Nur auf LitRes lesen

Das Buch kann nicht als Datei heruntergeladen werden, kann aber in unserer App oder online auf der Website gelesen werden.

Buch lesen: «Die verlorene Handschrift», Seite 11

Schriftart:

»Diese Stimmung begreife ich,« erwiederte der Professor. »Denn wo die Menschen ihren Willen durchzusetzen streben gegen ihr Volk und gegen ihre Zeit, werden sie am Ende fast immer als die Schwächeren widerlegt; auch was der Stärkste etwa siegreich durchsetzt, hat keinen ewigen Bestand. Und wie die Menschen und ihre Werke, vergehen auch die Völker. Aber wir sollen nicht an die Schicksale eines einzelnen Mannes oder Volkes unser Herz hängen, sondern wir sollen verstehen, wodurch sie groß wurden und untergingen, und welches der bleibende Gewinn war, welcher dem Menschengeschlecht durch ihr Leben erhalten wurde. Dann wird der Bericht über ihre Schicksale nur wie eine Hülle, hinter welcher wir die Thätigkeit anderer lebendiger Kräfte erkennen. Denn wir errathen, daß in den Menschen, welche zerbrechen, und in den Völkern, welche zerrinnen, noch ein höheres geheimes Leben waltet, welches nach ewigen Gesetzen schaffend und zerstörend dauert. Und einige Gesetze dieses höhern Lebens zu erkennen und den Segen zu empfinden, welchen dies Schaffen und Zerstören in unser Dasein gebracht hat, das ist Aufgabe und Stolz des Geschichtsforschers. Von diesem Standpunkt verwandelt sich Auflösung und Verderben in neues Leben. Und wer sich gewöhnt, die Vergangenheit so zu betrachten, dem vermehrt sie die Sicherheit, und sie erhebt ihm das Herz.«

Ilse schüttelte das Haupt und sah vor sich nieder. »Der römische Mann, dessen verlorenes Buch Sie zu uns geführt hat, und von dem heut wieder die Rede war, ist er Ihnen deshalb lieb, weil er die Welt ebenso freudig angesehen hat wie Sie?«

»Nein,« versetzte der Professor, »gerade das Gegentheil macht uns seine Arbeit beweglich. Sein ernster Geist wurde niemals durch fröhliche Zuversicht gehoben. Das Schicksal seines Volkes, die Zukunft der Menschen liegt ihm als ein unheimliches Räthsel schwer auf der Seele, in der Vergangenheit erblickt er eine bessere Zeit, freieres Regieren, stärkere Charaktere, reinere Sitten, er erkennt an seinem Volke und im Staat einen Verfall, der selbst durch gute Regenten nicht mehr aufzuhalten ist. Es ist ergreifend, wie der besonnene Mann zweifelt, ob dies furchtbare Schicksal von Millionen eine Strafe der Gottheit ist, oder die Folge davon, daß kein Gott sich um das Loos der Sterblichen kümmert. Ahnungsvoll und ironisch betrachtet er die Geschicke der Einzelnen, die beste Weisheit ist ihm, das Unvermeidliche schweigend und duldend ertragen. Daß er in eine trostlose Oede starrt, erkennt man auch dann, wenn ihm einmal ein kurzes Lächeln die Lippen bewegt; man meint zu sehen, daß um sein Auge doch die Furcht hängt und der starre Ausdruck, welcher dem Menschen bleibt, den einmal tötliches Grauen geschüttelt.«

»Das ist traurig,« rief Ilse.

»Ja, es ist fürchterlich. Und wir begreifen schwer, wie man bei solcher Trostlosigkeit das Leben ertrug. Die Freude, unter einem Volke mit aufsteigender Kraft zu leben, hatte damals nicht der Heide, nicht der Christ. Denn das ist doch das höchste und unzerstörbare Glück des Menschen, wenn er vertrauend auf das Werdende, mit Hoffnung auf das Zukünftige blicken kann. Und so leben wir. Viel Schwaches, viel Verdorbenes und Absterbendes umgibt uns, aber dazwischen wächst eine unendliche Fülle von junger Kraft herauf. Wurzeln und Stamm unseres Volkslebens sind gesund. Innigkeit in der Familie, Ehrfurcht vor Sitte und Recht, harte, aber tüchtige Arbeit, kräftige Rührigkeit auf jedem Gebiet. In vielen Tausenden das Bewußtsein, daß sie ihre Volkskraft steigern, in Millionen, die noch zurückgeblieben sind, die Empfindung, daß auch sie zu ringen haben nach unserer Bildung. Das ist uns Modernen Freude und Ehre, das hilft wacker und stolz machen. Und wir wissen wohl, die frohe Empfindung dieses Besitzes kann auch uns einmal getrübt werden, denn jeder Nation kommen zeitweise Störungen ihrer Entwicklung, aber das Gedeihen ist nicht zu ertöten und nicht auf die Dauer zurückzuhalten, solange diese letzten Bürgschaften der Kraft und Gesundheit vorhanden sind. Deshalb ist jetzt auch glücklich, wer den Beruf hat, längst Vergangenes zu durchsuchen, denn er blickt von der gesunden Luft der Höhe hinab in die dunkle Tiefe.«

