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Buch lesen: «Die Ahnen», Seite 97

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Als die Haustür zugeschlagen wurde, klang aus der Stube ein gellender Schrei, dann wurde es still. Es war der Angstruf eines Weibes, welches von seiner Liebe und dem Leben geschieden ward.

Der Amtsschreiber eilte in den Stall, um die Kuh Bleß und, was ihm noch mehr am Herzen lag, den Zelter in seine Verwahrung zu nehmen; aber er sah erstaunt, daß das Pferd verschwunden war. Da erst fiel ihm der fremde Knabe ein, und er fragte die Umstehenden nach diesem, doch auch ihn hatte niemand gesehen.

Am nächsten Morgen fand der Schreiber sein Hoftor geöffnet und sein eigenes Pferd, einen tüchtigen Klepper, gestohlen; die Spuren führten aufwärts nach den Bergen, sie wurden endlich unsichtbar und alle Nachforschung im Walde war vergebens. Zu Regine aber kam in derselben Stunde ein Schloßmädchen: »Draußen am Tor steht ein Knabe, welcher der Jungfrau ein Geschenk übergeben soll, er hat es eilig, doch will ihn die Wache nicht einlassen.«

»Wie sieht er aus?« fragte Regine neugierig und ging nach der Antwort herab zum Tore. Dort saß Pieps auf der Bank; er nahm in Gegenwart der Trabanten, die ihn argwöhnisch betrachteten, höflich die Mütze ab und bot einen Korb: »Dies soll ich zur Verwahrung übergeben.« Und leiser setzte er hinzu: »Euer Zelter steht in der Herberge am Tor, er ist für schnellen Ritt nicht zu gebrauchen. Wo liegt der Königsmark?« Regine sah erstaunt die verstörte Miene und die rollenden Augen des Knaben.

»Hinter Göttingen.«

»Und wo liegt Göttingen?« fragte Pieps wieder. »Weist mit der Hand nach der Richtung.« Als Regine die Himmelsgegend gezeigt hatte, so gut sie wußte, grüßte der Knabe wieder und lief den Berg hinab, bevor sie ihn ausfragen konnte. Sie trug den Korb in ihre Kammer, fand Sachen des Bruders darin, welche ihm lieb waren, und machte sich Gedanken über die geheimnisvolle Sendung.

Als sie aber einige Stunden darauf allein im Vorzimmer der Herzogin saß, trat der Lizentiat Hermann ein. Regine hatte seinem ehrerbietigen Gruße jeden Morgen freundlich gedankt und zuweilen nach der Tür gesehen, wenn die Stunde kam, in welcher er durch das Zimmer schritt, zuweilen auch, wenn er sie anzureden wagte, hatte es ein Wechselgespräch gegeben, an welches Regine den Tag über dachte. Heut sah sie wieder freundlich nach ihm hin, aber befremdet erkannte sie den düsteren Ernst seiner Miene. Schneller als sonst kam er auf sie zu und begann: »Die werte Jungfer Königin bitte ich an den Spruch zu denken: Denen, die Gott lieben – und ferner an den zweiten: Wen der Herr lieb hat —.«

»Ich denke daran«, sagte Regine aufstehend und neigte das Haupt.

»Denn«, fuhr Hermann fort, »ich habe mitzuteilen, was sowohl kläglich als schrecklich ist, und ich bitte inständig, daß die liebe Jungfer nicht den Boten entgelten lasse, was er wahrlich in tiefem Mitgefühl sagen muß.«

»Was ist dem Bruder geschehen?« fragte das erschreckte Mädchen.

»Nicht dem Bruder,« antwortete der Lizentiat, »sondern der Jungfer im Walde. Sie ist wegen Zauberei angeklagt und gestern im Dorfe von einem hohen Konsistorium verhört worden.«

»Sie ist von schlechten Menschen verleumdet«, rief Regine, händeringend.

