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Buch lesen: «Die verlorene Handschrift», Seite 17

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3.
Unter den Gelehrten

Ilse steckte den Kopf in das Arbeitszimmer des Gatten.

»Darf ich stören?«

»Nur herein!«

»Felix, wie unterscheiden sich die Faune und Satyre? Hier liest man, die Satyre haben Ziegenfüße, die Faune aber Menschenbeine, nur hinten ein kleines Schwänzchen.«

»Wer sagt das?« frug Felix entrüstet.

»Es ist gedruckt,« erwiederte Ilse, »hier steht es bewiesen.« Sie hielt dem Gatten ein aufgeschlagenes Buch hin.

»Es ist aber nicht wahr,« versetzte der Professor und erklärte ihr das Sachverhältniß. »Bei den Griechen Satyre, bei den Römern Faune, der Herr mit dem Bocksfuß aber hieß Pan. Wie kommt der Bacchantenzug in deine Wirtschaft?«

»Ihr sagtet gestern, der Consistorialrath hat ein Faungesicht. Nun entstand die Frage: was ist ein Faungesicht und was ist ein Faun? Laura erinnerte sich aus der Schule sehr gut, daß er ein altes römisches Fabelwesen war. Und sie brachte dies Buch, worin die Geschöpfe abgebildet sind. Was ist das für eine ausgelassene Gesellschaft? Warum haben sie spitze Ohren wie die Rehe, und was soll das heißen, wenn man sich nicht einmal in solchen Dingen auf deine unsterblichen Bücher verlassen kann?«

»Komm her,« sagte Felix, »ich will dir schnell die ganze Sippschaft vorstellen.« Er holte ein Kupferwerk herzu und schlug ihr die Gestalten des Bacchuskreises auf. Eine Weile ging die Belehrung gut tvon Statten. »Sie haben alle sehr wenig Kleider,« wandte Ilse bekümmert ein.

»Der Kunst ist der Leib lieber als das Gewand,« tröstete der Gatte.

Aber Ilse wurde ängstlicher. Endlich schlug sie erröthend das Buch zu und sagte: »Ich muß fort. Ich helfe heute in der Küche, es wird eine neue Mehlspeise gelehrt. Dort ist meine hohe Schule. Und das Mädchen ist noch ein Fuchs.« Sie eilte zur Thür hinaus. »Sage deinen Satyren und Faunen, daß ich eine bessere Idee von ihnen gehabt habe, sie sind sehr unanständig,« rief sie, den Kopf noch einmal in das Zimmer steckend.

»Das sind sie,« antwortete Felix durch die Thür, »und sie wollen auch nichts Anderes sein.«

Beim Essen, als Felix die Mehlspeise nach Gebühr bewundert hatte, legte Ilse den Löffel weg und sagte ernsthaft: »Zeige mir nicht wieder solche Bilder, ich möchte deinen Heiden gut werden, aber wie kann ich das, wenn sie so sind?«

»Sie sind nicht alle so arg,« beruhigte der Gatte. »Ist dir’s recht, so machen wir heut Abend einigen von den alten Herrschaften unsern Besuch.«

Mit diesem Tage begann für Ilse eine neue Zeit des Lernens. Bald wurde den Erläuterungen des Gatten eine feste Tagesstunde bestimmt, für Ilse die werthvollste Zeit des Tages. Der Professor gab ihr zuerst eine kurze Schilderung der großen Culturvölker des Alterthums und des Mittelalters und schrieb ihr sehr wenige Zahlen und Namen auf, die sie auswendig lernte. Er schilderte ihr, wie das ganze Leben der Menschen im letzten Grunde nichts sei, als ein uuaufhörliches Einnehmen, Umschaffen und Ausgeben der Stoffe, Bilder und Eindrücke, welche die umgebende Welt darbietet; und wie die ganze geistige Entwicklung der Menschheit nichts sei, als ein ernstes und andächtiges Suchen nach Wahrheit, und wie die ganze politische Geschichte im letzten Grunde auch nichts sei, als ein allmähliches Bändigen des Egoismus, welcher Menschen, Stämme, Völker feindlich voneinander scheidet: durch Steigerung der Bedürfnisse, durch Läuterung des Rechtsgefühls und durch die Zunahme der Liebe und Ehrfurcht vor allem Lebendigen.

