich eifrig diente und jeder Schürze nachjagte, war ausser sich, dass er nun schon drei Monate auf diesem verlorenen Posten der Enthaltsamkeit pflegen musste.
Es klopfte, und auf das »Herein« des Majors erschien ein Mann in der Türe, einer ihrer automatischen Soldatenfiguren, um durch seine blosse Anwesenheit zu melden, dass das Frühstück bereit sei.
Im Speisezimmer fanden sie die drei Subaltern-Offiziere: Den Premierlieutenant Otto von Großling und die zwei Sekondelieutenants Fritz Schönburg und Wilhelm Freiherr von Eyrich. Letzterer war ein kleiner Blondkopf, derb und roh mit seinen eigenen Leuten, hart gegen die Besiegten und explosiv von Charakter wie ein geladenes Gewehr. Seit ihrem Einmarsch in Frankreich nannten seine Kameraden ihn nur »Mamsell Fifi« wegen seines geschniegelten Wesens, seiner zierlichen wie von einem Korsett gehaltenen Taille und seinem zarten Gesichtchen, auf dem sich kaum der erste Anflug von Schnurrbart zeigte. Ausserdem hatte er die Gewohnheit angenommen, seine souveräne Verachtung aller Personen und Dinge durch den französischen Ausdruck »Fi, fi donc« zu bezeugen, den er mit einem leichten Zischen hervorstiess.
Der Speisesaal im Schlosse Uville war ein langgestreckter majestätischer Raum, dessen prächtige von Kugeln durchlöcherte alte Spiegelscheiben, ebenso wie die von Säbelhieben zerfetzten hier und dort herabhängenden herrlichen flandrischen Stickereien Zeugnis davon ablegten, womit sich Madame Fifi in ihren Mussestunden beschäftigte.
An den Wänden hingen vier Familienporträts, von denen die drei ersten eisengepanzerten Krieger, einen Kardinal und einen hohen Staatsbeamten darstellten. Man hatte jedem derselben eine lange Tonpfeife in den Mund gesteckt, während man das stolze Antlitz der vornehmen Dame mit der hohen Brust in ihrem durch die Zeit verblassten Rahmen durch einen mächtigen Schnurrbart mittels Kohle verunziert hatte.
Das Frühstück der Offiziere verlief in diesem verwüsteten von den Händen der Sieger entstellten Räume, dessen eichenes Parket jetzt dem Boden einer Kneipe glich, bei dem strömenden Platzregen ziemlich einsilbig.
Als nach dem Essen die Pfeife in Brand gesetzt waren und das eigentliche Trinken begann, unterhielten sie sich, wie alle Tage, über ihre entsetzliche Langeweile. Die Kognak- und Liqueurflaschen wanderten von Hand zu Hand. Bequem in ihre Sessel zurückgelehnt nahmen die Herren immer wieder einen Schluck, während aus einem Mundwinkel das gebogene Pfeifenrohr hing mit dem Porzellankopf daran, dessen Bemalung einem Hottentotten Freude gemacht hätte.
Mit lässiger Handbewegung füllten sie die kaum geleerten Gläser stets aufs Neue. Nur Mamsell Fifi zerbrach alle Augenblicke das ihrige, worauf ein Soldat sofort ein frisches brachte.
Von einer beissenden Tabakswolke verhüllt schienen sie sich jener schläfrigen traurigen Trunkenheit jener stumpfsinnigen Besoffenheit hinzugeben, welche Leute an sich haben, die nicht wissen, was sie anfangen sollen. Plötzlich sprang der Baron Helfenstein auf; ein innerer Widerwille schien ihn zu erschüttern. »Teufel auch!« fluchte er »so kann’s nicht weiter gehen. Wir müssen endlich was ausfinden.«
»Aber was, Herr Hauptmann?« riefen die Lieutenants Fritz und Otto, zwei Deutsche, denen man ihre Abstammung an den schwerfälligen plumpen Mienen auf hundert Schritt ansah, wie aus einem Munde.
»Was!« entgegnete der Baron, nach kurzem Nachdenken. »Sehr einfach: Wir müssen ein Fest arrangieren, wenn es der Herr Major gestattet.«
»Was für ein Fest?« fragte der Major, die Pfeife aus dem Munde nehmend.