»Sie wird als Gefangene in ihrem Hause verstrickt gehalten,« versetzte Hermann, »und wie ich vernehme, liegen schwere Anschuldigungen vor.«

»Sorgt nicht,« sprach das Mädchen mit bebender Stimme, »ihre Unschuld wird sich ergeben.«

»Ich bitte die Jungfer, sich der gewichtigen Worte zu erinnern, welche mir dieselbe auf der Reise hierher sagte,« fuhr der junge Mann feierlich fort, »daß uns nur die Liebe aus unserem traurigen Zustande erretten kann, und daß diese Liebe selten ist auch bei den Richtern. Es sind verlorene Stimmen in der Wüste, welche seither gegen das grausame und ungerechte Verfahren in zauberischen Händeln protestiert haben, und ich fürchte, viele Unschuldige werden geopfert, bevor einmal ein Schuldiger getroffen wird. Ich kenne die herzbrechende Klage, welche ein Unbekannter in einem lateinischen Büchlein gegen die Grausamkeit der gerichtlichen Prozedur veröffentlicht hat, und ich habe seitdem solche Anklagen beachtet, aber ich habe niemals gesehen, daß die Angeklagten sich zu retten imstande waren.«

»Ich muß zu ihr«, rief Regine.

»Weil ich solchen Entschluß für möglich hielt, habe ich gewagt, die Jungfer in dieser Sache anzureden mit flehentlicher Bitte, solchen Gedanken nicht auszuführen, denn Euch selbst bedroht die Gefahr.«

»Mich?« fragte Regine, das Haupt hebend. »Was kann mir geschehen?«

»Wer einer Gemeinschaft mit den Angeklagten bezichtigt wird, ist verdächtig, und wer verdächtig wird, der ist verloren.«

»Ich aber will Zeugnis geben für sie,« rief Regine, »was mir auch darum geschehe.«

»Die Jungfer kann nichts bezeugen, als ihres Herzens Meinung zum Mißfallen der Richter. Könntet Ihr der Jungfrau Möring dadurch auch nur einen mäßigen Dienst erweisen, so würde ich, obgleich mit blutendem Herzen, vermeiden, Euch abzuraten. Von den Richtern aber wird Eure unschuldige Aussage nur zum Schaden der anderen gedreht und umgedeutet werden und ihr Schicksal verschlimmern.«

»Führt mich zum Herzog, daß ich ihn anflehe.«

»Auch dies widerrate ich,« bat der Kandidat, »denn der Herzog wird in solchem Falle sein fürstliches Belieben gegenüber der gerichtlichen Prozedur niemals geltend machen, zumal da diese Prozedur vorgibt, sich sowohl auf göttliches als menschliches Recht zu stützen. Mir ist bewußt, daß bei jedem Prozesse dieser Art unsern frommen Herrn herzliche Angst beunruhigt, aber er ist selbst in seinem Leben so schwer durch die Bosheit der Menschen gekränkt worden, daß er für eine teure fürstliche Pflicht hält, der Macht des Satans durch scharfes Verfahren entgegenzuarbeiten.«

Das Mädchen stand mit gerungenen Händen, und auch dem Lizentiaten zitterte die Stimme, als er fortfuhr: »In bitterer Sorge um die liebe Jungfer selbst wage ich nur eine Bitte: Handelt in dieser schweren Prüfung nach dem Glauben, welchen Ihr bekennet; stellt alles dem anheim, bei dem allein Hilfe ist, verbergt vor jedermann die große Bewegung Eures Gemütes und lebt in dem Vertrauen, daß zuletzt alles wohlgemacht wird, wenn auch die Wege für uns unerforschlich sind und zuweilen menschlichem Verstand furchtbar erscheinen.«

»Ach, Herr,« klagte das Mädchen, »innerer Friede wird uns nur zuteil, wenn wir vorher alles getan haben, was unsere Pflicht ist, und ich vermag den Gedanken nicht zu ertragen, daß ich in scheinbarer Ruhe leben soll, während eine, die gütig gegen mich war, in Todesgefahr ringt.«