Nach solcher Vorbereitung begann der Professor sogleich die Odyssee vorzulesen, kurze Erläuterung anfügend. Noch nie hatte Poesie so groß und rein auf die Seele der Frau gewirkt, der heitere Märchenton des ersten Theils, die gewaltige Ausführung des zweiten nahmen ihr Herz ganzgefangen, die Gestalten erhielten ihr ein fast greifbares Leben, sie wandelte, litt und frohlockte mit ihnen, hinaufgehoben in eine neue Welt schöner Bildung und hoher Empfindungen. Als der Schluß herankam, der Vielduldende seiner Gattin gegenübersaß und die Erkennungsscene Töne aus dem geheimsten Leben der jungen Frau anschlug, da saß auch Ilse, die Wangen geröthet, die thränenfeuchten Augen schamhaft niedergeschlagen, neben dem geliebten Manne; und als er geendet, schlang auch sie die weißen Arme um den Geliebten und sank aufgelöst von Entzücken und Rührung ihm an die Brust. Ihrer Seele, die nach langer Ruhe in einem großen Gefühle erglüht war, verklärte das unsterbliche Schöne dieser Dichtung alle Stunden des Tages, ja die Sprache und Haltung. Gern versuchte sie sich selbst mit Vorlesen, und der Professor hörte mit inniger Freude, wie die majestätischen Verse klangvoll von ihren Lippen rollten, und wie sie in Tonfall und Ausdruck unbewußt seine Sprache nachahmte. Wenn er früh in die Vorlesung ging und sie ihm in seinen braunen Tüffelrock half, da klangen ihm die herzerfreuenden Worte nach: »Purpurn ist und rauh das Gewand des edlen Odysseus;« wenn sie ihm in der Lehrstunde gegenübersaß und er einmal Pause machte, dann brachen die bewundernden Worte von ihren Lippen: »So mit klugem Bedacht und verstandvoll redest du Alles.« Und wenn sie sich selbst loben wollte, dann summte sie zuden brodelnden Blasen des Theekessels: »Selbst wohl hab ich im Herzen Verstand und erkenne genugsam Gutes zugleich und Böses; doch vormals war ich ein Kind noch.« Auch das Gut des lieben Vaters leuchtete ihr jetzt in dem goldenen Glanze der Hellenensonne. »Ich weiß nicht,« sagte der Vater einmal des Abends zu Clara, »wie es möglich ist, daß Ilse so schnell den Brauch unserer Wirthschaft vergessen konnte. Sie spricht in ihrem Briefe von der Zeit, wo die Rinder wieder in dem weitscholligen Blachfelde wandeln werden. Sie meint jedenfalls die Brache, aber wir haben ja Stallfütterung.«

Draußen heulte der Nordwind um die beiden Nachbarhäuser und legte Eispalmen über die Fensterscheiben, drinnen aber zog ein Tag nach dem andern lichtvoll und buntfarbig und ein Abend herzerfreuender als der andere über die Häupter der Glücklichen, ob sie allein waren, oder ob die Freunde des Gatten, Führer des Volkes, zusammensaßen und am gedeckten Theetisch die Hände nach dem einfach bereiteten Mahle ausstreckten.

Denn auch die Freunde des Gatten und kluges Wechselgespräch sind der Hausfrau erfreulich. Dann leuchtet die Lampe festlich in Ilse’s Stube, die Gardinen sind zugezogen, der Tisch wohlgerüstet, auch eine Flasche Wein ist aufgesetzt, wenn die Herren eintreten. Manchmal beginnt das Gespräch mit Kleinigkeiten, die Freunde wollen auch der Professorin ihre Hochachtung erweisen, der Eine spricht ein wenig über Concerte, der Andere empfiehlt ein neues Bild oder Buch. Zuweilen aber treten sie schon aus der Arbeitstube in eifriger Unterredung, dann ist der Tritt fester und die Bäckchen sind etwas geröthet, dann dringt die Rede gleich auf das los, was ihnen gerade aus ihrer Wissenschaft auf der Seele liegt. Nicht immer ist die Unterhaltung ganz verständlich, und wenn sie sich auf Einzelheiten heftet, auch nicht in jedem Moment sehr anziehend, aber im Ganzen ist sie doch für die Hörerin Freude und Erquickung. Dann sitzt Ilse still da, die Hände, welche sich über der Arbeit bewegten, sinken ihr in den Schoß, und andächtig hört sie zu. Wer nicht Professorfrau ist, hat doch keine Vorstellung, wie schön die Unterhaltung der Gelehrten dahinfließt. Alle wissen gut zu reden, Alle sind eifrig und haben dabei ein gehaltenes Wesen, das ihnen sehr wohlsteht. Die Erörterung erhebt sich, ein Kampf gewichtiger Meinungen beginnt. Diese kreuzen sich und fahren durcheinander, der Eine sagt zuerst schwarz, der Andere weiß, der erste beweist, daß er Recht hat, der zweite widerlegt und engt den ersten ein. Nun denkt die Frau, wie wird sich dieser herauswinden. Aber, keine Sorge! es fehlt ihm nicht, mit einem Sprunge ist er über dem Andern, dann kommt der Andere mit neuen Gründen und treibt die Sache noch höher, darauf reden die Uebrigen auch hinein, sie werden feurig, und ihre Stimmen ertönen lauter. Und ob sie sich zuletzt miteinander vergleichen, oder ob jeder bei seiner Meinung bleibt – was häufig vorkommt –, immer ist eine Freude, schwierige Fragen so von allen Seiten beleuchtet zu sehen. Wenn endlich der Eine etwas recht Großes sagt und auf den Kern der Wahrheit kommt, dann sind sie sämmtlich in gehobener Stimmung, dann leuchtet es in dem heimlichen Raume wie von überirdischem Lichte, und wer spricht und wer hört, fühlt sich frei, sicher und leicht. Ach aber, der gescheidteste von Allen und der, dessen Meinung mit der größten Hochachtung gehört wird, das ist doch immer der Hausfrau lieber Mann.