»Ich nehme alles auf mich, Herr Major,« sagte der Hauptmann sich ihm nähernd. »Ich werde den Quartiermeister nach Rouen schicken, um uns von dort Damen zu holen, ich weiß schon, wo sie zu finden sind. Inzwischen treffen wir hier die Vorbereitungen zu einem solennen Souper. Im Übrigen haben wir an nichts Mangel und werden wenigstens einen fidelen Abend verleben.«
»Aber Herr Hauptmann«; sagte der Graf Farlsberg achselzuckend »das geht doch etwas zu weit.«
Indessen waren alle Offiziere aufgesprungen. »Lassen Sie den Herrn Hauptmann nur machen, Herr Major«; baten sie »es ist zu langweilig hier.«
Schliesslich gab der Major nach. »Also meinetwegen denn!« sagte er, und sogleich wurde der Quartiermeister gerufen. Es war dies ein alter Unteroffizier, den man niemals hatte lachen sehen. Er war gewohnt, alle Befehle seiner Vorgesetzten ohne Zögern zu erfüllen, mochten sie lauten, wie sie wollten.
In strammer Haltung, ohne eine Miene zu verziehen, empfing er die Anweisungen des Barons. Wenige Minuten später fuhr ein Requisitions-Wagen, mit einer Müller-Plane überspannt und von vier muntren Pferden gezogen im Galopp durch den strömenden Regen nach Rouen.
Es war, als ob der Plan des Hauptmannes die Geister neu belebt hätte. Man richtete sich aus der nachlässigen Haltung auf, die Gesichter erhellten sich und ein lustiges Geplauder begann.
Obschon der Regen nach wie vor in Strömen fiel, wollte der Major bemerken, dass es weniger düster sei; und der Lieutenant Otto versicherte sofort im Tone der Überzeugung, dass der Himmel sich aufkläre. Auch Mamsell Fifi duldete es nicht länger auf ihrem Platze. Bald sprang sie auf, bald setzte sie sich wieder hin. Ihr heller klarer Blick suchte nach einem geeigneten Gegenstand für ihre Zerstörungslust. Plötzlich zog der junge Offizier, das Auge auf die Dame mit dem Schnurrbart heftend, seinen Revolver. »Du sollst das heute Abend nicht mehr sehen,« murmelte er für sich hin, und zielte, ohne seinen Platz zu verlassen. Zwei Kugeln durchlöcherten hintereinander die beiden Augen des Bildes.
»Legen wir eine Mine« rief er dann. Und plötzlich brach jede Unterhaltung ab, als ob ein neues gewaltiges Interesse sich der ganzen Gesellschaft bemächtigt hätte.
Die »Mine« war seine Erfindung, seine Art zu zerstören, seine besondere Liebhaberei.
Graf Ferdinand d’Amoys d’Uville hatte beim Verlassen des Schlosses nicht Zeit gefunden, ausserdem in einem Mauerloch versenkten Silberzeug, irgendetwas zu bergen oder mitzunehmen. So bot bei seinem großen Reichtum und seiner Sammellust, der weitläufige Saal in Uville, welcher an den Speisesaal anstiess, auch nach seiner hastigen Flucht den Anblick eines kleinen Kunstmuseums. An den Wänden hingen wertvolle Ölgemälde, Zeichnungen und Aquarelle, während auf den Möbeln auf Etageren und in geschmackvollen Glasschränken sich tausenderlei Nippsachen, Vasen, Statuetten, Meissner Figürchen, chinesische Teller, altes Elfenbein und Venetianisches Glas sich vereinten, um dem weiten Raume ein ebenso kostbares wie seltsames Gepräge zu verleihen.
Jetzt war so gut wie nichts mehr davon übrig. Nicht als ob man etwas gestohlen hätte; das würde der Major Graf Farlsberg nicht geduldet haben. Aber Mamsell Fifi legte dort hin und wieder eine »Mine« und alle Offiziere fanden dann jedes Mal für einige Zeit ihr Vergnügen dabei.
Der kleine Lieutenant begab sich in den Salon, um zu suchen, was er brauchte. Bald kam er mit einer zierlichen chinesischen Teekanne wieder, die er mit Schiesspulver anfüllte. Durch den Schnabel steckte er vorsichtig ein langes Stück Pfeifenschwamm, zündete es an, und legte dieses höllische Zerstörungsinstrument schleunigst im Salon wieder nieder.