Ilse sah hingerissen in das Antlitz des Mannes; er aber bog sich über die Garbe, welche zwischen ihm und ihr lehnte, und fuhr begeistert fort: »Jeder von uns holt aus dem Kreise seiner persönlichen Erfahrungen Urtheil und Stimmung, welche er bei Betrachtung großer Weltverhältnisse verwendet. Blicken Sie um sich her auf die lachende Sommerlandschaft, dort in der Ferne auf die thätigen Menschen, und was Ihrem Herzen näher liegt, auf Ihr eigenes Haus und den Kreis, in dem Sie aufgewachsen sind. So mild das Licht, so warm das Herz, verständig, gut und treu der Sinn der Menschen, die Sie umgeben. Und denken Sie, welchen Werth auch für mich hat, das zu sehen und an Ihrer Seite zu genießen. Und wenn ich über meinen Büchern recht innig empfinde, wie wacker und tüchtig das Leben meines Volkes ist, welches mich umgibt, so werde ich fortan auch Ihnen zu danken haben.« Er streckte seine Hand aus über die Garben, Ilse faßte sie, hielt sie mit beiden Händen fest, und eine warme Thräne fiel darauf. So sah sie mit feuchten Augen zu ihm hin, eine ganze Welt von Seligkeit lag in ihrem Antlitz. Allmählich ergoß sich ein helles Roth über ihre Wangen, sie stand auf, noch ein Blick voll hingebender Zärtlichkeit fiel auf ihn, dann schritt sie flüchtig von ihm abwärts, den Rain entlang.

Der Professor blieb stehen, an die Garben gelehnt. Auf der Spitze der Aehre über seinem Haupte zwitscherte fröhlich die Haidelerche, er drückte seine Wange an die Getreidebüschel, welche ihn halb verbargen. So sah er in seliger Vergessenheit dem Mädchen nach, das zu den fernen Arbeitern hinabstieg.

Als er die Augen erhob, stand ihm der Freund zur Seite, er schaute ein Antlitz, in welchem inniges Mitgefühl zuckte, und hörte die leise Frage: »Und was soll werden?«

»Mann und Weib,« sprach der Professor stark, drückte dem Freunde die Hand und schritt über das Feld dem Ruf der Lerche nach, welche auf jeder Garbenspitze anhielt, ihn zu erwarten.

Fritz war allein. Das Wort war gesprochen, ein neues ungeheures Schicksal erhob sich über das Leben des Freundes. Also dies sollte das Ende sein? Thusnelda statt des Tacitus? – Ach, die sociale Erfindung der Ehe war sehr ehrwürdig, das empfand Fritz tief, es war fast allen Menschen unvermeidlich, die aufwühlenden Kämpfe durchzumachen, welche eine Veränderung der gesammten Lebensordnung zur Folge haben. Aber den Freund konnte er sich gar nicht denken unter den Büchern, mit den Collegen, und dazu diese Frau! Schmerzlich fühlte er, daß auch sein Verhältniß zu dem Gelehrten dadurch geändert werden mußte. – Aber er dachte nicht lange an sich selbst, mißtrauisch, ängstlich sorgte er um den Waghalsigen. Und nicht weniger um sie, die so gefährlich in die Seele des Andern eingedrungen war. – Und der Treue sah zornig in die Runde auf Stoppeln und Strohhalme, und er ballte eine Faust gegen den seligen Bachhuber, gegen das Thal von Rossau, ja auch gegen sie, die letzte Ursache der heillosen Verwirrung – gegen die Handschrift des Tacitus.