Freilich bemerkte Ilse auch, daß nicht alle gelehrten Herren dasselbe gute Wesen bewährten. Mancher konnte Widerspruch nicht recht vertragen und es war ihm in schwachen Augenblicken mehr um seine Geltung als um die Wahrheit zu thun. Wieder Einer wollte nur sprechen und nicht hören und beengte die Unterhaltung, indem er immer auf das zurückkam, was die Andern überwunden hatten. Ilse entdeckte, daß auch eine ungelehrte Frau aus dem Gespräche der weisen Männer Einiges von ihrem Charakter erkennen konnte. Und wenn sich die Gäste entfernt hatten, dann wagte sie wohl ein bescheidenes Urtheil über Wissen und Wesen Einzelner. Und sie war stolz, wenn Felix zugab, daß ihr Urtheil das Richtige getroffen.

Bei solcher Unterhaltung erfuhr die Frau des Gelehrten auch viele Sachen ganz genau, die jeder andern Frau schwierig bleiben. Da war z.B. die römische Plebs, wenig bedeutet den meisten Frauen dieses Wort. Die alte Plebs hat zu ihrer Zeit nie Kaffegesellschaften gegeben, nie auf dem Flügel gespielt, nie Reifröcke getragen und nie einen französischen Roman gelesen. Sie ist eine im Schutt des Alterthums begrabene, sehr ungemüthliche Einrichtung. Die Frau eines Philologen aber weiß davon. Was hörte nicht Ilse alles von Plebejern und Patriciern, ja, sie nahm in ihrem Herzen Partei für die Plebejer, sie verwarf gänzlich die Ansicht, daß sie nur aus kleinen Leuten und leichtfertigem Gesindel zusammengeflossen seien, und schätzte sie als tüchtige Landwirthe, trotzige politische Männer, die hartnäckig bis auf den Tod in einem großen Vereine gegen ungerechte Patricier kämpften. Und sie dachte dabei an ihren eigenen Vater und hatte Tage, wo sie ihre Bekannten darauf ansah, ob sie auch zur Plebs gehören würden, wenn sie Römer wären.

Auch ihr selbst waren die Herren freundlich, und fast alle hatten eine Eigenschaft, die den Verkehr bequem machte, sie erklärten gern. Im Anfange wollte Ilse ungern verrathen, daß sie von Vielem gar nichts wußte. An einem Abend aber setzte sie sich vor ihren Gatten und begann: »Ich habe mir etwas ausgedacht. Bisher habe ich mich gescheut zu fragen, nicht weil ich mich meiner Unwissenheit schäme, wo sollte ich’s her haben? nur um deinetwillen, damit die Leute nicht merken, daß du eine einfältige Frau hast. Aber wenn dir’s recht ist, will ich’s jetzt anders machen, denn ich merke, sie sprechen zumeist gern, und da werden sie wohl auch mir ein geflügeltes Wort gönnen.«

»So ist es recht,« sagte der Gatte, »du wirst ihnen um so lieber werden, je mehr du ihnen Antheil zeigst.«

»Wissen möchte ich Alles, die ganze Welt, um dir ähnlicher zu werden, aber es fehlt mir immer noch an Verständniß.«

Die neue Politik bewährte sich vortrefflich. Ilse erfuhr sogar, daß es zuweilen leichter war, einen lieben Bekannten zum Reden als zum Aufhören zu bringen. Denn die Herren berichteten ihr gewissenhaft und in großen Zügen, was sie erfahren wollte, aber sie vergaßen wohl einmal, daß die Fähigkeit der Frau, das Neue aufzunehmen, nicht so entwickelt war, als ihnen die Kunst zu belehren.

