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Buch lesen: «Die verlorene Handschrift», Seite 13

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Ilse preßte die Hände krampfhaft zusammen und sah starr vor sich hin. Alles war ein Traum gewesen. Täuschung war’s und thörichte Einbildung, daß sie in seliger Stunde gehofft hatte, er liebe sie. Sie hatte ihm ihr Herz offenbart, und ihr heißes Gefühl war für ihn nichts als dreiste Zudringlichkeit einer Fremden. Sie war ihm ein ungeschicktes Weib vom Lande, dem das städtische Zartgefühl fehlte, und die sich thöricht etwas in den Kopf gesetzt, weil er einige Male gütig zu ihr gesprochen. Sie stürzte in ihr Zimmer, dort sank sie vor ihrem Lager nieder und ein krampfhaftes Schluchzen erschütterte ihre Glieder.

Sie war den ganzen Abend nicht mehr sichtbar, am nächsten Tag trat sie dem Geliebten stolz und kalt gegenüber, sie sprach nur das Nöthigste und rang in der Stille mit Thränen und unendlichem Jammer.

Alles war hochsinnig für eine feine und zarte Brautwerbung zurechtgelegt, aber wenn zwei Menschen einander lieb haben, sollen sie das einer dem andern auch frisch und einfältig sagen, ohne Disposition und, beim Styx, auch ohne Zartgefühl.

Der Landwirth war abgereist. Ein Geldgeschäft, das er auf dem Wege erledigen konnte, gab den Vorwand. Schon den Tag darauf fiel seine gewaltige Gestalt und das sorgenvolle Antlitz in den Straßen der Universitätsstadt auf. Gabriel war sehr verwundert, als ein riesiger Mann, höher als sein alter Freund, der Wachtmeister bei den Kürassieren, an der Thür schellte und einen Brief des Herrn überbrachte, worin Gabriel aufgefordert wurde, sich und das Quartier dem Herrn zur Verfügung zu stellen. Der fremde Mann schritt durch die Zimmer, saß am Arbeitstisch des Professors nieder und begann mit Gabriel ein Gespräch in Kreuzfragen, aus denen der Diener nicht klug werden konnte. Auch Herrn Hummel begrüßte der Fremde, dann ließ er sich nach der Universität führen, hielt auf der Straße Studenten an und frug sie aus, verhandelte mit dem Rechtsanwalt, besuchte einen Kaufmann, mit welchem er zuweilen Getreidegeschäfte machte, ließ sich von Gabriel zum Schneider des Professors führen, dort einen Rock zu bestellen, und Gabriel mußte lange vor der Thür stehen, bis der geschwätzige Schneider den Fremden entließ. Auch zu Herrn Hahn ging er, einen Strohhut zu kaufen, und am Abend sah man seine große Gestalt, welche den chinesischen Tempel unbillig beengte, neben Herrn Hahn bei einer Flasche Wein sitzen. Es war ein armer Vater, der sich bei gleichgültigen Leuten ängstlich erkundigte, ob er sein geliebtes Kind in die Arme eines Fremden legen müsse. Ach, was er erfuhr, war alles noch weit günstiger als er erwartet hatte. Auch ihm wurde deutlich, was die Frau Oberamtmann Rollmaus längst wußte, daß es nach der Meinung Anderer kein gewöhnlicher Mann war, den er bei sich aufgenommen hatte.

Als der Heimkehrende am Abende des nächsten Tages zwischen den letzten Häusern von Rossau dahinfuhr, sah er eine Gestalt eilig auf sich zukommen. Es war der Professor, den die ungeduldige Erwartung auf den Weg getrieben hatte und der jetzt mit verstörtem Gesicht an den Wagen eilte. Der Landwirth sprang von seinem Sitze und sagte dem Professor leise: »Bleiben Sie bei uns, der Himmel gebe zu allem weiteren seinen Segen.« Und als die beiden Männer nebeneinander den Fußpfad hinaufstiegen, fuhr der Gutsherr mit einem Anflug von guter Laune fort: »Sie haben mich gezwungen, um Ihre Wohnung zu spioniren, lieber Herr Professor. Ich habe erfahren, daß Sie still weg leben. Sie bezahlen Ihre Rechnungen pünktlich, Ihr Diener spricht mit Ehrerbietung von Ihnen, die Nachbarn denken gut über Sie, in der Stadt sind Sie ein angesehener Mann, alles was Sie sonst über sich gesagt haben, ist bestätigt. Ihr Quartier ist sehr stattlich, die Küche zu klein, die Vorrathskammer enger als bei uns ein Schrank. Durch die Fenster ist wenigstens Aussicht ins Grüne.«

Sonst wurde kein Wort über den Zweck der Reise gesprochen, aber hoffnungsvoll vernahm der Professor, was der Landwirt von anderen Beobachtungen erzählte, wie reichlich die Bürger lebten, wie glänzend die Läden ausgestattet waren, dann von den hohen Häusern des Marktes, dem Gedränge auf den Straßen und von den Tauben, welche nach altem Herkommen vom Rath gehalten werden und dreist wie Stadtbeamte zwischen Wagen und Menschen umherlaufen.