9.
Ilse

Ilse hatte in großer Wirtschaft gleichmäßig dahingelebt, seit dem Tod der Mutter hatte sie, kaum erwachsen, dem Haushalt des Gutes vorgestanden, angestrengt und pflichtgetreu wie ein Beamter ihres Vaters; der Frühling kam und der Herbst, ein Jahr rollte wie das andere über ihr Haupt; der Vater, die Geschwister, das Gut, die Arbeiter und die Armen des Thales, das war ihr Leben. Mehr als einmal hatte sich beim Vater ein Freier gemeldet, ein derber tüchtiger Landwirth aus der Umgegend, sie aber hatte sich zufrieden gefühlt in dem Amt des Hauses, und sie wußte, daß dem Vater lieb war, wenn er sie bei sich behielt. Des Abends, wenn der thätige Mann auf dem Sopha ausruhte und die Kinder zu Bett geschickt waren, saß sie still mit ihrer Stickerei neben ihm oder besprach die kleinen Vorgänge des Tages, die Krankheit eines Arbeiters, den Schaden eines Hagelschauers, den Namen der neuen Milchkuh, die angebunden wurde. Es war eine einsame Gegend, viel Wald, meist kleine Güter, keine reiche Geselligkeit, und der Vater, der sich durch angestrengte Thätigkeit zum wohlhabenden Manne heraufgearbeitet hatte, war kein Freund großer Gesellschaften, die Tochter auch nicht. Am Sonntage kam wohl der Herr Pastor zu Tische, die Beamten des Vaters blieben dann über den Kaffe und erzählten kleine Geschichten aus der Umgegend, die Kinder, welche in der Woche durch den Seminaristen gebändigt wurden, lärmten durch Garten und Flur. Und wenn Ilse eine freie Stunde hatte, setzte sie sich in ihr Stübchen mit einem Buche aus der kleinen Sammlung des Vaters, einem Roman von Walter Scott, einer Erzählung von Hauff, einem Bande von Schiller.

Jetzt aber war mit dem fremden Manne eine Fülle von Bildern, Gedanken, Gefühlen in ihrer Seele aufgegangen. Vieles, was sie bis dahin gleichmüthig aus der Ferne betrachtet hatte, wurde ihr auf einmal nah vor die Augen gerückt. Wie künstliches Feuer, welches unerwartet aufsprühend einzelne Stellen der dunklen Landschaft mit buntem Schein erleuchtet, gab ihr seine Rede bald hier bald dort einen fesselnden Blick auf fremdes Leben. Wenn er sprach und die Worte so reich, gewählt und vornehm aus seinem Innern quollen, dann neigte sie das Haupt anfänglich vorwärts, wie im Traum, bis zuletzt ihr Blick an seinen Lippen und Augen festhing. Denn sie fühlte eine Ehrfurcht, bei welcher Schrecken war, vor einem Menschengeiste, der so hoch und sicher über der Erde schwebte. Von vergangenen Zeiten sprach er wie von der Gegenwart, die geheimen Gedanken der Menschen, welche vor Jahrtausenden lebendig gewesen waren, wußte er zu erklären. Ach, sie empfand die Herrlichkeit und Größe menschlicher Wissenschaft als Verdienst und Größe des Einen, der ihr gegenüber saß, und die geistige Arbeit vieler Jahrhunderte erschien ihr wie ein überirdisches Wesen, das mit menschlichem Munde in ihrem Hause Unerhörtes verkündete.

Aber es war nicht das Wissen allein. Wenn sie wie aus der Tiefe den Blick zu ihm erhob, sah sie ein strahlendes Auge, den freundlichen Zug um die beredten Lippen, und sie fühlte sich unwiderstehlich zu dem warmen Leben des Mannes gezogen. Dann saß sie ihm als stille Hörerin gegenüber. Wenn sie aber in ihr Zimmer trat, kniete sie nieder und verbarg das Antlitz in ihren Händen, sie sah ihn dann vor sich und brachte ihm in der Einsamkeit ihre Huldigung dar.

So erwachte sie zum Leben. Es war eine Zeit der reinen Begeisterung, eines selbstlosen Entzückens, das der Mann nicht kennt und das nur dem Weibe wird, einem reinen, unwissenden Herzen, dem plötzlich bei gereifter Kraft das Größte des Erdenlebens die empfängliche Seele einnimmt.

Und sie sah, daß ihr Vater in seiner Art unter dem Einfluß desselben Zaubers stand. Am Mittagstisch, der sonst so schweigsam war, floß jetzt die Unterhaltung wie aus lebendigem Born, an den Abenden, wo er sonst müde über der Zeitung gesessen hatte, wurde das Gespräch zuweilen bis auf die erste Nachtstunde hinausgezogen, Vieles wurde erörtert, oft wurde gestritten, immer war der Vater, wenn er seinen Nachtleuchter vom Tische nahm, in heiterer Stimmung, mehr als einmal wiederholte er auf und ab gehend noch sich selbst einzelne Reden des Gastfreundes. »Er ist in seiner Art ein ganzer Mann,« sagte er, »Alles sicher und fest gefügt, man weiß immer, wie man mit ihm dran ist.«

Einigemal ängstigte sie, was er aussprach. Zwar vermieden die Freunde, was die innige Gläubigkeit der Hörerin verletzen konnte, aber aus den Reden des Professors klang zuweilen eine fremdartige Auffassung ehrwürdiger Lehre und der menschlichen Pflichten heraus. Und doch war wieder so edel und gut, was er behauptete, daß sie sich dagegen mit ihren Gedanken nicht zu wehren wußte.