Ja, sie schwebten wie Götter über der Erde. Aber sie theilten auch darin das Loos der ambrosischen Genossenschaft, daß der heitere Friede, welchen sie in die Herzen der Sterblichen sandten, unter ihnen selbst durchaus nicht immer waltete und durch geworfene Erisäpfel leicht verscheucht wurde. Es war Ilse’s Schicksal, daß sie unter heftiger Fehde der Unsterblichen im Olymp heimisch werden sollte.

An einem finstern Wintertage fuhr der Sturmwind übelgelaunt gegen die Fenster und versteckte den Stadtwald hinter wirbelnden Schneewolken. Da hörte Ilse im Zimmer ihres Gatten die scharfen Laute des Professor Struvelius in bedächtigem Fluß der Rede, dazwischen langes und eingehendes Gespräch ihres Felix. Die Worte waren nicht zu unterscheiden, der Tonfall aber war zwei Stimmen schnellschwebender Vögel vergleichbar, dem Wettgesange der Drossel und einer Uebles weissagenden Krähe. Die Unterredung zog sich lange hin, und Ilse wunderte sich, daß Struvelius so ausdauernden Gebrauch der Rede ertrug. Als er sich endlich entfernt hatte, trat Felix zu ungewohnter Stunde in ihr Zimmer und ging, mit geheimen Gedanken beschäftigt, einigemal schweigend auf und ab. Zuletzt brach er kurz heraus: »Ich bin in die Lage gekommen, dem Collegen über unsere Handschrift eine Mittheilung zu machen.«

Ilse sah neugierig auf. Seit ihrer Vermählung war von Tacitus noch nicht die Rede gewesen. »Du hattest doch die Absicht, gegen Fremde nicht mehr davon zu sprechen.«

»Ich habe das Schweigen ungern gebrochen. Mir blieb nichts übrig, als gegen meinen nächsten Collegen offen zu sein. Das Gebiet unserer Wissenschaft ist umfangreich, nicht häufig geschieht es, daß Genossen derselben Universität jeder für sich auf dieselbe Arbeit verfallen. Ja, aus naheliegenden Gründen vermeiden sie, einander darin eine gewisse Concurrenz zu machen. Fügt der Zufall nun doch einmal solches Zusammentreffen, so ist Mitgliedern derselben Anstalt jede zarte Rücksicht geboten. Heut nun sagte mir Struvelius, er wisse, daß ich mich ab und zu mit Tacitus beschäftige, und er bitte mich um einige Auskunft. Er frug nach den Handschriften, die ich vor Jahren im Auslande eingesehen und verglichen, und nach der Durchzeichnung, die ich von den Schriftzügen derselben für mich gemacht habe.«

»Du hast ihm mitgetheilt, was du wußtest?« frug Ilse.

»Ich habe ihm gegeben, was ich besaß, das verstand sich von selbst,« erwiederte der Professor. »Denn was er auch damit anfangen mag, es wird nicht ganz ohne Gewinn für die Wissenschaft sein.«

»Er soll deine Arbeit benutzen, um die seine möglich zu machen? Jetzt wird er vor der Welt in deinen Federn singen,« klagte Ilse.

»Ob er das Gegebene mit Anstand gebraucht, ob er es mißbraucht, ist seine Sache, ich habe die Verpflichtung, einem bewährten Amtsgenossen nur das Ehrenhafte zuzutrauen. Das war mir keinen Augenblick zweifelhaft, wohl aber fiel mir Anderes auf. Er war nicht offen gegen mich. Er gab an, daß ihn die Kritik einiger Stellen des Tacitus beschäftige, aber er verbarg mir die Hauptsache, das empfand ich deutlich. Da mußte ich ihm geradeheraus sagen, daß ich seit langer Zeit für diesen Schriftsteller ein warmes Interesse herumtrage, und daß ich seit dem letzten Sommer an ihn gefesselt sei durch die, wenn auch unsichere Möglichkeit eines neuen Fundes. Ich habe ihm die Nachricht gezeigt, welche mich zuerst in deine Nähe leitete. Er ist Philolog wie ich und weiß jetzt, welche Bedeutung für mich dieser Autor gewonnen hat.«

