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Buch lesen: «Soll und Haben, Bd. 1 (2)», Seite 24

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Anton aber ging traurig in sein Comtoir zurück und schrieb einen Brief an Herrn Stephan in Wolfsburg, worin er dem ehrenwerthen Mann eine neue Waarenliste und Zuckerproben übermachte.

Anton fühlte den Verlust seines Freundes lange Zeit sehr schmerzlich. Er blieb in den ersten Tagen vor Finks Thür stehen, weil er das fröhliche Lachen desselben zu hören glaubte, oft sah er im Comtoir von seinem Sitze auf, um sich an Finks spöttischer Miene zu erfreuen und einen schnellen Blick des Einverständnisses mit ihm auszutauschen.

Seine Stellung im Haushalt wurde durch den Abgang des Freundes außerordentlich geändert. Das ging so zu: Herr Liebold hätte jetzt bei Tische neben der Tante sitzen müssen, wenn es nach Rang und Würde gegangen wäre. So war es auch früher gewesen, und Fink war zwischen ihn und die Tante eingeschoben worden. Es ist für einen wahrheitsliebenden Chronisten schmerzlich, zu berichten, daß Herr Liebold über diesen Einschub auf's Höchste erfreut war, indem er behauptete, es sei sehr angenehm, neben Damen zu sitzen, und kein Mensch verstehe besser, weiblichen Umgang zu schätzen, als er; aber zuweilen sei eine nahe Nachbarschaft doch sehr unbequem, zumal alle Tage und besonders beim Essen und außerdem, wenn die Dame über das Zeitalter der jugendlichen Thorheiten hinaus sei. Diesen letzten Grund seiner Abneigung gestand er aber nur seinen vertrautesten Freunden, und seine Gegner, zu denen der Cassirer gehörte, behaupteten, er werde neben der jungen Nichte sich noch viel verlegener und unglücklicher fühlen, als neben der ruhigen Schönheit der Tante. Das Resultat war, daß im Comtoir wegen des Platzes am Mittagstisch eine stille Gährung und ein geheimes Intriguiren entstand, dessen letzter Grund, leider und zur Schande des Männergeschlechts sei es gesagt, der war, daß keiner von den Herren neben der Tante und so nahe am Prinzipal sitzen wollte. Es wurde deßhalb am Abend nach Finks Abreise, während Anton einige Aufträge des Freundes besorgte, im Hinterhause großer Rath gehalten, dem Herr Jordan präsidirte. Herr Specht erklärte sich bereit, überall und neben jeder Tante der Welt zu sitzen, aber der Vorsitzende bemerkte ihm mit vieler Artigkeit, seine Gegenwart sei unten am Tische zur Belebung der Unterhaltung unentbehrlich; denn seinen gewagten Behauptungen zu widersprechen, sei der Hauptspaß seiner Nachbarn. Und als jeder Einzelne der Anwesenden gegen die Ehre protestirt hatte, erklärte Herr Jordan seine Ansicht dahin, daß Wohlfart neben der Tante sitzen solle; dies scheine ihm darum passend, weil er mit Fink am meisten befreundet gewesen sei und ein gutes Temperament für ältliche Damen habe. So wurde Anton am nächsten Tage durch Decret seiner Collegen an den leeren Platz gerückt, nachdem dieser Beschluß durch den Bedienten in das Vorderhaus getragen war und die stille Sanction der Damen erhalten hatte.

Noch eine Veränderung machte Anton durch. Wenige Tage nach Finks Abreise erhielt Herr Schröter einen Brief aus Hamburg, in welchem ein offener Zettel Finks an Anton lag. Fink schrieb: »Die Möbel in der Stube, welche ich bewohnt habe, gehören mir, ich mache dich hiervon, sowie von Allem, was ich sonst hinterlasse, zu meinem Erben.« – Das Wort »Erbe« war unterstrichen. – »Ich habe Herrn Schröter ersucht, dich in meiner Stube wohnen zu lassen.« Anton zog hinunter in das elegante Zimmer des ersten Stocks. In die zweite Stube Finks wurde Herr Baumann befördert, welcher so Antons Stubennachbar blieb. Anton vergaß nicht, die gelbe Katze von seinem Schreibtisch mit hinunter zu schaffen. Die Katze erwies sich übrigens in der ganzen Zeit als verstockt und machte auf ihrem Postament keine nächtlichen Bewegungen. Vielleicht kam das daher, daß Anton bei dem stillen und thätigen Leben, das er führte, nicht mehr träumte.