Er war oft heftig in seinen Ausdrücken; wo er verurtheilte, that er das mit starken Worten, auch im Gespräch brach er wohl heraus, daß der Doctor und sogar der Vater zurückwichen. Und sie ahnte, daß in seinem Haupte sich die Welt anders darstellte als bei den meisten Menschen, stolzer, edler, entschiedner. Und wenn er von Andern viel verlangte, wie Einem natürlich ist, der mehr mit abgeschlossenen Bildungen als mit dem werdenden Leben verkehrt, da wurde ihr wohl bange, wie man vor seinen Augen bestehen könne. Aber derselbe Mann war wieder so bereit, alles Gute anzuerkennen, und er freute sich wie ein Kind, wenn er erfuhr, daß sich Jemand brav und stark erwiesen hatte.

Er war ein ernster Mann, und doch war er Liebling der Kinder geworden, fast noch mehr als der Doctor. Sie vertrauten ihm ihre kleinen Geheimnisse, er besuchte sie in der Kinderstube und gab ihnen nach Jugenderinnerungen Anweisung, wie sie einen großen Papierdrachen machen sollten, er malte selbst die Augen und den Schnurrbart und schnitt die Quaste des Schwanzes, und ein froher Tag war’s, als der Drache das erste Mal auf dem neuen Stoppelfelde aufstieg. Wenn der Abend kam, dann saß er, von den Kindern umgeben, wie ein Rebhuhn unter den Küchlein, Franz kletterte auf die Stuhllehne und zauste an seinem Haar, an jedem Knie lehnte eines der Größern; dann wurden Räthsel aufgegeben und Geschichten erzählt, und wenn Ilse zuhörte, wie er mit den Kindern kleine Reime nachsprach und lehrte, dann schwoll ihr das Herz vor Freude, daß ein solcher Geist so zutraulich mit der Einfalt verkehren konnte, dann spähte sie in sein Antlitz und sah hinter den festen Zügen des Mannes ein Kindergesicht herausleuchten, lachend und glücklich, und sie konnte sich ihn denken, wie er selber ein kleiner Bube gewesen war, der auf dem Schoße seiner Mutter saß. – Glückliche Mutter!

Da kam die Stunde unter den Garben, die gelehrte Unterredung, welche mit Tacitus anfing und mit einem stummen Bekenntniß der Liebe endigte. Die selige Heiterkeit seines Angesichts, der bebende Klang seiner Stimme hatten den dünnen Schleier zerrissen, der ihr das eigene wogende Gefühl barg. Sie wußte jetzt, daß sie ihn liebte, heiß und unendlich, und sie ahnte, daß er empfand, wie sie selbst. Der ihr so groß gegenüberstand, er hatte sich zu ihr herabgeneigt, sie hatte seinen warmen Athem, den schnellen Druck seiner Hand gefühlt. Als sie dahinging durch das Feld, strömte ihr die Glut in die Wangen, und was sie umgab, Erde und Himmel, Flur und sonniger Waldessaum, das floß vor ihr in leuchtende Wolken zusammen. Mit beflügeltem Fuß eilte sie hinab in den Waldgrund, wo das Baumlaub sie umhüllte. Jetzt erst fühlte sie sich allein, und ohne es zu wissen, faßte sie einen schlanken Birkenstamm und schüttelte ihn mit voller Kraft, daß der Baum laut rauschte und seine Blätter auf sie herabstreute. Und sie hob die Hände zu dem goldenen Licht des Himmels und warf sich nieder auf den Moosgrund. In heftigen Athemzügen hob sich ihre Brust und die kräftigen Glieder zuckten von der inneren Erregung. Wie vom Himmel herab war die Leidenschaft in das junge Weib gesunken und faßte ihr Leib und Seele mit unwiderstehlicher Gewalt.

Lange lag sie so, braune Sommerfalter spielten ihr um das Haar, eine kleine Eidechse fuhr ihr über die Hand, weiße Dolden der Waldblumen und die Zweige der Hasel neigten sich über sie, als wollten die kleinen Kinder der Natur das heiße Leben der Schwester verdecken, welche zu ihnen gekommen war in dem seligsten Schreck ihres Lebens.