»Mein einziger Trost ist,« sagte Ilse, »daß der verständige Vater dem Struvelius ein schweres Verhängniß bereiten wird, wenn dieser auf unserm Gute nach der Handschrift freien will.«

Dem Professor war der Gedanke an den Trotz seines gewaltigen Schwiegervaters heut tröstlich und er lächelte. »Nach dieser Seite bin ich sicher. Aber was will der Andere mit Tacitus, die Historiker lagen doch sonst nicht auf seinem Wege? – Es ist kaum denkbar, – aber sollte das Unglaubliche geschehen sein? ist die geheimnißvolle Handschrift durch irgendeinen Zufall aufgefunden und in seinen Händen? – Doch es ist Thorheit, darum zu sorgen.« Er schritt heftig auf und ab und rief endlich, in starker Bewegung seiner Frau die Hand schüttelnd: »Es ist immer widerwärtig, wenn man sich auf selbstsüchtigen Empfindungen ertappt.«

Er ging wieder an seine Arbeit, und als Ilse leise die Thür öffnete, sah sie seine Feder in gleichförmiger Bewegung. Gegen Abend aber, wo sie nach seiner Lampe sah und die Ankunft des Doctors verkündigte, saß er, den Kopf auf die Hand gestützt, in finsterm Sinnen. Sie strich ihm leise über das Haar und er merkte es kaum.

Der Doctor aber nahm die Sache nicht so innerlich, er gerieth in Aerger über die Geheimnißkrämerei des Andern und über die Hochherzigkeit des Freundes, und es gab eine lebhafte Erörterung. »Möchtest du diese Offenheit niemals bereuen,« rief der Doctor, »der Mann wird aus deinem Silber seine Münzen schlagen. Denke an mich, dir wird ein Possen gespielt.«

»Zuletzt,« so schloß der Professor bedachtsam, »lohnt nicht, sich darüber aufzuregen. Kam durch irgendeinen unwahrscheinlichen und unerhörten Zufall wesentlich Neues in seinen Besitz, so hat er ein Recht auf alles vorhandene Material, auf meine Sammlungen, auf meine Unterstützung, soweit ich sie zu geben vermag. Uebt er seinen Scharfsinn nur an dem vorhandenen Text, so ist unserer kindlichen Hoffnung gegenüber Alles, was er fördern mag, unwesentlich.«

In solcher Weise zog unscheinbar und harmlos ein akademisches Gewölk herauf.

Vier Wochen waren vergangen, der Professor war oft mit seinem Collegen zusammengetroffen. Es konnte nicht auffallen, daß Struvelius den Namen Tacitus nicht über seine schweigsamen Lippen brachte, der Professor aber blickte unruhig auf den Pfad des Amtsgenossen, denn er glaubte zu bemerken, daß der Andere ihm auswich. An einem friedlichen Abend saß Felix Werner mit Ilse und dem Doctor am Theetisch, als Gabriel eintrat und eine kleine Broschüre in unscheinbarem Zeitungspapier vor dem Professor niederlegte. Der Professor riß die Hülle ab, warf einen Blick auf den Titel und reichte das Heft schweigend dem Doctor. Der lateinische Titel lautete in die Sprache dieses Buches übersetzt: »Ein Fragment des Tacitus, als Spur einer verlorenen Handschrift mitgetheilt von Dr. Friedobald Struvelius, Professor u.s.w.« Ohne ein Wort zu sagen, standen die Freunde auf und trugen die Abhandlung in das Arbeitszimmer des Professors. Ilse blieb erschrocken zurück, sie hörte, wie ihr Gatte den lateinischen Text vorlas, und erkannte, daß er sich zwang, durch langsames und festes Lesen seine Aufregung zu überwältigen. Was in dieser verhängnißvollen Schrift enthalten war, darf leider dem Leser nicht vorenthalten werden.