Es war früher Morgen auf dem Gute, wieder sandte die Sonne ihre ersten Strahlen heiß auf die Erde. Nach einer schlummerlosen Nacht eilte Ilse durch den Garten zu dem kleinen Badehause, das der Vater zwischen Rohr und Gebüsch angelegt hatte. Dort tauchte sie die weißen Glieder in das Wasser, hüllte sich schnell wieder in ihr Gewand und stieg, die Strahlen der Sonne suchend, den Weg hinauf, welcher unweit der Grotte nach der Höhe führte. Da sie wußte, daß unter den Steinen der Höhle noch die kühle Nachtluft lag, stieg sie höher hinauf, wo die Berglehne steil nach der Grotte und dem Thal abfiel. Dort oben auf dem Abhange setzte sie sich zwischen den ersten Büschen nieder, um fern von jedem Menschenauge im Sonnenstrahl die Haare zu trocknen und ihren Anzug zu ordnen.

Sie sah hinüber nach dem Vaterhause, wo auf dem Freunde wohl noch der Morgenschlummer lag, und sah vor sich herunter auf die Steindecke der Grotte und auf den großen Federbusch von Weidenröschen, dem jetzt die weiße Wolle des Samens aus den Schoten quoll. Und sie stützte das Haupt in die Hand und dachte an den letzten Abend, wie wortkarg er wieder gewesen war, und daß der Vater zu ihr gar nicht von seiner Reise sprach. Aber wie unruhig auch die Sorgen durch ihr Haupt fuhren, aus der klaren Fluth hatte sie auch ihren Gedanken Erfrischung geholt und jetzt warf der Morgen sein mildes Licht auch über ihr Herz.

Dort saß das Kind des Gutes, sie wand das Wasser aus dem Haar und stützte die weißen Füße auf das Moos. Neben ihr summten die Bienen über dem blühenden Quendel, und eine kleine Arbeiterin kreiste drohend um ihre Füße. Ilse bewegte sich und stieß an einen ihrer Schuhe, der Schuh glitt hinab, überschlug sich und fiel in kleinen Sätzen über Moos und Stein, er sprang beim Weidenröschen vorbei und verschwand in der Tiefe. Ilse fuhr in den Kameraden des Flüchtlings und eilte auf dem Wege zur Grotte nach. Sie bog um die Felsecke und trat erschrocken zurück, denn auf dem Platze vor der Grotte stand der Professor und betrachtete sinnend die gestickten Arabesken des Schuhes. Der zartfühlende Mann war über diese plötzliche Begegnung kaum weniger betroffen als Ilse. Es hatte auch ihn am frühen Morgen hinausgetrieben zu der Stelle, wo ihm zuerst das Herz des Mädchens aufgegangen war, auf dem Stein am Eingange hatte er gesessen und das Haupt an den Felsen gelehnt in tiefem und schmerzlichem Grübeln. Da, horch, ein leises Rauschen, Steinchen und Sand rollten herab, ein kleines Meisterwerk bildender Kunst fiel dicht vor seine Füße. Er schnellte empor, den er ahnte auf der Stelle, wem der springende Schuh gehörte. Jetzt sah er die Geliebte vor sich stehen, in leichtem Morgengewand, von dem langen blonden Haar umflossen, einer Wasserfee oder Bergnymphe vergleichbar.

»Es ist mein Schuh,« rief Ilse verlegen und verbarg den Fuß.

»Ich weiß,« sagte der Gelehrte ebenfalls verlegen und rückte den Schuh ehrerbietig an den Saum ihres Kleides. Schnell schlüpfte der Fuß hinein, aber die kurze Bewegung der weißen Zehen gab dem Professor plötzlich einen Heldenmut, den er an den letzten Tagen nicht gehabt hatte. »Ich gehe nicht von der Stelle,« rief er entschlossen. Ilse fuhr in die Grotte und barg ihre Haare in dem Netz, das sie in der Hand hielt. Der Gelehrte stand am Eingange zu dem Heiligthume, neben ihm hingen die Ranken der Brombeeren, die Bienen summten über dem Quendel, und ihm pochte das Herz. Als Ilse mit gerötheten Wangen aus der Grotte in das Licht des Tages trat, hörte sie, wie eine Stimme in tiefer Bewegung ihren Namen aussprach, sie fühlte ihre Hände gefaßt, ein heißer Blick aus den treuen Augen, süße Worte in bebendem Tonfall, der Arm des Mannes umschlang sie, lautlos sank sie an sein Herz.