Endlich hob sie sich auf die Knie, schlug die Hände zusammen, sie dankte dem lieben Gott für ihn und bat für ihn.

Gesammelt trat sie in das offene Thal, nicht mehr das ruhige Mädchen von sonst, ihr eigenes Leben und was sie umgab, glänzte in neuen Farben, und ein neues Fühlen fand sie in der Welt. Sie verstand die Sprache des Schwalbenpaares, welches um sie kreiste und mit zwitscherndem Ton pfeilschnell an ihr vorüberfuhr. Es war die wonnige Freude am Leben, welche den kleinen Leib durch die Luft schnellte, und was die Vögel zu ihr sprachen, war ein schwesterlicher Jubelruf. Sie antwortete auf den Gruß der Arbeiter, welche vom Felde heimgingen, und sie sah auf eine der Frauen, welche die Garben angelegt hatte, und wußte genau, wie ihr zu Muthe war. Auch die Frau hatte als Mädchen einen fremden Burschen geliebt, es war eine lange unglückliche Neigung gewesen mit vielen Schmerzen, jetzt aber ging sie getröstet neben ihm nach Hause, und als sie mit ihrer Herrin sprach, sah sie stolz auf ihren Begleiter. Und Ilse fühlte, wie glücklich die arme ermüdete Frau war. Und als Ilse in den Hof trat und die Stimme der Mägde hörte, welche vergebens auf sie gewartet hatten, und das ungeduldige Brummen der Rinder, das wie ein Vorwurf an die säumige Herrin klang, da schüttelte sie leise das Haupt, als wenn die Mahnung nicht mehr ihr gelte, sondern einer andern.

Als sie wieder aus den Wirthschaftsräumen in das goldene Abendlicht trat, mit beflügeltem Schritt, das Haupt gehoben, sah sie erstaunt den Vater neben seinem Reitpferd stehen, bereit zum Aufsitzen, und vor ihm in ruhigem Gespräch den Doctor und den Mann, welchem entgegenzutreten sie in diesem Augenblicke verlegen scheute. Sie näherte sich zögernd. »Wo säumst du, Ilse,« rief der Landwirth, »ich muß fort,« und, in das bewegte Gesicht der Tochter blickend, setzte er hinzu, »es ist nichts Großes. Ein Brief des kranken Oberförsters ruft mich in das Forsthaus, es ist einer von den Hofleuten angekommen, und ich kann mir denken, was sie von mir wollen. Ich hoffe zur Nacht zurück zu sein.« Und dem Doctor nickte er zu: »Wir sehen uns noch vor Ihrer Abreise.« Er trabte dahin und Ilse dankte im Herzen der neuen Botschaft, die ihr leichter machte, ruhige Worte mit den Freunden zu sprechen. Sie folgte neben ihnen dem Wege, auf dem der Vater dahinritt, und bemühte sich, in gleichgültigem Gespräch die Unruhe zu verbergen. Und sie erzählte von dem Jagdschloß im Walde und von der Einsamkeit, in welcher der greise Oberförster unter den Buchen des Forstes hause. Aber es war doch eine spärliche Rede, jedes der ehrlichen Herzen war mächtig bewegt, der Professor und Ilse vermieden einander in die Augen zu blicken, auch dem Freunde gelang nicht, durch leichte Scherze die Leidenschaftlichen in das kleine Treiben dieser Welt herab zu ziehen.

Da wies Ilse plötzlich mit der Hand auf einen Hohlweg zur Seite, aus welchem mehre schwarze Köpfe auftauchten. »Sehen Sie dort die Indianer der Frau Oberamtmann.« In schnellem Schritt zog eine Reihe wilder Gestalten, eine hinter der andern; voran ein kräftiger Mann in braunem Kittel und verschossenem Hut, einen dicken Stab in der Hand; hinter ihm zwei jüngere Männer, ein bepacktes kleines Pferd führend, auf dem ein Affe in rother Jacke saß; dann Weiber mit Kindern auf dem Rücken; um den Trupp liefen halbnackte Buben und Mädchen, lange schwarze Haare hingen ihnen um die braunen Gesichter und die wilden Augen starrten schon aus der Ferne gierig auf die Spaziergänger.