»Gerade um ihretwillen sollt Ihr Euch fassen, denn wenn es noch möglich ist, zu seiner Zeit den Herzog günstig für die Angeklagte zu stimmen, so kann das mit Eurer Hilfe und durch Euer Zeugnis nur geschehen, wenn Ihr selbst keinerlei Leidenschaft und geheime Verstörung offenbart.«

»Ich will mich mühen,« antwortete Regine, tief aufatmend, »so zu sein, wie der Herr für heilsam erklärt; ich bitte aber, mich Schwache dadurch zu stärken, daß Ihr mich unter den fremden Herrschaften hier nicht trauriger Ungewißheit überlaßt, sondern mir aufrichtig mitteilt, wann ich vor dem Herzoge meine Stimme erheben darf.« Das versprach der Lizentiat, hingerissen von ihrem Schmerz, aber er gedachte auch, sie selbst soviel als möglich vor der Gefahr zu schützen, die er für sie voraussah.

Unterdes jagte ein Knabe in gestrecktem Rosseslauf auf der Landstraße dahin. Die heiße Julisonne brannte ihm die Haut, und der Gewitterregen durchnäßte das Kleid, aber unverrückt suchte sein Auge am Himmel und auf dem Wege die Richtung nach Norden. Traf er Leute auf der Landstraße, so fuhr er in schnellstem Rennen vorbei oder umritt sie in weitem Bogen. Mehr als einmal wurde er angehalten, dann log er, sein Herr sei als Bote des Königsmark von Räubern überfallen, er selbst habe sich auf dem Pferde eines Räubers gerettet und eile mit der üblen Kunde zum General. Zuweilen fühlten die Leute Mitleiden, wiesen ihm den Weg und boten ihm einen Trunk und Brot; einmal griff die begehrliche Hand eines Strolches nach dem Zügel, aber sie zuckte, von dem scharfen Messer des Knaben geschnitten, zurück, und die Drohungen des Mannes verhallten hinter dem Flüchtigen. Am Abend des zweiten Tages brach das Pferd zusammen, er ließ es liegen, ohne sich danach umzuwenden, und lief zu Fuß weiter. Bei Göttingen kam er in die Wegspuren seiner Regimenter; er fand Weiber des Trosses, die er kannte, und erfuhr von ihnen, daß der Heerhaufen einen Tagemarsch nordwärts an der Leine rastete.

Denn dort sollten die weimarischen Regimenter sich mit dem kleinen Heere des Generals Königsmark vereinigen. Der Herr empfing die Anziehenden auf freiem Feld in großem Ornate, er hatte sein Heer so aufgestellt, daß es von drei Seiten einen freien Raum umfaßte, und Wilhelm wies mit herbem Lächeln seinem Freunde Bernhard die schwedischen Kanoniere, welche mit brennender Lunte bei ihren Geschützen standen. Die von Weimar zogen gegenüber in Reih und Glied auf, jedes Regiment gefolgt von seinem Troß. Die Beritte mußten sich drängen, weil, wie die schwedischen Offiziere bedauernd sagten, Mangel an Raum war. Wilhelm trabte mit seinem Gefolge vor und begrüßte den Feldherrn, welcher, den Hut abnehmend, dankte. Darauf rief der weimarische Feldoberst mit heller Stimme die Namen der Regimenter, und als von jedem der laute Gegenruf unter den geschwungenen Standarten: Hier Alt-Rosen! Hier Taupadel! geantwortet hatte, meldete er, zum Schweden gewandt: »Herr Generalleutnant, wir alle sind bereit, der Krone Schweden den Eid zu leisten.«

Königsmark bewegte sich einige Schritte vorwärts und fragte überrascht: »Auch Ihr?« – Und als Wilhelm höflich bejahte, fragte er weiter: »Auf meine Bedingungen?«

»Auf Eure Bedingungen«, wiederholte der andere.

Über den gesenkten Standarten und Fahnen wurden von schwedischen Offizieren die neuen Farben befestigt. Dann ritten die weimarischen Offiziere vor der Front in großem Ringe zusammen, der Eid wurde ihnen verkündigt, und sie schworen mit aufgereckten Fingern, als erster Wilhelm.