Denn, wie der Professor selbst bei einer andern Gelegenheit auseinandergesetzt hatte, der Mensch vergißt zuweilen, daß sein Leben auf einem Contract mit übermächtigen Naturgewalten beruht, welche den kleinen Herrn der Erde unversehens kreuzen. Dergleichen unbeachtete Mächte zwangen jetzt auch den Professor und Ilse. Weiß nicht, welche Naturgewalt die Biene sandte und den Schuh warf, waren es die Erdmännchen, an welche Ilse nicht glaubte, oder war es Einer aus der antiken Bekanntschaft des Professors, der gaißfüßige Pan, der in den Grotten auf der Rohrpfeife bläst.

Die Brautwerbung war wissenschafttlich begonnen, aber sie war ohne alle Weisheit zur Vollendung gebracht. Es waren zwei große und reine Herzen, welche jetzt an einander schlugen, aber um Alles zu sagen, der feinfühlende Professor hatte zuletzt doch um die Geliebte geworben, als sie gerade keinen Strumpf anhatte.

11.
Speihahn

Ueber den feindlichen Häusern war rabenschwarze Nacht, die Welt sah aus wie eine große Kohlengrube, in der die Leuchte erloschen ist. Der Wind fuhr durch die Bäume des Parkes, man hörte ein Rauschen der Blätter, Geknarr der Aeste, ein tiefes, zorniges Brummen in der Luft, aber man sah nichts als einen ungeheuren schwarzen Vorhang, der den Stadtwald verhüllte, und ein schwarzes Zeltdach, das über die Häuser gespannt war. Die Straßen der Stadt waren leer, wer ein freundliches Verhältniß zu seinem Bett hatte, lag längst darin, wer eine Schlafmütze besaß, heut zog er sie über die Ohren. Alles Menschliche barg sich in tiefem Schweigen, auch den Stundenschlag der Thurmglocke zerriß der Sturmwind und führte die einzelnen Töne hierhin und dorthin, so daß Niemand die Schläge der Mitternachtsstunde vollständig zusammenbringen konnte. Nur um das Haus des Herrn Hummel kläffte die wilde Jagd, die Hunde fuhren im Hofe umher, unbeirrt durch Sturm und Finsterniß, und wenn der Wind wie ein Hifthorn zwischen den Häusern blies, bellte die Meute dem Schlafe der Menschen ein greuliches Halali.

»Den ist heut wohl,« dachte Gabriel in seiner Kammer, »das ist ganz ihr Wetter.« Endlich entschlief auch er und hatte einen Traum, als wenn die beiden Hunde seine Kammerthür aufmachten, sich vor seinem Bett auf zwei Stühle setzten und abwechselnd die Zündhütchen ihrer Taschenpistolen auf ihn abknipsten.

Er lag noch in unruhigem Schlaf, als es an seine Thür pochte.

»Stehen Sie auf, Gabriel,« rief die Stimme des alten Schließers aus der Fabrik, »es ist ein Unglück geschehen.«

»Durch die Hunde?« rief Gabriel, mit beiden Beinen aus dem Bette springend.

»Es muß Jemand eingebrochen sein,« rief der Mann wieder durch die Thür, »die Hunde liegen auf der Erde.«

Gabriel fuhr erschrocken in seine Stiefeln und eilte in den Hof, der durch die Morgendämmerung nothdürftig erhellt wurde. Da lagen die zwei armen nächtlichen Geschöpfe auf dem Boden, nur noch ein wenig zappelnd. Gabriel lief zu dem Waarenlager, sah nach Thür und Fenstern, dann untersuchte er das Haus, jeder Laden war geschlossen, nirgend Verstörung zu entdecken. Als er zurückkehrte, stand Herr Hummel vor den Liegenden.

»Gabriel, hier ist eine Missethat geschehen, den Hunden ist etwas angethan, lassen Sie beide liegen, es muß eine Beweisaufnahme stattfinden, ich schicke zur Polizei.«

»Ei was,« erwiederte Gabriel, »erst kommt das Erbarmen, dann die Polizei, vielleicht ist den Würmern noch zu helfen.« Er nahm die beiden Thiere, trug sie ans Licht und untersuchte ihren Zustand. »Der Schwarze ist dahin,« sagte er mitleidig, »der Rothe hat noch einigen guten Willen.«

»Zum Thierarzt, Klaus,« rief Herr Hummel, »und auf der Stelle, er möchte mir den Gefallen thun und sogleich aufstehen, es soll sein Schade nicht sein. Dieser Fall muß ins Tageblatt. Ich verlange Satisfaction vor Stadtverordneten und Rath. – Gabriel,« fuhr er in zorniger Bewegung fort, »sie ermorden die Hunde von Bürgern. Damit fängt die niederträchtige Bosheit an, aber ich bin nicht der Mann, der sich durch Meuchelmörder behandeln läßt, es soll ein Exempel werden, Gabriel.«

Gabriel streichelte unterdeß das Fell des rothen Hundes, der die Augen wild unter dem zottigen Stirnhaar rollte und kläglich mit den Pfoten schlug.