»Wenn der Herbst kommt, streicht zuweilen das bettelnde Volk durch unser Land, es sind Gaukler, die zu Kirmes und Vogelschießen ziehen, aber seit einigen Jahren haben sie sich nicht in die Nähe des Guts gewagt.«

Der Trupp nahte, aus dem Trott wurde stürmisches Laufen, im Augenblick waren die Freunde von sechs bis acht dunklen Gestalten umringt, welche mit leidenschaftlicher Geberde drängten und laut schreiend die Hände ausstreckten, Männer, Weiber, Kinder im Getümmel durcheinander. Erstaunt sahen die Freunde in die blitzenden Augen, die heftigen Bewegungen und auf die Kinder, welche mit den Füßen stampften und mit ihren Händen den Leib der Fremden betasteten wie Wahnsinnige.

»Zurück, ihr Wilden,« rief Ilse, drang durch die Bande und stellte sich vor die Freunde. »Zurück, wer spricht für den Haufen?« wiederholte sie unwillig und hob gebietend den Arm. Der Lärm verstummte, ein braunes Weib, nicht kleiner als Ilse, das glänzende Haar in Flechten gebunden und mit einem bunten Kopftuch umschlungen, trat aus der Schaar und streckte die Hand gegen Ilse aus: »Meine Kinder bitten,« sagte sie, »sie hungern und dürsten.« Es war ein großes Antlitz mit scharfen Zügen, in denen noch die Spuren früherer Schönheit sichtbar waren. Mit vorgebeugtem Kopf stand sie der Jungfrau gegenüber und ihre funkelnden Augen fuhren spähend von einem Antlitz auf das andere.

»Geld haben wir nur für die Menschen, welche uns arbeiten,« antwortete Ilse kalt. »Für den Fremden, der dürstet, ist unser Quell, und dem Hungernden geben wir von unserm Brot, Sie erhalten nichts weiter aus unserm Hause.«

Wieder hob sich ein halbes Dutzend Arme und wieder drängte der wilde Haufe heran. Die Führerin trieb ihn durch einen Ruf in fremder Sprache zurück. »Wir wollen dir arbeiten, Fräulein,« sagte sie in geläufiger Phrase mit gebildetem Accent, »die Männer bessern altes Geräth, wir scheuchen dir Maus und Ratte aus den Mauern, hast du ein krankes Pferd, wir heilen es schnell.«

Ilse bewegte verneinend das Haupt. »Eurer Hilfe bedürfen wir nicht. Sprechen Sie zu mir ohne Gaukelei, wie man zu ordentlichen Leuten redet, ich weiß wohl, daß Sie das recht gut können, wenn Sie wollen. Wo ist euer Passierschein?«

»Wir haben keinen,« sagte die Frau, »wir kommen weit aus der Fremde.« Sie wies nach der aufgehenden Sonne.

»Und wo wollen Sie zur Nacht rasten?« frug Ilse.

»Wir wissen es nicht. Die Sonne will untergehen, und meine Leute sind müde und barfuß,« versetzte die Fremde.

»Sie dürfen nicht nahe am Hofe und nicht nahe bei den Dorfhäusern lagern. Die Brote erhalten Sie am Hofthor, dorthin schickt Jemanden, der sie abholt. Und wenn ihr ein Feuer anzündet auf unserer Flur, so hütet euch, den Garben nahe zu kommen, wir werden auf euch Acht geben. Und Niemand schleicht auf das Gut und in das Dorf, den Leuten wahrzusagen, das leiden wir nicht.«

»Wir sagen nicht wahr,« antwortete die Frau und berührte mit der Hand ein kleines schwarzes Kreuz, welches sie am Halse trug. »Die Zukunft kennt hier unten Keiner, auch wir wissen nichts davon.«

Ilse neigte ehrerbietig das Haupt. »Gut,« sagte sie, »wie auch der Sinn ist, welchen Sie hinter Ihren Worten bergen, Sie sollen mich nicht umsonst an die Gemeinschaft gemahnt haben, die zwischen uns ist. Kommen Sie selbst an das Thor, Mutter, und erwarten Sie mich dort. Brauchen Sie etwas für die Kleinen, so will ich zu helfen suchen.«

»Wir haben ein krankes Kind, schönes Fräulein, und dem Buben fehlen die Kleider,« bat die Landfahrerin, »ich komme, und meine Leute werden thun, wie Sie wollen.« Sie gab ein Zeichen und der wilde Zug trabte gehorsam einen Seitenweg entlang, der dem kleinen Dorfe zuführte. Die Freunde sahen der Bande neugierig nach.

»Daß solche Scene in diesem Lande möglich wäre, hätte ich nie geglaubt,« rief der Doctor.