Seit dieser Zeit wurde er im Comtoir Finks Erbe genannt, und diese Erbschaft wurde für ihn wichtiger, als seine Collegen geglaubt hatten. Er saß jetzt am oberen Theile des Tisches und hatte täglich seinen bescheidenen Theil an der Unterhaltung, welche von der Familie geführt wurde. Die Tante, deren Liebling Fink gewesen war, versöhnte sich bald mit der Aenderung und nahm die kleinen Aufmerksamkeiten Antons gnädig hin, und der Kaufmann richtete oft das Wort an ihn und freute sich über die verständigen, mannhaften Ansichten des Jünglings; auch Sabine gewöhnte sich, mit ihm über die Interessen des Tages zu sprechen, und ihr Auge, welches sonst den Platz hinter der Tante so eifrig gemieden hatte, ruhte jetzt mit freundlichem Glanze auf dem offenen Gesicht unseres Helden. Zwischen Beiden bestand ein stilles Einverständniß, eine von den reizenden leichten Beziehungen, welche das Leben so freundlich schmücken. Sabine sah in Anton den Freund, vielleicht den Vertrauten des Geschiedenen, und Anton fühlte gegen das Fräulein eine unbegrenzte Verehrung, welche sein Benehmen so zart und rücksichtsvoll machte, daß Sabine dies zuweilen mit Rührung empfand. Er sprach bei Tische nie von Fink, obgleich sein Herz voll von ihm war, und wenn die Tante in ihrer gutmüthigen Weise bei hundert kleinen Veranlassungen an Fink zu erinnern wußte, so parirte Anton mit aller Diplomatie, die er aufbringen konnte, ihre Andeutungen und wußte das Gespräch wieder in eine unbedenkliche Richtung zu bringen.

Auch im Geschäft änderte sich die Stellung Antons; er war bis dahin einer der Adjutanten des Herrn Jordan im Provinzialgeschäft gewesen, jetzt erhielt er seinen Platz im auswärtigen Geschäft unter dem Prinzipal selbst. Dieselbe Thätigkeit, welche Fink gehabt hatte, wurde ihm zugewiesen, und er erlangte bald etwas von der Virtuosität Finks, mit Herrn Tinkeles umzugehen und die Zackelwolle aus Ungarn zu beurtheilen.

Drittes Buch

I

Ein böses Jahr kam über das Land, ein plötzlicher Kriegslärm alarmirte die deutschen Grenzländer im Osten, darunter auch unsere Provinz. Die furchtbaren Folgen eines heftigen Landschreckens wurden schnell fühlbar. Der Verkehr stockte, die Werthe der Güter und Waaren fielen, Jeder suchte das Seine zu retten und an sich zu ziehen, viele Capitalien wurden gekündiget, große Summen, welche in kaufmännischen Unternehmungen angelegt waren, kamen in Gefahr. Niemand hatte Lust zu neuer Thätigkeit, Hunderte von Bändern wurden zerschnitten, welche die Menschen zu gegenseitigem Nutzen durch lange Zeit verbunden hatten. Jede einzelne Existenz wurde unsicherer, isolirter, ärmer. Ueberall sah man ernste Gesichter, gefurchte Stirnen. Das Land war wie ein gelähmter Körper, langsam rollte das Geld, dies Blut des Geschäftslebens, von einem Theile des großen Leibes zu dem andern; der Reiche befürchtete, daß er viel verlieren werde, der Arme verlor die Möglichkeit, sich auch nur wenig zu erwerben. Die Zukunft erschien plötzlich verhängnißvoll, schwarz, verderblich, wie der Himmel vor einem schweren Gewitter.

Das Schreckenswort »Revolution in Polen« brachte so große Wirkungen auch in Deutschland hervor. Das Landvolk jenseit der Grenze, aufgeregt durch alte Erinnerungen und seine Gutsherren, hatte sich erhoben, es zog von fanatischen Geistlichen angeführt längs der Grenze hin und her, hielt Reisende und Waarensendungen an, fiel plündernd und brennend über Edelhöfe und kleine Städte und versuchte sich unter Häuptlingen militärisch zu organisiren, indem es seine Sensen grade schmieden ließ und alte Flinten aus dem Versteck hervorholte. Die Insurgenten nahmen eine große polnische Stadt unweit der Grenze ein, setzten sich dort fest und verkündeten ein Polenreich.