Endlich kam der Thierarzt. Er fand die ganze Familie im Hofe versammelt, Frau Hummel, noch im Nachtgewande, trug ihm eine Tasse Kaffe zu, er bedauerte trinkend und begann die Untersuchung. Der Ausspruch des Sachverständigen lautete auf Vergiftung. Die Section ergab genossene Klößchen mit Arsenik, und was Herrn Hummel noch tiefer kränkte, außerdem mit Glassplittern. Der Rothe gewährte bei alledem eine unsichere Hoffnung gerettet zu werden.

Das wurde der Familie Hummel ein finsterer Morgen. Herr Hummel setzte sich noch vor dem Frühstück an den Schreibtisch und verfaßte eine Anzeige für das Tageblatt, worin er zehn Thaler Belohnung für den Menschenfreund aussetzte, der ihm den tückischen Vergifter seiner Hunde angeben wollte. Die zehn Thaler unterstrich er dreimal mit Klecksen. Dann trat er an sein Fenster und sah grimmig hinüber nach dem Schlupfwinkel seines Gegners und nach dem chinesischen Tempel, der die Veranlassung des neuen Unfriedens geworden war. Und immer wieder wandte er sich zu seiner Frau und brummte auf und abgehend: »Mir ist der Fall nicht zweifelhaft.«

»Ich begreife dich nicht,« erwiederte die Gattin, welche an dem anstrengenden Morgen zum zweiten Mal ihr Frühstück einnahm, »und ich verstehe nicht, wie du deiner Sache sicher sein kannst. Es ist wahr, in den Leuten ist eine Art, welche uns immer wieder abstößt, und es mag ein Unglück sein, daß wir diese Nachbarschaft haben. Aber du kannst nicht behaupten, daß sie Hunde vergiften. Und ich kann mir nicht denken, daß die Hahn solche Einfälle hat. Ich gebe dir zu, sie ist eine gewöhnliche Frau, und der Doctor sagt, daß es Klößchen waren, was auf eine weibliche Hand schließen läßt. Aber als unser Rother bei den Krammetsvögeln getroffen wurde, die sie in der Küche hatte, hat sie mir den Hund nur mit einer Empfehlung zurückgeschickt, und es wäre nicht schön von ihm, er hätte drei Vögel gefressen. Das war in der Ordnung und ich kann darin keine Mordlust finden. Und er, du lieber Gott, er sieht mir auch nicht aus, als ob er in finsterer Mitternacht sich mit unseren Hunden zu thun machte.«

»Er ist tückisch,« grollte Herr Hummel, »aber du hast immer deine eigene Meinung von den Leuten gehabt. Er ist scheinheilig gegen mich gewesen von dem ersten Tage, wo er sich vor diesen Fenstern bei seinen Ziegeln aufstellte und mir den Rücken zukehrte. Und ich habe mich immer wieder von euch Weibern bewegen lassen, ihn als Nachbar zu behandeln mit Grüßen und Redensarten; und ich habe stillgeschwiegen, wenn ihr mit der Frau drüben euer Gewäsch getrieben habt.«

»Unser Gewäsch, Heinrich,« rief die Gattin und setzte ihre Kaffetasse klirrend hin. »Ich muß dich bitten, daß du nicht vergißt, was du mir schuldig bist.«

»Nun, es war nicht so böse gemeint,« räumte Herr Hummel ein, um den Sturm zu beschwichtigen, den er zur Unzeit heraufbeschworen hatte.

»Wie es gemeint war, mußt du wissen, ich halte mich an das, was ich höre; es zeigt wenig Gefühl, Hummel, daß du um eines toten Hundes willen deine Gattin und deine Tochter als Waschfrauen behandelst.«