»Sie waren früher bei uns eine Landplage,« versetzte Ilse gleichmüthig. »Sie stammen von Zigeunerart. Ein Landesherr in der Nähe hatte ihnen Unterschlupf gegeben, aber sie waren ein unartiges Gesinde. Jetzt sind sie selten, der Vater hält streng auf Ordnung, und sie wissen das recht gut. Doch wir müssen zurück in den Hof, denn Vorsicht kann bei dem diebischen Volk nicht schaden.«

Sie eilten nach dem Hofe, Ilse rief den Inspector, und die Kunde, daß die Landläufer in der Nähe waren, flog wie ein Lauffeuer durch den Hof. Die Ställe wurden verwahrt, das Federvieh und die Familien der fettumwachsenen Schweine der Obhut von zwei handfesten Mägden übergeben, der Schäfer und die Knechte erhielten Befehl, Nachtwache zu halten. Ilse rief die Kinder, sie gab ihnen das Abendbrot und fand schwer die Aufgeregten zu bändigen. Die Jüngsten wurden der Mamsell unter starkem Protest und Thränen übergeben zu sicherer Aufbewahrung in ihren Betten. Dann suchte Ilse alte Röckchen und Linnen zusammen, belud eine Magd mit zwei Broten und schickte sich an, zum Hofthor zu gehen, wo die Frau sie erwarten sollte. Der Doctor hatte sich in seiner Freude über die Fremden aller Sorge um den Freund entschlagen. »Erlauben Sie uns, die Verhandlung mit der Sibylle anzuhören,« bat er.

Sie fanden die Landstreicherin in der Dämmerung vor dem Thor sitzend, neben ihr ein halbwüchsiges Mädchen mit prachtvollen Augen und langen Zöpfen, aber mangelhaftem Gewande. Das Weib erhob sich und nahm mit vornehmer Haltung die Spende in Empfang, welche ihr Ilse reichte.

»Segen über Sie, Fräulein,« rief sie, »alles Glück, das Sie sich jetzt wünschen, soll Ihnen zu Theil werden. Und Sie haben ein Angesicht, welches Glück verheißt. Segen über Ihr goldenes Haar und die blauen Augen. Ihnen danke ich,« schloß sie sich verneigend. »Wollen die Herren nicht auch meinem Mädchen ein Andenken schenken?« Die wilde Schöne hielt ihre Hand hin. »Die Sonne hat ihr das Gesicht verbrannt, seien Sie freundlich gegen die arme Schwarze,« bettelte die Alte, und dabei sah sie lauernd in der Runde umher. Der Professor schüttelte verneinend das Haupt, der Doctor griff nach seiner Börse und legte der Alten ein Geldstück in die Hand. »Das Prophezeien habt ihr aufgegeben?« frug er lachend.

»Es bringt Unglück dem, der wahrsagt, und dem, der fragt,« versetzte die Fremde. »Hüte sich der Herr vor allem, was bellt und kratzt, denn ihm kommt Unglück von Hunden und Katzen.« Ilse und der Professor lachten, die Augen der Landstreicherin suchten unterdeß unruhig in dem Gebüsch.

»Wir können nicht wahrsagen,« fuhr sie geläufig fort, »wir haben keine Macht über die Zukunft und wir irren wie ihr andern auch. Aber Manches sehen wir doch, schönes Fräulein, und ohne daß Sie es verlangen, will ich’s Ihnen sagen. Der Herr da neben Ihnen sucht einen Schatz, und er wird ihn finden, aber er soll sich hüten, daß er ihn nicht verliert; und Sie, stolzes Fräulein, werden einem Manne lieb sein, der eine Krone trägt, und Sie werden die Wahl haben, ob Sie eine Königin werden wollen, die Wahl und die Qual,« setzte sie leiser hinzu, und ihre Augen flogen wieder unruhig umher.

»Hinweg mit euch!« rief Ilse unwillig, »solch Geschwätz stimmt schlecht zu euren Worten.«

»Wir wissen nichts,« murmelte die Fremde demüthig, nach dem Zeichen an ihrem Halse fassend. »Wir haben nur unsere Gedanken. Und unsere Gedanken sind eitel oder wahr, je nachdem ein Stärkerer will. Leben Sie wohl, schönes Fräulein,« rief sie mit Nachdruck und schritt mit ihrer Begleiterin in die Tiefe.

»Wie stolz sie dahingeht,« rief der Doctor, »Respect vor dem klugen Weibe, sie wollte nicht wahrsagen, aber sie konnte doch nicht vermeiden, sich durch geheimes Wissen zu empfehlen.«

»Sie hat sich längst bei den Feldarbeitern nach uns Allen erkundigt, und sie kennt den Hof,« versetzte Ilse lachend.