In unserem Staat wurden schleunigst Truppen zusammengezogen und nach der Grenze geschickt, dieselbe militärisch zu besetzen. Unaufhörlich führten die Dampfwagen der neuerbauten Eisenbahn Soldaten ab und zu, überall rasselte die Trommel; die Straßen der Hauptstadt füllten sich mit Uniformen. Die Armee gerieth in die Aufregung, welche bei der Aussicht auf Krieg regelmäßig entsteht. Die Offiziere rannten geschäftig umher, kauften Landkarten und tranken Toaste in jeder Art von Wein, die Soldaten schrieben nach Hause, ließen sich wo möglich etwas Geld schicken und mit mehr oder weniger Gefühl ihre Mädchen grüßen. Zahlreiche Soldatenbräute im Lande wurden durch bleiche Wangen kenntlich und erschreckten ihre Familien durch fürchterliche Träume von ermordeten Musketieren; zahlreiche Mütter kauften sich Wolle und strickten mit trübem Auge Kriegssocken für ihre armen Söhne und suchten vorsichtig alte Leinwand zusammen, um Charpie zu zupfen, was noch vom letzten großen Kriege her als nützliche Beschäftigung in wilder Zeit anerkannt war; zahlreiche Väter sprachen mit unsicherer Stimme von der Verpflichtung eines braven Sohnes, für König und Vaterland in den Krieg zu gehen, und erinnerten sich mit größerer Sicherheit an den Schaden, den sie einst dem argen Napoleon zugefügt hatten.

Es war ein sonniger Herbstmorgen, als die erste Nachricht von dem polnischen Aufstande in der Hauptstadt ankam. Dunkle Gerüchte hatten schon am Abend vorher die Einwohner neugierig gemacht, und Haufen unruhiger Geschäftsleute und erschreckter Müssiggänger standen auf dem Perron des Bahnhofes. Sogleich nach Oeffnung des Comtoirs von T. O. Schröter kam Herr Braun, der Agent, hereingestürzt und erzählte athemlos, aber mit dem innern Behagen, welches der Besitzer auch der unangenehmsten Neuigkeit verspürt, daß ganz Polen und Galizien und viele angrenzende Länder in vollem Aufstande loderten, unzählige fremde Geschäftsreisende und friedliche Beamte seien überfallen und getödtet worden, viele Grenzstädte ständen in Flammen und ein nichtswürdiger Krakuse in rother Mütze habe um einen Vetter von Herrn Braun bereits mit seiner Sense den Kriegstanz getanzt, in der Absicht, ihm den Garaus zu machen, sei aber durch eine Erinnerung, die ihm sein Weib mit der Mistgabel gegeben, wieder so weit zur Besinnung gekommen, daß er nur die Mütze des Vetters, die diesem vor Haarsträuben vom Kopfe gefallen war, durchstochen habe. Darauf sei sein Vetter baarhäuptig die hundert Schritte bis zur Grenzbrücke gelaufen, wo ihn unsere Grenzwache aufgenommen und durch einen Schluck aus der Feldflasche wieder in's Gleichgewicht gebracht habe, während der Krakuse, die gemordete Mütze auf seiner Sense schwenkend, mit Triumphgeschrei abgezogen sei.

Anton gerieth über diese Nachrichten in die größte Bestürzung, und er hatte Grund dazu. Kurze Zeit vorher hatte ein unternehmender Kaufmann aus Galizien eine ungewöhnlich große Sendung von Commissionsartikeln, deren Werth sich auf zwanzigtausend Thaler belief, an die Firma abgesendet und, wie bei solchen Geschäften dort üblich ist, den größten Theil des Werthes bereits in Wechseln gezogen. Die Wagencaravane, welche diesen Transport bringen sollte, mußte grade in dem insurgirten Gebiet sein. Außerdem war eine zweite Caravane mit Colonialwaaren auf dem Wege nach Galizien expedirt und nach der Berechnung jetzt ebenfalls in Feindesland. Und was über dem Allen stand, ein großer Theil der Geschäfte, welche das Haus machte, und ein großer Theil des Credits, welchen dasselbe bewilligte, war in den empörten Landschaften gemacht und bewilligt worden; Vieles, ja Alles, so ahnte Anton, ward durch diesen Krieg in Frage gestellt. Deßhalb stürzte er seinem Prinzipal entgegen, als dieser die Treppe herab kam, und erzählte ihm hastig das Wichtigste der Neuigkeit; während Herr Braun im Comtoir sich beeilte, den anderen Herren die Schauergeschichte vom tanzenden Krakusen in zweiter Auflage mitzutheilen, wobei ihm begegnete, daß diesmal außer der Mütze des Vetters auch noch dessen Rock und Stiefeln an der Sense des Krakusen hängen blieben, so daß der Bedrohte nur mit einem Hemd bekleidet bei der schützenden Grenzwache ankam. Beiläufig sei hier erwähnt, daß der arme Vetter bei der nächsten Wiederholung auch das Hemd hergeben mußte, und daß ihm später noch die Haare abrasirt und sein Leib durch Megären auf die nichtswürdigste Weise zerzwickt wurde. Weiter konnte Herr Braun, ein wahrheitsliebender Mann, nicht gehen, da der Vetter noch als lebender Mensch unter dem Schirm einer neuen Mütze umherwandelte.