Aeltere Zeitgenossen erinnern sich der Culturperiode, in welcher der Tabak aus Pfeifenköpfen geraucht wurde; sie kennen die wohlthätige Erfindung, welche mit einem noch durch keine Forschung hinreichend aufgehellten Worte Fidibus benannt wird; sie kennen auch die normale Länge und Breite eines solchen Papierstreifens, welchen unsere Väter aus verjährten Acten massenhaft zusammenfalteten. Ein solcher Streifen, allerdings nicht von Papier, sondern von einem Pergamentblatt geschnitten, war in die Hände des Herausgebers gefallen. Der Streifen hatte aber vorher schwere Schicksale erfahren. Er war vor etwa zweihundert Jahren von einem Buchbinder auf die Rückseite eines dicken Bandes geklebt worden, um die Dauer des Heftzwirns zu verstärken, und er war für diesen Zweck durch Leim übel zugerichtet. Nach Entfernung des Leims erschienen die Schriftzüge einer alten Mönchshand. Das Wort Amen und einige heilige Namen machten zweifellos, daß das Geschriebene dazu gedient hatte, christliche Frömmigkeit zu fördern. Unter dieser Mönchsschrift aber waren andere und größere lateinische Buchstaben sichtbar, sehr verblichen, fast ganz geschwunden, von denen man einige mit mäßiger Anstrengung zu dem römischen Namen Piso zusammendeuten konnte. Da hatte nun Professor Struvelius durch Hartnäckigkeit und durch Anwendung einiger chemischer Mittel möglich gemacht, diese untere Schrift zu lesen. Sie war nach den Formen ihrer Buchstaben uralt. Da der Pergamentfidibus aber von einem ganzen Blatte abgeschnitten war, enthielt er natürlich nicht vollständige Sätze, nur einzelne Wörter, welche in die Seele des Lesers fielen wie verlorene Noten einer fernen Musik, die ein Wind ans Ohr trägt, es war daraus keine Melodie zu machen. Gerade das hatte den Herausgeber angezogen. Er hatte die verschwundenen Buchstaben ermittelt, die durchschnittenen Worte ergänzt, ja, den gesammten fehlenden Theil des Blattes gemuthmaßt. Und er hatte durch bewundernswerthe Anwendung der allergrößten Gelehrsamkeit aus wenigen schattenhaften Flecken des Fidibus ziemlich die ganze Seite einer Pergamenthandschrift hergestellt, wie sie etwa vor zwölfhundert Jahren leibhaftig gewesen sein konnte. Es war eine staunenswerthe Arbeit.

Daraus ergab sich Folgendes. Noch am deutlichsten, obgleich für gewöhnliche Augen kaum lesbar, war auf dem Pergamentstreif ein gewisser Pontifex Piso gewesen, in wortgetreuer Uebersetzung: Brückenmacher Erbs. Dieser Erbs schien den Pergamentstreif sehr zu beschäftigen, denn der Name zeigte sich einigemal. Nun aber hatte der Herausgeber aus diesem Namen und aus den Ruinen zerstörter Wörter bewiesen, daß der Pergamentstreif letzter Ueberrest einer Handschrift des Tacitus war, und daß seine Worte einem uns verlorenen Abschnitt der Annalen angehörten; und er hatte endlich aus dem Charakter der schattenhaften Buchstaben nachgewiesen, daß der Pergamentstreif zu keiner der vorhandenen Handschriften des Römers gehört habe, sondern daß er durch Zerstörung einer ganz unbekannten entstanden sei.

Die Freunde saßen, nachdem der Aufsatz vorgelesen war, finster und sinnend. Endlich brach der Doctor aus: »Wie unfreundlich, dir dies zu verbergen und doch deine Hilfe in Anspruch zu nehmen!«

»Darauf kommt jetzt wenig an,« erwiederte der Professor, »die Arbeit selbst kann ich nicht loben, sie wendet auf unsichere Grundlage einen übergroßen Scharfsinn, und gegen Manches, was er ergänzt und vermuthet, wird Einspruch zu erheben sein. Aber warum sprichst du nicht aus, was uns beiden mehr am Herzen liegt als das Ungeschick eines wunderlichen Mannes. Wir sind einer Handschrift des Tacitus auf der Spur, und hier findet sich das Trümmerstück einer solchen Handschrift, welche nach dem dreißigjährigen Kriege von einem Buchbinder zerschnitten ward. Die Ausbeute, welche dies kleine Fragment für unser Wissen geben mag, ist so unbedeutend, daß der Gewinn den aufgewandten Fleiß gar nicht lohnt, gleichgültig für alle Welt, nur nicht für uns. Denn, mein Freund, wenn wirklich eine Handschrift des Tacitus in solche Streifen zerschnitten wurde, so ist es mit großer Wahrscheinlichkeit dieselbe, auf welche wir gehofft haben. – Was weiter!« schloß er bitter, »wir werden ein Traumbild los, das uns vielleicht noch lange geäfft hätte.«

»Wie kann dies Pergament von der Handschrift unseres Freundes Bachhuber stammen?« rief der Doctor, »auf diesem hier ist der Text ja mit Gebeten überschrieben.«