Nur Bernhard schwenkte den Hut zum Abschiede gegen die Standarte seiner Kompanie, rief dem Volke zu: »Lebt wohl, Kameraden«, und ritt, gefolgt von seinen Knechten, zur Seite.

Nach den Führern wurde der Soldat regimenterweise in Pflicht genommen. Königsmark beobachtete während der Zeremonie mit stillem Triumph seinen neuen Erwerb und konnte sich nicht enthalten, zuweilen seiner Freude laute Worte zu geben, denn er sah narbige Gesichter, sehnige Gestalten, wie aus Erz gegossen, und die sichere Haltung kampfgewohnter Männer. Aber er merkte auch an vielen finstere und traurige Mienen und erkannte, daß sie nicht freudig zu ihm kamen, sondern im Gebote harter Not. Als er so prüfend von seinem Platze die Front entlang ritt, kam er in die Nähe Bernhards und begann:

»Wie, Herr Abgesandter? Ihr seid der einzige, der nicht gut schwedisch sein will?«

»Die Ehre verbietet mir, meine Kompanie abzugeben, und sie verbietet mir auch, als dem einzigen unter meinen Kameraden, die Kompanie zu behalten«, entgegnete Bernhard.

»Ich hätte andere, die ich hier sehe, lieber gemißt als Euch«, sagte höflich der General. »Gewinnt Ihr einmal Lust zu schwedischem Dienst, so kommt zu mir. Verlaßt Euch auf mein Wort, ich schaffe Euch eine Bestallung.«

In der Herberge wartete Bernhard lange vergeblich auf den Freund, welcher zum Generalleutnant entboten war. Als Wilhelm eintrat, warf er sich finster in einen Sessel und drückte den Hut tief in die Augen. »Der General meint, er habe mich beseitigt, aber er könnte sich irren. Merk auf! Die Regimenter sind unter dem Vorwand guter Quartiere weitläufig auseinandergelegt, um den Verkehr zwischen ihnen zu erschweren, sie werden neu formiert, je zwei und zwei zu einem vereint mit neuen Standarten und neuen Obersten.«

»Das haben wir erwartet, und der Schwede ist in seinem Recht«, warf der Freund ein. »Jeder Feldherr würde ebenso verfahren.«

»Mich wundert, daß du den Schweden lobst«, sagte Wilhelm mißtrauisch.

»Ich habe mich seinem Dienste versagt,« versetzte Bernhard ruhig, »aber ich will ihn nicht unbillig verurteilen. Doch am meisten liegt mir auf der Seele: Was ist aus dir geworden?«

»Ein Oberstleutnant ohne Kommando«, sagte Wilhelm bitter.

»Auch das ist fast mehr, als wir erwartet haben.«

»Meinst du?« fragte der Unzufriedene. »So höre denn, der General pries mit glatten Worten meine Führung und rühmte sich, daß er dem schwedischen Kronkommissar, der ihm als Wächter gesetzt sei, mein Patent abgerungen habe; er fügte mit falscher Freundlichkeit hinzu, daß er sogleich meine Dienste fordern müsse; mit vertrautem Schreiben soll ich morgen bei Anbruch des Tages zum Feldmarschall Wrangel. Verstehst du, was das bedeutet? Ich soll getrennt werden von unseren Völkern, und sie werden dafür sorgen, mich in der Ferne festzuhalten, bis sie hier nach ihrem Gutdünken reformiert haben. Du hast den besseren Teil erwählt, Bernhard, dennoch denke ich, du sollst von mir hören. Grüße deine Schwester und sage ihr, meine weltliche Kunst, andere zu behandeln, habe mir schlechten Lohn eingetragen. Zuletzt hat mir keiner Dank gewußt, nicht unsere Leute, nicht die Fremden.«

»Ich aber,« antwortete Bernhard, »für gute Kameradschaft in guten und schlechten Tagen. Das will ich dir sagen, bevor wir scheiden. Denn du sollst jetzt für dein Glück unter den Schweden sorgen, ich aber werde mit leichtem Herzen und fröhlichem Mut zum Ehemann und Hausvater.«