Unterdeß vernahm der Prinzipal Antons fliegenden Bericht. Er blieb einen Augenblick stumm auf der Treppe stehen, und Anton, welcher ängstlich in sein Gesicht starrte, glaubte zu bemerken, daß er etwas bleicher aussah als gewöhnlich; aber er mußte sich wohl geirrt haben, denn der Kaufmann sah über Anton hinweg unter die Auflader, welche unruhig in dem Hausflur standen, und rief mit dem kühlen Geschäftston, welcher unserm Helden so oft imponirt hatte: »Sturm, schaffen Sie das Faß bei Seite, es steht mitten im Wege. Rührt Euch, Ihr Leute, in einer Stunde muß der Fuhrmann abgehen!« Worauf Sturm sein breites Gesicht bekümmert nach dem Auge des Kaufmanns richtete und mit der ungeheuren Faust nach draußen weisend, fast muthlos sagte: »Es trommelt, sie schlagen Generalmarsch; es geht los, unsre Leute marschiren. Mein Karl ist mitten darunter, als Husar, mit den Schnüren an seinem kleinen Rock. Es ist ein Unglück! Ach unsre Waaren, Herr Schröter.«

»Eben deßhalb eilt, Ihr Männer,« antwortete der Prinzipal lächelnd. »Der Wagen geht nach der Grenze, es ist Zucker und Rum darauf, unsere Soldaten wollen bei dem kalten Wetter ein Glas Punsch trinken.« Diese humane Rücksicht auf die Kehlen der Vaterlandsvertheidiger brachte das Behagen in die Seelen der Riesen zurück, sie lächelten grimmig und Sturm setzte seinen Haken mit furchtbarer Kraft an den nächsten Ballen und schwang ihn mit einer Verachtung in die Luft, welche bedeuten sollte: »Wir geben nicht so viel auf die ganze Polakenwirthschaft,« während die Uebrigen das Faß aus dem Wege rollten und kurze geschäftliche Späße über Soldatenpunsch machten.

Zu Anton gewandt sprach der Prinzipal: »Die Nachrichten sind nicht gut, aber wir wollen nicht Alles glauben.« Darauf ging er in das Comtoir, grüßte Herrn Braun fast heiterer als sonst und ließ sich von ihm noch einmal die Geschichte seines Vetters und das übrige Unglück erzählen.

Als Braun gegangen war, sagte er beruhigend den Herren vom Comtoir: »Ich hoffe, daß unsere Waaren an der Grenze liegen, Fuhrleute sind ihrer Pferde wegen vorsichtig, sie werden es vermeiden, den Insurgenten in die Hände zu fallen. Sind die Wagen auf feindlichem Gebiet, so müssen wir versuchen, sie heraus zu bekommen.« Zu Anton setzte er leiser hinzu: »Schreiben Sie sogleich an das Grenzzollamt und unsern Spediteur an der Grenze, sicher gehen Extrazüge dahin ab, ein Nachtzug kann Antwort bringen, morgen wissen wir Näheres.«

Damit war für heut die große Frage erledigt, und Alles im Comtoir ging seinen gewöhnlichen Gang. Herr Liebold schrieb seine großen Zahlen in's Hauptbuch, Herr Purzel setzte Häufchen von Thalern zusammen und schob papierne Handschuhhalter um große Bündel von Cassenanweisungen, und Herr Pix ergriff den schwarzen Pinsel, malte neben der großen Waage Hieroglyphen auf Packleinwand und beherrschte die Hausknechte mit gewohnter Entschiedenheit. Der Prinzipal selbst wendete sich an Herrn Jordan, nahm die eingegangenen Briefe, welche zum Theil eine Bestätigung der kriegerischen Nachrichten enthielten, besprach die geschäftlichen Antworten und übergab sie den einzelnen Commis. Darauf erschienen die Mäkler, die Agenten und Sensale, und wie gewöhnlich fielen vom Pult des Prinzipals kurze Bemerkungen, oder ein trockener Scherz, wenn die Geschäftsfreunde sich zu tief in die Schrecken des Bürgerkrieges einließen. Die kleine Nebenunterhaltung im Geschäft war etwas belebter, sonst Alles wie gewöhnlich. Beim Mittagstisch ging das Gespräch so ruhig vorwärts, als hätte nie ein polnischer Bauer seine Sense geschwungen, und nach Tisch fuhr der Prinzipal mit seiner Schwester und einigen Damen ihrer Bekanntschaft spazieren, und die Geschäftsleute, welche ihn sahen, sagten mit Verwunderung: »Er fährt heut spazieren, er hat's wie gewöhnlich vorausgewußt, es ist doch ein kluger Kopf, ein solides Haus. Allen Respect!«