»Wer steht uns dafür, daß nicht auch die Mönche von Rossau wenigstens einzelne verblichene Blätter mit ihrem geistlichen Hausbedarf übermalten? Dergleichen ist nicht gewöhnlich, aber wohl denkbar.«

»Vor allem mußt du selbst das Pergamentblatt des Struvelius sehen,« entschied der Doctor. »Genaue Betrachtung kann Manches aufhellen.«

»Es ist mir nicht bequem, deshalb mit ihm zu sprechen, aber es soll morgen geschehen.«

Den Tag darauf trat der Professor ruhiger in das Zimmer des Collegen Struvelius. »Sie mögen denken,« begann er, »daß ich mit besonderer Spannung Ihre Abhandlung gelesen habe. Nach dem, was ich Ihnen von einem unbekannten Codex des Tacitus mittheilte, wissen Sie, daß unsere Aussicht, diesen Codex zu ermitteln, sehr verringert wird, wenn der Pergamentstreif von Blättern des Tacitus geschnitten ist, welche noch vor zweihundert Jahren in Deutschland erhalten waren.«

»Wenn er geschnitten ist?« erwiederte Struvelius scharf. »Er ist davon geschnitten. Und was Sie mir über den Versteck von Rossau mittheilten, war doch unsicher, und ich bin nicht der Meinung, daß darauf Werth zu legen ist. Wenn dort in der That eine Handschrift des Tacitus vorhanden war, so ist sie allerdings zerschnitten und diese Frage erledigt.«

»Wenn solche Handschrift vorhanden war?« entgegnete Felix. »Sie war vorhanden. Ich aber komme, Sie zu bitten, daß Sie mich das Pergamentblatt sehen lassen. Seit der Inhalt veröffentlicht ist, wird das wohl keinem Bedenken unterliegen.«

Struvelius sah verlegen aus, als er antwortete: »Ich bedaure Ihren Wunsch, den ich übrigens ganz in der Ordnung finde, nicht erfüllen zu können, ich bin nicht mehr im Besitz des Blattes.«

»An wen habe ich mich deshalb zu wenden?« frug der Professor befremdet.

»Auch darüber bin ich vorläufig zum Schweigen verpflichtet.«

»Das ist auffallend,« brach Felix los, »und verzeihen Sie mir das offene Wort, es ist schlimmer als unfreundlich. Denn ob die Bedeutung dieses Fragments groß oder gering ist, es sollte nach dem Druck seines Inhaltes den Augen Anderer nicht entzogen werden. Ihnen selbst muß daran liegen, daß Andere Ihre Herstellung des Textes gründlich zu würdigen vermögen.«

»Das gebe ich zu,« erwiederte Struvelius, »aber ich bin nicht im Stande, Ihnen die Einsicht dieses Blattes zu bewirken.«

»Haben Sie daran gedacht,« rief der Professor auflodernd, »daß Sie durch solche Weigerung Mißdeutungen Fremder ausgesetzt werden, Mißdeutungen, die niemals mit Ihrem Namen in Verbindung gebracht werden sollten?«

»Ich halte mich selbst für hinreichend befähigt, Wächter meines guten Namens zu sein, und muß Sie bitten, diese Sorge vollständig mir zu überlassen.«

»Dann habe ich Ihnen nichts weiter zu sagen, Herr Professor,« erwiederte Felix und ging nach der Thür.

Im Gehen sah er noch, daß sich die Mittelthür öffnete und die Frau Professorin, aufgeschreckt durch die lauten Worte der Sprechenden, wie ein Genius eintrat und die Hand flehend nach ihm ausstreckte. Er aber schloß nach flüchtiger Verbeugung die Thür und ging zornig nach Hause.

Die Wolke war geballt, der Himmel wurde finster. Der Professor nahm jetzt noch einmal die Abhandlung des unholden Collegen zur Hand. Und es war gerade, als wenn ein Luchs einen Hasen oder ein Zicklein zerrissen hat und sich des Schmauses zu freuen bereit ist, und der wilde Bergleu wirft sich, die Mähne schüttelnd, gegen die Beute, daß der andere entweicht, die Schläge des Starken im Nacken.

Ilse rief heut den Gatten zweimal vergebens zu Tische; als sie besorgt an seinen Stuhl trat, sah sie in ein verstörtes Antlitz. »Ich kann nicht essen,« sagte er kurz, »schicke hinüber, ich lasse Fritz bitten, sich sogleich her zu bemühen.«

Ilse sandte erschrocken in das Nachbarhaus, setzte sich im Zimmer des Professors nieder und folgte mit ihrem Blick dem auf und ab Schreitenden. »Was hat dich so erregt, Felix?« frug sie ängstlich.