Diese Auseinandersetzung trug noch mehr widerwärtiges Grau in die Stimmung des Morgens, förderte aber keineswegs die Entdeckung des Verbrechers. Es war vergebens, daß die Hausfrau, um den stöbernden Verdacht des Gatten von der Familie Hahn abzulenken, viele andere Vermuthungen aufstellte und mit Laura’s Hilfe wieder verwarf, gegen die eigenen Arbeiter, gegen den Nachtwächter, und daß sie zuletzt sogar den Markthelfer von drüben als möglichen Missethäter einräumte. Ach, die bürgerliche Stellung der Hunde war so trübselig gewesen, daß die Familie Hummel viel leichter die wenigen Menschen herzählen konnte, welche den Hunden nichts Böses anwünschten, als die vielen, welche Wunsch und Interesse hatten, die Scheusale zum Cocytus wandeln zu sehen. Denn wie Lauffeuer fuhr die Nachricht über die Straße, bei der Obstfrau an der Ecke war heut Versammlung wie auf der Börse, in den Kramläden standen die Leute und besprachen die Unthat, überall mitleidlos, feindselig, schadenfroh. Auch die äußeren Zeichen der Theilnahme, welche die Straße für schicklich hielt, verhüllten schlecht die herrschende Stimmung. Allerdings kamen die Mitfühlenden, zuerst Frau Knips, die Wäscherin, mit wortreicher Entrüstung; dann wagte sich sogar Knips der Jüngere bedauernd in die Nähe des Hauses, der Commis im feindlichen Geschäft, welcher zu den Feinden übergegangen war, aber nicht müde wurde, seinem früheren Lehrherrn gelegentliche Ehrfurcht und Fräulein Laura eine unbequeme Anbetung zu erweisen. Endlich kam ein Komiker der Stadtbühne, der häufig des Sonntags eingeladen wurde und dafür lustige Geschichten erzählte. Aber selbst diese wenigen Getreuen wurden von einzelnen Hausgenossen beargwöhnt. Der Familie Knips mißtraute Gabriel, den Commis verabscheute Laura, und der Komiker, sonst ein willkommener Gast, hatte einige Abende zuvor im Vorbeigehen leichtsinnig gegen einen Begleiter geäußert, daß es verdienstlich sein würde, diese Hunde von der Weltbühne zu entfernen. Heut war dieser unglückliche Einfall der Hausfrau hinterbracht worden, und er lag ihr schwer auf dem Herzen. Fünfzehn Jahre hatte sie gerade dieses Mannes Huldigung mit Wohlgefallen ertragen, viele Freundlichkeit, begeistertes Klatschen im Theater war ihm zu Theil geworden, der Sonntagsbraten und eingesottenen Früchte gar nicht zu gedenken; aber jetzt, wo der Mime bedauernd den Kopf senkte und sein Entsetzen aussprach, da wurde ihm sein Gesicht wegen langer Gewöhnung an komische Wirkungen so heuchlerisch verzogen, daß Frau Hummel aus den Zügen des geschätzten Mannes plötzlich einen Teufel herausgrinsen sah. Und ihre spitzen Bemerkungen über Judasse erschreckten wieder den Mimen, weil sie ihm die Gefahr offenbarten, sein bestes Haus zu verlieren, und je kläglicher er sich fühlte, desto zweideutiger wurde sein Ausdruck.

Während aller dieser Vorfälle hielt sich die Familie Hahn gänzlich zurück. Kein Zeichen von unschicklicher Freude, keines von unnatürlichem Mitgefühl drang ans den schweigenden Mauern. Nur am Nachmittag, als Frau Hummel, um sich zu erholen, ein wenig in die Luft ging, begegnete ihr die Nachbarin. Und Frau Hahn, welche sich seit jener Gartenscene im Unrecht fühlte, blieb stehen und sprach freundlich ihr Bedauern aus, daß Frau Hummel einen so unangenehmen Vorfall erlebt habe. Aber da klang doch die feindliche Stimmung und der Verdacht des Mannes aus der Antwort heraus, sehr kalt und abweisend sprach Frau Hummel, und auch die beiden Frauen schieden in feindseliger Stimmung.

Unterdeß saß Laura an ihrem Schreibtisch, sie besprach die Ereignisse des Tages in ihren geheimen Aufzeichnungen und dichtete mit leichtem Herzen die Schlußverse: »Sie sind dahin! von uns genommen ist der Fluch, und ausgetilgt der Flecken in des Schicksals Buch.« Diese Prophezeiung enthielt gerade soviel Wahrheit, als wenn sie nach dem ersten Scharmützel des trojanischen Krieges durch Kassandra in Hektors Stammbuch eingezeichnet worden wäre. Sie wurde durch endlose Gräuel der Folgezeit widerlegt.