Anton war den ganzen Tag an seinem Schreibpult in einer nervösen Aufregung, wie er bis dahin noch nicht gekannt hatte. Er war beklommen und erwartungsvoll, und doch empfand er diese Stimmung mit Behagen, als ein großes Ereigniß. Er fühlte lebhaft die Gefahr des Geschäftes und seines Prinzipals, aber er war nicht mehr niedergeschlagen und muthlos. Ihm war, als trüge er Sprungfedern an Arm und Bein; seine Feder flog bei den gleichgültigen Geschäftsbriefen, die er zu schreiben hatte; trotz dem Gedanken an die Gefahr, welche in seiner Seele fortwährend Fanfare blies, war seine Fassungskraft nie schneller, sein Styl nie klarer gewesen, nie hatte er so hurtig Provision und Spesen ausgerechnet. Es waren Augenblicke einer erhöhten, fast freudigen Thätigkeit; er bemerkte das selbst und wunderte sich darüber. Bei seinem Prinzipal sah er dieselbe Stimmung, auch dieser schritt mit glänzenden Augen und schnellem Fuß durch die Comtoire.

Nie hatte ihn Anton so verehrt als heut, er sah ihm aus wie verklärt. Mit einer wilden Freude sagte sich Anton: »Das ist Poesie, die Poesie des Geschäfts, solche springende Thatkraft empfinden nur wir, wenn wir gegen den Strom arbeiten. Wenn die Leute sprechen, daß unsere Zeit leer an Begeisterung sei und unser Beruf am allerersten, so verstehen sie nicht, was schön und groß ist. Dem Mann steht in diesem Augenblick Alles auf dem Spiel, woran seine Seele hängt, sein Geschäft, das Resultat eines langen Lebens von rastloser Thätigkeit, seine Freude, sein Stolz, seine Ehre; und er steht kaltblütig an seinem Pult, schreibt Briefe über geraspeltes Farbeholz und giebt sein Urtheil über Kleesamen ab, ja, ich glaube, er lacht innerlich.« So dachte Anton, als er am Abend sein Pult abräumte und mit den übrigen Herren nach dem Hinterhause ging. Auch seine Collegen ließen jetzt ihre innere Aufregung merken, sie setzten sich in Jordans Salon zusammen und besprachen mit gemüthlichem Schauder bei einer Tasse schwarzen Thees die Neuigkeit und den Einfluß derselben auf das Geschäft. Alle waren geneigt, anzunehmen, daß die Firma zwar einigen Verlust erleiden werde, aber sie seien die Männer, mehr zu retten, als irgend ein anderes Geschäft retten werde. Herr Specht bemerkte hoffnungsreich, bei jeder Insurrection würden ungeheure Colonialwaaren verbraucht, und die Firma werde ein glänzendes Geschäft mit allen Flüssigkeiten nach der Grenze machen. Wenn die Insurrection nur ein Vierteljahr anhalte, sei der mögliche Verlust wieder gedeckt; denn trinken thäten sie Alle, Freunde und Feinde. Zuletzt sprach sich Herr Jordan dahin aus, daß man noch gar nicht wissen könne, wie die Sache verlaufen werde. Diese neue und gründliche Ansicht wurde von den Meisten adoptirt, worauf sich die Einzelnen in ihre Zimmer verfügten. In seiner Stube vernahm Anton durch die dünne Wand, wie sein Nachbar, Herr Baumann, beim Zubettegehen für das Geschäft und den Prinzipal betete. Dies ergriff Anton so, daß er mit großen Schritten in seiner Stube auf und ab ging, bis das Licht flackerte und der Gips auf dem Schreibtisch erschrak und in ein krankhaftes Zittern gerieth.