»Ich bitte dich, liebes Weib, iß heut ohne mich,« rief er und setzte seine Wanderung fort.

Eilig trat der Doctor ein: »Das Bruchstück ist nicht aus einer Handschrift des Tacitus,« rief der Professor dem Freunde entgegen.

»Vivat Bachhuber!« erwiederte dieser noch an der Thür und schwenkte den Hut.

»Es ist kein Grund zur Freude,« unterbrach ihn der Professor finster, »das Fragment, soweit es überhaupt irgend wo her ist, enthält eine Stelle des Tacitus.«

»Nun, irgend wo her muß es doch sein,« sagte der Doctor.

»Nein,« rief der Professor mit starker Stimme, »das Ganze ist eine Fälschung. Die obere Hälfte des Textes scheinen wüst zusammengeschriebene Worte, auch sind die Versuche des Herausgebers, diese in einen verständlichen Zusammenhang zu bringen, nicht glücklich. Der untere Theil des sogenannten Fragments ist aus einem Kirchenvater abgeschrieben, welcher an einer bis jetzt nicht beachteten Stelle einen Satz des Tacitus anführt. Der Fälscher hat einzelne Worte dieses Citats mit regelmäßiger Auslassung der dazwischenliegenden Wörter auf den Pergamentzettel untereinander geschrieben. Das letzte ist unzweifelhaft.« Er führte den Doctor, der jetzt fast so betroffen aussah wie er selbst, zu den Büchern und bewies ihm die Richtigkeit seiner Behauptung. »Der Fälscher hat aus diesem gedruckten Text des Kirchenvaters seine Weisheit geholt, denn er hat das Ungeschick gehabt, einen Druckfehler des Setzers mit abzuschreiben. So sind wir mit dem Pergamentblatt fertig und mit einem deutschen Gelehrten auch.« Er zog das Tuch, den Schweiß von seiner Stirn zu trocknen, und warf sich in einen Sessel.

»Halt,« rief der Doctor, »hier handelt es sich um einen Gelehrten von Ruf und Ehre. Laß uns noch einmal kaltblütig untersuchen, ob nicht ein zufälliges Zusammenstimmen möglich ist.«

»Suche,« sagte der Professor, »ich bin am Ende.«

Der Doctor verglich lange und ängstlich den ergänzten Text des Struvelius mit den gedruckten Worten des Kirchenvaters. Endlich sagte er traurig: »Was Struvelius ergänzt hat, trifft in Sinn und Wortlaut mit den Worten des Kirchenvaters so merkwürdig überein, daß man in Versuchung geräth, die etwa abweichenden Worte seiner Ergänzung für Schlauheiten zu halten, durch welche seine Bekanntschaft mit dem erhaltenen Citat versteckt werden sollte; aber unmöglich ist doch nicht, daß Jemand durch Glück und Scharfsinn auf den richtigen Zusammenhang kommen konnte, wie er ihn gefunden hat.«

»Ich zweifle keinen Augenblick, daß Struvelius ehrlich und in gutem Glauben seine Ergänzungen selbst gefunden,« versetzte der Professor. »Aber seine Niederlage ist doch so widerwärtig als möglich. Betrüger oder betrogen, die unselige Abhandlung ist nicht nur für ihn, auch für unsere Universität eine gräuliche Demüthigung.«

»Die Worte des Pergamentblattes selbst,« fuhr der Doctor fort, »sind unzweifelhaft abgeschrieben und unzweifelhaft eine Fälschung. Und dir liegt die Pflicht ob, das Sachverhältniß aufzudecken.«

»Meinem Mann?« frug Ilse aufstehend.

»Dem, der die Fälschung gefunden, und wenn Struvelius der nächste Freund wäre, Felix müßte es thun.«

»Sprich zuvor mit dem Andern,« bat Ilse, »handle nicht so an ihm, wie er an dir; hat er geirrt, laß es ihn selbst verbessern.«

Der Professor dachte nach und nickte dem Freunde zu: »Sie hat Recht.« Er eilte an den Tisch und schrieb dem Professor Struvelius seinen Wunsch, ihn heut noch in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Gabriel empfing den Brief, und das Herz war dem Professor doch leichter geworden, denn er war jetzt bereit, sich das Mittagessen gefallen zu lassen.