Zunächst war Speihahn gar nicht dahin, sondern blieb am Leben. Aber der nächtliche Verrath übte auf Leib und Seele des Geschöpfes einen betrübenden Einfluß. Er war nie schön gewesen, jetzt wurde sein Leib mager, der Kopf dick und sein zottiges Fell struppig. Die Glassplitter, welche der kunstvolle Arzt aus seinem Magen entfernte, fuhren gewissermaßen in die Haare, daß diese borstig am ganzen Leibe starrten wie an einer Flaschenbürste; das gewundene Schwänzchen wurde kahl, nur an der Spitze bestand eine Haarquaste, daß es aussah wie ein verbogener Korkzieher mit einem Kork am Ende. Mit diesem Schwanze wedelte er selten, auch sein Kläffen hörte auf, bei der Nacht wie am Tage wandelte er schweigend, nur ausnahmsweise vernahm man ein dumpfes Knurren, das zu denken gab. Er kehrte in das Leben zurück, aber die sanfteren Gefühle in ihm waren erstorben, sein Charakter wurde menschenscheu und schwarze Hintergedanken sammelten sich in seinem Innern, Anhänglichkeit und Berufstreue wurden vermißt, statt ihrer erwiesen sich lauernde Heimtücke und allgemeine Rachsucht. Doch Herr Hummel beachtete diese Umwandlung nicht. Der Hund war das Opfer einer unerhörten Bosheit, welche ihn, den Hausbesitzer, schädigen wollte, und wäre er zehnmal häßlicher und menschenfeindlicher gewesen, Herr Hummel hätte ihn doch zu seinem Lieblinge gemacht. Er streichelte ihn und nahm es dem Hunde gar nicht übel, wenn dieser zum Danke nach den Fingern seines Herrn schnappte.

Während aus der neuen Brandstätte des Familienfriedens immer noch die Flämmchen sittlicher Entrüstung emporzüngelten, kehrte Fritz von seiner Reise zurück. In der ersten Stunde erzählte ihm die Mutter alle Vorgänge der jüngsten Zeit: das Glockenspiel, die Hunde, die neue Feindschaft. »Es war recht gut, daß du nicht hier warst. Hast du denn auch immer ein gutes Federbett gehabt? In den Gasthöfen sind sie jetzt mit den Decken gegen Fremde sehr rücksichtslos. Ich hoffe, auf dem Lande, wo sie die Gänse selbst ziehen, wird mehr Einsicht gewesen sein. Und wegen dieses neuen Zankes sprich mit dem Vater, thu, was du kannst, daß wieder Friede wird.«

Fritz hörte schweigend den Bericht der Mutter und sagte endlich begütigend: »Du weißt, es ist nicht das erste Mal, es geht vorüber.«

Diese Neuigkeiten trugen nicht dazu bei, den Doctor heiter zu stimmen. Er sah aus seiner Stube bekümmert nach dem Nachbarhause und den Fenstern des Freundes hinüber. Dort wurde wohl in Kurzem ein neuer Haushalt eingerichtet; konnte dann auch seine Freundschaft zum Professor von den Störungen betroffen werden, welche seit alter Zeit die beiden Häuser beschäftigten? Er ging daran, die Sammlungen seiner Reise zu ordnen, aber die Fußtapfen in der Höhle machten ihm heut eine unbehagliche Empfindung, und beim Hufschlag des wilden Jägers mußte er an die altklugen Worte Ilse’s denken: »es ist Alles Aberglaube.« Er legte die Hefte zusammen, ergriff den Hut und ging grübelnd und nicht gerade fröhlich gemuthet in den Stadtpark. Und als er wenige Schritte vor sich Laura Hummel auf demselben Wege dahinschweben sah, bog er seitwärts ab, um Niemandem aus diesem Hause zu begegnen.

Laura trug ein Körbchen mit Früchten zu ihrer Frau Pathe. Die alte Dame bewohnte eine Sommerwohnung im nahen Dorfe, zu welchem ein schattiger Fußweg durch den Park führte. Es war zu dieser Stunde einsam im Stadtwald, und nur die Vögel beobachteten, wie sorglos der kleine Mund des behenden Fräuleins lachte, und wie glücklich zwei schöne tiefblaue Augen in das Dickicht spähten. Aber obgleich Laura eilte, sie hatte doch vielen Aufenthalt. Zuerst fiel ihr ein, daß die Blätter einer Blutbuche ihrem braunen Filzhütchen gut stehen würden, sie brach einen Zweig, nahm den Hut ab und steckte die Blätter auf, und um sich darüber zu freuen, behielt sie den Hut in der Hand und legte zum Schutz gegen einzelne verwegene Lichtstrahlen ein Flortuch über den Kopf. Dann bewunderte sie das Parket von Goldgelb und Grau, welches die Sonne auf den Boden malte. Dann lief gar ein Eichhörnchen über den Weg, fuhr blitzschnell an einem Baum hinauf und duckte sich in die Zweige, und Laura sah zu ihm empor und erkannte seine reizenden Ohrbüschel hinter dem Laub, und sie träumte sich selbst auf die Höhe des Baumes mitten unter Laub und Früchte, schaukelte auf den Zweigen, schwang sich von einem Ast auf den andern und machte zuletzt einen Spaziergang auf den Gipfeln wie auf grünen Hügeln hoch in der Luft über die flatternden Blätter. Als sie dem Wasser nahekam, das auf der andern Wegseite floß, erlebte sie, daß eine große Gesellschaft Frösche, welche am Uferrande in der Sonne saß, wie auf Kommando mit großem Satze ins Wasser sprang, sie lief hinzu und sah mit Erstaunen, daß die Frösche im Wasser weit anders aussahen als auf dem Lande, gar nicht wie Klötze, sondern daß sie dahinfuhren wie kleine Herren mit Bäuchlein und dicken Hälsen, aber langen Beinchen, welche tapfer ausgreifen. Und da ein großer Frosch auf sie zusteuerte und seinen Kopf gegen sie aus dem Wasser hob, fuhr sie zurück, schämte sich einen Augenblick, daß sie seiner Schwimmkunst zugesehen hatte, und lachte dann über sich selbst. So zog sie durch den Wald, selbst ein Sommervogel, leicht beschwingt und in Frieden mit aller Welt.