Es war spät geworden, als der Diener geräuschlos in Antons Zimmer trat und halblaut meldete: Herr Schröter wünsche ihn noch heut zu sprechen. Rasch folgte Anton dem Diener in den ersten Stock des Vorderhauses und trat erwartungsvoll in das braune Arbeitszimmer des Prinzipals. Der Kaufmann stand vor dem gepackten Koffer, sein Portefeuille lag auf dem Tisch und daneben das untrügliche Zeichen einer längeren Reise, die große englische Cigarrentasche von Büffelleder. Diese hielt hundert Stück, war seit alter Zeit ein Lieblingsgegenstand für die Bewunderung des Herrn Specht und galt dem ganzen Comtoir für eine Art Kriegsfahne, welche nur dann hervorgeholt und in den Wagen getragen wurde, wenn die Hauptmacht des Geschäfts auf ein außerordentliches Unternehmen auszog. Sabine war an dem Schubladen des Schreibtisches beschäftigt und trug schweigend zu, was ihre Sorgfalt dem Reisenden für nützlich hielt. Sie warf einen schnellen Blick auf Anton und senkte das Haupt, als sie in seinem Gesichte las, was sie selbst mit banger Ahnung erfüllte. Der Prinzipal trat Anton freundlich entgegen. »Ich habe Sie spät herbemüht, glaubte aber nicht, daß Sie noch außer Bett sein würden.«

Als Anton erwiederte: »Die Aufregung ließ mich nicht schlafen,« fiel wieder ein Strahl aus dem Auge der Schwester auf ihn, so sorgenvoll und so dankbar für seine Theilnahme, daß er mächtig gerührt wurde und nicht weiter sprach, um seine Bewegung nicht zu verrathen.

Der Prinzipal aber sagte lächelnd: »Sie sind noch jung, die Ruhe kommt mit den Jahren. Es wird nöthig sein, daß ich selbst morgen nach unsern Waaren sehe. – Ich höre, die Polen zeigen besondere Rücksicht gegen unsere Landsleute, es ist möglich, daß sie sich sogar mit dem Gedanken tragen, unsere Regierung sei ihnen nicht abgeneigt. Diese Täuschung kann nicht lange dauern, es wird kein Unrecht sein, wenn wir davon für unsere Waaren Vortheil zu ziehen suchen. Sie haben die Korrespondenz geführt und wissen selbst, was für mich zu thun ist. Ich werde nach der Grenze reisen und mich dort über die nächsten Schritte entscheiden.«

Mit ängstlicher Spannung hörte die Schwester auf seine Worte, sie suchte in seinen Mienen zu lesen, was er aus Rücksicht gegen sie nicht aussprach. Anton aber verstand, was die Rede bedeutete, sein Chef ging über die Grenze in das insurgirte Land.

Mit bittender Stimme sprach er näher tretend: »Könnte nicht ich an Ihrer Stelle die Reise machen? Ich fühle wohl, daß ich Ihnen noch keine Veranlassung gegeben habe, mir in so wichtiger Sache zu vertrauen. Ich werde mir wenigstens alle Mühe geben, bis zum Aeußersten, Herr Schröter.« Antons Wangen glühten, als er dies sagte, er fühlte in diesem Augenblick entschiedene Neigung, sich mit allen Krakusen um die Waarenballen zu raufen.

»Das ist brav gesprochen und ich danke Ihnen,« erwiederte der Prinzipal, »aber ich kann Ihr Anerbieten nicht annehmen, die Reise könnte Schwierigkeiten haben, und da der Vortheil mein ist, wird auch billig sein, daß ich die Mühe übernehme.« Anton ließ den Kopf hängen. »Ich beabsichtige im Gegentheil, Sie mit bestimmter Ordre hier zu lassen für den Fall, daß ich übermorgen Abend nicht zurück sein sollte.«

Sabine hatte ängstlich zugehört, jetzt faßte sie die Hand des Bruders und sagte leise: »Nimm ihn mit.«

Diese Unterstützung gab Anton neuen Muth. »Wenn Sie mich nicht allein schicken wollen, so erlauben Sie mir wenigstens, Sie zu begleiten, vielleicht kann ich Ihnen doch in Etwas nützlich sein, ich würde es wenigstens sehr gern sein.«

»Nimm ihn mit,« wiederholte Sabine flehend.

Der Kaufmann wandte den Blick langsam von der Schwester auf das ehrliche Gesicht Antons, welches von Diensteifer strahlte, und erfreut über den Eifer der Jugend, erwiederte er: »So mag es sein. Sie begleiten mich morgen früh bis zur Grenze. Sollte meine Abwesenheit für längere Zeit nöthig werden, so wird es vortheilhaft sein, Sie an Ort und Stelle zu informiren. Bis dahin mag Jordan die laufenden Geschäfte besorgen. Es ist nicht nöthig, daß von unserer Reise hier am Ort viel verlautet. Und jetzt schlafen Sie aus, Herr Wohlfart. Einer unserer Hausknechte erwartet auf der Eisenbahn die Nachtzüge; man hat mir versprochen, daß die Conducteure uns Antwort zurückbringen sollen. Ist die Antwort so, wie ich annehme, dann fahren wir mit dem ersten Zug. Schlafen Sie wohl!«