»Wo nur ihr Lager aufgeschlagen ist?« frug der Doctor neugierig.

»Wahrscheinlich hinter dem Dorfe,« versetzte Ilse. »Im Thal sehen wir wohl die Feuer. Die Fremden haben nicht gern, wenn man ihrem Lager nahekommt und zusieht, was sie als Abendkost verzehren.«

Sie stiegen langsam in das Thal hinab und blieben am Ufer des Baches unfern dem Garten stehen. Rings um sie lag das Dunkel des Abends auf Busch und Wiese, das alte Haus auf dem Steine ragte düster unter dem dämmrigen Grau des Himmels. Vor ihren Füßen murmelte das Wasser und die Blätter der Bäume rührten sich im Nachtwind. Schweigend blickten die Drei in die verschwimmenden Formen der Landschaft hinaus, das Seitenthal mit dem Dorf lag unsichtbar in dem tiefen Schatten der Nacht, nicht einmal ein erleuchtetes Fenster war zu sehen. »Sie sind lautlos verschwunden wie die Fledermäuse, welche eben noch durch die Luft flogen,« sagte der Doctor. Aber die Andern antworteten nicht, sie dachten nicht mehr an die Landläufer.

Da klang es durch die Abendluft wie leises Wimmern. Ilse fuhr zusammen und lauschte. Und noch einmal derselbe schwache Ton. »Die Kinder!« schrie Ilse entsetzt und stürzte der Hecke zu, welche den Obstgarten von der Wiese trennte. Sie rüttelte angstvoll an der verschlossenen Pforte, dann brach sie das Geäst der Hecke auseinander und sprang wie eine Löwin hindurch, das Obstgelände hinauf. Die Freunde eilten ihr nach, aber sie erreichten die Schnelle nicht. Vor ihr schimmerte es hell unter den Bäumen und es regte sich, da sie heranflog. Zwei Männer hoben sich vom Boden, eine Gestalt fuhr ihr entgegen, Ilse aber schlug den Arm zurück, der zum Schlag gegen sie ausholte, daß der Mann taumelte, und warf sich über die weinenden Kleinen, welche im Rasen lagen. Hinter Ilse sprang Felix herzu und packte den Mann, der Doctor rang im nächsten Augenblick mit einem andern, der wie ein Aal unter seinen Händen dahinglitt und in der Dunkelheit verschwand. Der erste Räuber aber hob sein Messer gegen den Arm des Professors, entrang sich der Hand, welche ihn festhielt, und war im nächsten Augenblick durch die Hecke gebrochen. Man hörte das Knarren im Geäst, dann war Alles wieder still.

»Sie leben!« rief Ilse am Boden knieend mit fliegendem Athem und umschlang die Kleinen, welche jetzt ein klägliches Geschrei ausstießen. Es war Riekchen im bloßen Hemde und Franz, auch halb ausgeschält. Die Kinder waren den Augen der Mamsell und dem Schutz der Schlafstube entschlüpft und in den Garten geschlichen, um die Feuer der Komödianten zu sehen, von denen die Geschwister erzählten. Da waren sie den Genossen der Bande, welche Greifbares suchten, in die Hände gefallen und der Kleider entledigt worden.

Ilse nahm die schreienden Kinder auf ihre Arme, vergebens wollten die Freunde ihr die Last abnehmen. Lautlos eilte sie mit den Geretteten nach dem Hause, sie stürzte in das Zimmer und beide festhaltend kniete sie vor dem Sopha über ihnen, und die Freunde hörten ihr unterdrücktes Schluchzen. Aber nur auf wenige Augenblicke verlor sie die Haltung. Sie richtete sich auf und sah über die Dienstleute, welche in ängstlichem Gedränge die Stube füllten. »Den Kindern ist kein Leid geschehen,« rief sie, »geht, wo ihr die Wache habt und holt mir einen der Herren.« Der Inspector trat aus dem Haufen. »Das war ein Raub auf unserem Grunde,« sagte Ilse, »und die ihn verübt, soll das Gesetz erreichen. Ich bitte, lassen Sie die Bande in ihrem Lager aufheben.«

»In der Schlucht hinter dem Dorf ist ihr Feuer,« erwiederte der Inspector, »man sieht den rothen Rauch vom Oberstock. Aber, Fräulein – ich sage es ungern – wäre nicht vorsichtiger, man ließe die Schurken entlaufen? Ein großer Theil unserer Ernte liegt in Garben, sie zünden uns in der Nacht aus Rache die Haufen an oder wagen noch Aergeres, um ihre Leute wieder frei zu machen.«