Aber hinter ihr schritt ihr Schicksal. Speihahn nämlich hatte von seinem gewöhnlichen Platz an der steinernen Freitreppe ihr Beginnen nicht unbemerkt gelassen. Unter den wilden Haaren, die wie ein Schnurrbart über seine Augen hingen, war etwas aufgedämmert, er hatte ihr nachgeschielt, sich endlich aufgemacht und trottete jetzt schweigend hinter ihr her, ungerührt durch Sonnenstrahl, Fruchtkorb und das rothe Kopftuch seiner jungen Herrin. Mitten zwischen Stadt und Dorf stieg der Weg aus dem Thalgrunde und seinen Bäumen zu einer kahlen Ebene, auf welcher die Kriegsmacht der Stadt zuweilen ihre Uebungen hielt, in den friedlichen Stunden ein Schäfer die Herde weidete: der Pfad lief schräg über die offene Fläche dem Dorfe zu. Laura hielt auf der Höhe an und bewunderte die fernen Wollträger und den braunen Schäfer, der mit seinem großen Hut und Hakenstock sehr hübsch aussah. Schon war sie über die Herde hinausgekommen, da hörte sie hinter sich Gebell und drohendes Geschrei, sie wandte sich um und sah die friedliche Gemeinde in wildem Aufruhr. Die Schafe stoben auseinander, einige rannten kopflos in die Weite, andere lagen zusammengeballt in einem Quergraben, die Schäferhunde bellten, der Schäfer und sein Knabe liefen mit gehobenen Stöcken um den verstörten Haufen. Aber während Laura erstaunt in das Getümmel sah, wurde sie selbst davon umringt, der Schäfer und sein Junge sprangen auf sie zu, zwei große Schäferhunde folgten dem hetzenden Zuruf, sie fühlte sich von rauher Männerhand angepackt, das zornige Gesicht des Schäfers und sein Hakenstock bewegten sich dicht vor ihren Augen. »Ihr Hund hat mir die Herde auseinandergejagt, ich fordere Strafe und Zahlung.« Erstarrt und leichenblaß griff Laura nach ihrem Geldtäschchen, kaum vermochte sie zu bitten: »ich habe ja keinen Hund, lassen Sie mich los, lieber Schäfer.« Doch der Mann schüttelte wild ihren Arm, zwei riesige schwarze Thiere sprangen an ihr hinauf und schnappten nach ihrem Tuche. »Es ist Ihr Hund, und ich kenne das rothe Biest,« schrie der Schäfer.

Das war kein Irrthum. Speihahn hatte nämlich ebenfalls die Schafherde beobachtet und seinen ruchlosen Plan geschmiedet. Plötzlich war er mit heiserem Gekläff auf ein Schaf zugesprungen und hatte es heftig ins Bein gebissen. Darauf Flucht der Herde, Zusammenstürzen des Haufens, Speihahn mitten darunter, kläffend, kratzend, beißend, dann linksab einen trockenen Graben entlang, den Abhang zum Walde hinunter in das dichteste Gesträuch. Jetzt trabte er in Sicherheit nach Hause zurück, die Zähne fletschend, mit verworrenem Schnurrbart, und ließ sein Fräulein unter der Faust des Schäfers vergehen, der seinen Hakenstock noch immer über ihr schwenkte.

»Lassen Sie das Fräulein los!« rief die erzürnte Stimme eines Mannes. Fritz Hahn sprang herzu, stieß den Arm des Schäfers zurück und fing Laura, der die Sinne schwanden, in seinen Armen auf.