Anton verbeugte sich dankend und sah noch im Hinausgehen, daß Sabine in heftiger Bewegung den Hals des Bruders umschlang. Er ging nach seinem Zimmer, packte geräuschlos eine Reisetasche, holte die damascirten Pistolen heraus, welche ihm Fink hinterlassen hatte, und warf sich halbentkleidet auf das Bett, wo er erst spät den Schlummer fand. Gegen Morgen weckte ihn ein leises Klopfen, der Bediente meldete: »Die Briefe von der Eisenbahn sind gekommen.« Anton eilte in das Comtoir und fand dort bereits Herrn Jordan und den Prinzipal in lebhaftem Gespräch; bei seinem Eintritt rief ihm Herr Schröter aus den geschäftlichen Verhandlungen kurz zu: »Wir reisen!«

»Gut,« dachte Anton. »Wir reisen in Feindesland, wir schlagen uns mit den Sensenmännern und wir zwingen sie, unsere Waaren herauszugeben, denn daß sie uns zwingen könnten, darf nach dem Willen des Prinzipals nicht angenommen werden.«

Nie hatte Anton mehr mit den Thüren geklopft, schneller die Treppenstufen gemessen und kräftiger die Hände seiner Collegen geschüttelt, als in der nächsten Stunde. Als er so geschäftig durch den dunklen Hausflur eilte, hörte er ein leises Rauschen neben sich. Sabine trat schnell an ihn heran und faßte seine Hand: »Wohlfart, schützen Sie meinen Bruder vor Gefahr!« Anton versprach mit maßloser Bereitwilligkeit, dies in jeder Weise zu thun, fühlte nach seinen geladenen Pistolen in der Rocktasche und stieg in den Wagen, selbst geladen mit den edelsten und seligsten Gefühlen, welche je ein junger Held gehabt hat. Er zog auf Abenteuer, er war stolz auf das Vertrauen seines Prinzipals, gehoben durch das zarte Verhältniß, in das er zu der Heiligen des Geschäfts getreten war. Er war glücklich.

Das Dampfroß schnaubte und raste über die weite Thallandschaft, wie ein Pferd aus Beelzebubs Marstall. In allen Waggons des Zuges saßen Soldaten, sie hingen auf den Frachtstücken, sie guckten aus den kleinen Fenstern der Packwagen; überall glänzten Bajonette und Helme, überall steckten Tornister, Feldkessel und Trommeln. Auf allen Stationen standen die Haufen der Neugierigen, überall hastige Fragen und Antworten, überall aufregende Neuigkeiten, schreckliche Gerüchte und abenteuerliche Erzählungen. Anton war froh, als sie sich am Ende der Bahnstrecke aus der kriegerischen Masse lösten und in einer leichten Chaise mit Courierpferden der Grenze zu rollten. Auf der Landstraße war es still, leerer als gewöhnlich, nur kleine Detachements aus den Garnisonen nahe der Grenze wurden noch von den Reisenden überholt. Die Mannschaft sang lustig, als zöge sie zum Manöver, hier und da machte der Spaßvogel der Compagnie seinen Witz über die schnellfüßigen Civilisten, zuweilen ritt ein Offizier grüßend an den Wagen, wenn er den Prinzipal kannte, oder einen Auftrag für sein Nachtquartier vorauszusenden hatte. Der Kaufmann sprach zu Anton gar nicht vom Geschäft, aber mit großer Heiterkeit von allem Andern, von früheren Erlebnissen, von dem Treiben an der Grenze, von Schmugglern und Zollwächtern, und behandelte seinen Reisegenossen mit der vertraulichen Herzlichkeit, welche ein älterer Kamerad dem jüngern zu zeigen pflegt. Nur gegen die Pistolen bewies Herr Schröter eine Kälte, welche den kriegerischen Muth Antons ein wenig dämpfte, denn als dieser auf der zweiten Station seine Mordwerkzeuge sorgfältig aus einer Wagentasche in die andere trug, sah der Prinzipal mit feindseligem Blick auf die beiden Läufe, und als die Reisenden bei den letzten Häusern des Orts vorübergerollt waren, wies er auf die braunen Kolben, welche brüderlich aus der Tasche hervorragten, und sagte zu Anton: »Ich glaube nicht, daß Ihnen gelingen wird, durch die Puffer unsere Waaren wieder zu erobern. Sie sind geladen?«

Anton bejahte und erwiederte mit dem letzten Rest seines kriegerischen Selbstgefühls: »Es sind gezogene Läufe.«

»So?« sagte der Prinzipal ernsthaft, nahm die Pistolen aus der Tasche, rief dem Postillon zu, die Pferde anzuhalten, und schoß kaltblütig beide Läufe ab. »Es ist besser, wir beschränken uns auf die Waffen, die wir zu gebrauchen gewöhnt sind,« bemerkte er gutmüthig, indem er Anton die Pistolen zurückgab, »wir sind Männer des Friedens und wollen nur unser Eigenthum zurückhaben. Wenn wir es nicht dadurch erhalten, daß wir Andere von unserem Recht überzeugen, so ist keine Aussicht dazu. Es wird dort drüben viel Pulver unnütz verschossen werden, Alles Ausgaben, welche nichts einbringen, und Kosten, welche Land und Menschen ruiniren. Es giebt keine Race, welche so wenig das Zeug hat, vorwärts zu kommen und sich durch ihre Capitalien Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slavische. Was die Leute dort im Müßiggang durch den Druck der stupiden Masse zusammengebracht haben, vergeuden sie in phantastischen Spielereien. Bei uns thun so etwas doch nur einzelne bevorzugte Klassen, und die Nation kann es zur Noth ertragen. Dort drüben erheben die Privilegirten den Anspruch, das Volk darzustellen. Als wenn Edelleute und leibeigene Bauern einen Staat bilden könnten! Sie haben nicht mehr Berechtigung dazu, als dieses Volk Sperlinge auf den Bäumen. Das Schlimme ist nur, daß wir ihre unglücklichen Versuche auch mit unserem Gelde bezahlen müssen.«

»Sie haben keinen Bürgerstand,« sagte Anton eifrig beistimmend.

»Das heißt, sie haben keine Cultur,« fuhr der Kaufmann fort; »es ist merkwürdig, wie unfähig sie sind, den Stand, welcher Civilisation und Fortschritt darstellt und welcher einen Haufen zerstreuter Ackerbauer zu einem Staate erhebt, aus sich heraus zu schaffen.«

»Da ist doch Conrad Günther in der insurgirten Stadt vor uns, dann die Geschäfte der drei Hildebrand in Galizien,« warf Anton ein.

»Brave Leute,« stimmte der Kaufmann bei, »alle aber eingewandert, und der ehrbare Bürgersinn hat keinen Halt, vererbt sich selten auf die nächste Generation. Was man dort Städte nennt, ist nur ein Schattenbild von den unsern, und ihre Bürger haben blutwenig von dem, was bei uns das arbeitsame Bürgerthum zum ersten Stande des Staates macht.«

»Zum ersten?« frug Anton.

»Ja, lieber Wohlfart, die Urzeit sah die Einzelnen frei und in der Hauptsache gleich, dann kam die halbe Barbarei der privilegirten Freien und der leibeigenen Arbeiter, erst seit unsere Städte groß wuchsen, sind civilisirte Staaten in der Welt, erst seit der Zeit ist das Geheimniß offenbar geworden, daß die freie Arbeit allein das Leben der Völker groß und sicher und dauerhaft macht.«

Im Abendlicht kamen die Reisenden im Grenzort an. Es war ein kleines Dorf, welches außer den Zollgebäuden und den Wohnungen der Grenzbeamten nur ärmliche Hütten und eine Schenke zu zeigen wußte. Auf dem freien Platz zwischen den Häusern und um das Dorf herum bivouakirten zwei Escadronen Reiter, welche ihre Posten längs dem schmalen Grenzfluß aufgestellt hatten und mit einem Detachement Jäger die Grenze bewachten. In der Schenke war ein wildes Treiben, Husaren und Jäger zogen ein und zogen aus, Husaren und Jäger saßen Kopf an Kopf gedrängt in der kleinen Gaststube, bunte Dolmans und grüne Röcke lagerten um das Haus herum auf Stühlen, Tischen, Pferderaufen, wankenden Tonnen und jedem möglichen Geräth, welches irgend eine Methode des Sitzens verstattete. Wie unzählige Herren Pixe kamen sie Anton vor, so entschlossen verfuhren sie mit der Schenke und allem Inhalt derselben, lebendigem und flüssigem. Mit lautem Gruß empfing der jüdische Wirth den wohlbekannten Kaufherrn; durch seinen Diensteifer wurde der letzte Raum des Hauses für die Reisenden freigemacht, ein kleiner Verschlag, in welchem sie die Nacht wenigstens allein verbringen konnten.

Altersbeschränkung:
12+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
28 September 2017
Umfang:
660 S. 1 Illustration
Rechteinhaber:
Public Domain