Das Dazwischentreten eines Dritten zwang den Schäfer zu neuer Anklage, deren Schluß war, daß er wieder in auflodernder Hitze das Mädchen anfassen wollte und daß seine Hunde gegen den Doctor heranfuhren. Aber tief empört gebot Fritz: »Sie halten die Hunde zurück und benehmen sich manierlicher, oder ich veranlasse, daß Sie selbst bestraft werden. Hat ein fremdes Thier Ihrer Herde Schaden gethan, so soll eine billige Entschädigung gezahlt werden, ich bin bereit, Ihnen oder dem Besitzer der Schafherde dafür zu bürgen.«

So rief er und hielt Laura fest im Arme, ihr Kopf lag auf seiner Schulter und das rothe Tuch hing über seine Weste bis auf das Herz hinab. »Fassen Sie sich, liebes Fräulein,« bat er herzlich besorgt. Laura erhob ihr Haupt, blickte furchsam auf das Angesicht, welches sich von Menschenliebe und Mitgefühl geröthet über sie beugte und erkannte mit Schrecken ihre Lage. Furchtbares Schicksal! Wieder er, zum dritten Male er, der unvermeidliche Beschützer und Retter! Sie entwand sich ihm und sagte mit schwacher Stimme: »Ich danke Ihnen, Herr Doctor, ich vermag allein zu gehen.«

»Nein, ich verlasse Sie nicht so,« rief Fritz und verhandelte mit dem Schäfer, der unterdeß die beiden Opfer des mörderischen Hundes herzugeholt und als Beweise der verübten Missethat niedergelegt hatte. Fritz griff in seine Tasche, reichte dem Schäfer ein Aufgeld zu der gebotenen Entschädigung, nannte seinen Namen und besprach mit dem Manne, der nach Anblick des Geldes ruhiger wurde, eine Zusammenkunft.

»Bitte geben Sie mir den Arm,« wandte er sich ritterlich zu Laura.

»Ich kann das nicht annehmen,« erwiederte das betäubte Mädchen, der großen Feindschaft eingedenk.

»Es ist nur Menschenpflicht,« begütigte Fritz, »Sie sind zu angegriffen, um allein zu gehen.«

»Dann bitte ich Sie, mich zu meiner Frau Pathe zu geleiten, es ist am nächsten dorthin.«

Fritz nahm ihr das Körbchen ab und las die herausgefallenen Früchte zusammen, darauf führte er sie dem Dorfe zu. »Vor dem Manne hätte ich mich nicht so sehr gefürchtet,« klagte Laura, »aber die schwarzen Thiere waren so furchtbar.« Dabei hielt sie ihren Arm schwebend in dem seinen, denn jetzt, wo der Schrecken verflog, fühlte sie das Peinliche ihrer Lage, ach, mit Gewissensbissen! Denn sie hatte erst heute früh die Reisetoilette des heimkehrenden Doctors unausstehlich gefunden. Nun war allerdings Fritz kein Mann, dessen Unausstehlichkeit lange vorhielt. Er war voll Zartgefühl und Sorge um sie, strebte ihr jede Unebenheit des Weges zu ersparen, streckte im Gehen seinen Fuß aus und stieß kleine Steine weg. Er begann ein gleichgültiges Gespräch über die Frau Pathe, wobei sie erzählen mußte und auf andere Gedanken kommen konnte. Darüber ergab sich, daß er selbst die Pathe recht hochschätzte, ja, sie hatte ihm einst, als er noch Schulknabe war, einen Kirschkuchen geschenkt und er dafür an ihrem Geburtstage ein Gedicht verfertigt. Ueber das Wort Gedicht erstaunte Laura. Also dort drüben konnte man das auch? Allein der Doctor sprach sehr rücksichtslos von den erhebenden Schöpfungen glücklicher Stunden. Und als sie ihn frug: »Sie haben auch gedichtet?« und er lachend erwiederte: »nur für’s Haus, wie Jedermann,« da fühlte sie sich durch seine kalte Nichtachtung der Poesie recht gedrückt. Es war jedenfalls ein Unterschied zwischen Vers und Vers, bei Hahns thaten sie das um Kirschkuchen. Aber gleich darauf tadelte sie sich wegen unziemlicher Gedanken gegen ihren Wohlthäter. Und sie wandte sich freundlich zu ihm und sprach von ihrer Freude über das heutige Eichhorn im Walde. Denn sie hatte früher einmal ein solches Thier von einem Straßenjungen gekauft und ins Freie gesetzt, das Thierchen war zweimal vom Baume wieder auf ihre Schultern gesprungen, sie war endlich mit Thränen weggelaufen, damit das Kleine in seinem Walde bleiben müsse. Und wenn sie jetzt ein Eichhorn sehe, sei ihr immer, als gehöre es ihr zu, und sie täuschte sich gewiß, aber die Eichhörner schienen ihr dieselbe Ansicht zu hegen. Diese Geschichte führte zu der merkwürdigen Entdeckung, daß der Doctor ganz ähnliche Erlebnisse mit einer kleinen Eule gehabt hatte, er machte der Eule nach, wie sie immer mit dem Kopfe nickte, wenn er ihr das Fressen brachte, und dabei sahen seine Brillengläser ganz wie Eulenaugen aus, und Laura konnte das Lachen nicht verbergen.