»Laß Wein auftragen, mein Bruder,« rief Wilhelm, »wir wollen noch einmal wie Studiosen zusammensitzen, wir wollen denken, daß die ganze Kriegsfahrt zu Ehren Deutschlands und daß unser Heerbefehl nichts anderes war, als ein Studentenkönigreich, das wir am heiligen Dreikönigsabend angestellt haben. Jetzt sind alle unsere Mannen von der Bank gefallen, wir beide aber sitzen fest. Wer am längsten auf dieser Erde den Becher hebt, der bleibt Sieger.«

Die Tür wurde aufgerissen; bei dem trüben Licht sah Bernhard eine kleine Gestalt, welche mit wankendem Schritt auf ihn zukam. Vor seinen Füßen brach der Bube zusammen. Bernhard beugte sich zu ihm nieder, und das matte Kind flüsterte ihm wenige Worte in das Ohr. Da sank auch der starke Mann, wie von einem Schlage getroffen, zurück, und das Blut wich aus seinem Angesicht.

8. Die Rettung

Nach heißen Sonnentagen trieb der Nordwind dunkle Regenwolken über das Land. Regine blickte durch das Fenster auf ein glühendes Abendrot, welches am Horizont unter dem schwarzen Wolkendach wie eine ungeheure Feuersbrunst aufleuchtete. Auch das heitere Licht ihrer Lebenstage war geschwunden; die Angst war seit der letzten Nachricht, die der Lizentiat zutrug, so groß geworden, daß ihr verstörtes Wesen im Schlosse auffiel und die Herzogin ihr heut gütig geraten hatte, der Unpäßlichkeit nicht zu trotzen, sondern sich ruhig in der Kammer zu halten. Sie fuhr zusammen, als der alte Diener des Frauengemaches eintrat und ein Brieflein überreichte, welches ein Mann für sie am Tore abgegeben hatte. Sie las die Zeilen, ergriff ein Regentuch und stürzte hinaus. Auf dem Korridor vernahm sie hinter sich schnelle Tritte und die ängstliche Frage des Lizentiaten: »Was ist Euch zugestoßen?«

»Ich habe einen Gang vor«, antwortete Regine zitternd.

»Will mir die Jungfer nicht gestatten, sie zu begleiten?« bat Hermann. »Ihr seid ganz außer Euch.«

»Dürft Ihr versprechen, gegen jedermann zu schweigen,« sagte Regine in Hast, »so tut Ihr mir einen Gefallen, wenn Ihr mich zu der Schenke führt, welche draußen beim Gehölz am Fuße des Friedenssteines steht.«

»Der Ort ist übel beleumdet und eine Niederlage von schlechtem Gesindel. Wie dürft Ihr Euch dorthin wagen?«

»Ich muß«, rief Regine, das Tuch um sich ziehend, und ging an ihm vorüber.

»Doch nicht ohne Schutz; ich leide nicht, daß Ihr Euch allein der Gefahr aussetzt«, entschied Monsieur Hermann, ihr nachfolgend.

Schweigend eilten sie nebeneinander den Schloßberg hinab zu der wüsten Stelle im Freien, wo ein waghalsiger Schenkwirt einen hölzernen Bau aufgeschlagen hatte, bequem für die Landleute, welche zur Bauarbeit am Schlosse gefordert wurden, aber auch für fremdes streifendes Volk, dem die Torwache feindselig war.

Aus der Bretterhütte schallte das Stampfen der Gläser und das Geschrei Berauschter. Der Lizentiat führte das Mädchen einige Schritte vom Wege ab, wo eine Linde und umherstehendes Gesträuch vor neugierigen Augen deckte, und sagte ernsthaft: »Ihr dürft nicht dort hinein.«

Ein Mann in dunklem Mantel trat herzu und faßte Reginas Hand. »Hinweg!« rief Hermann und fuhr auf den Fremden los. Aber Regine bat mit gefalteten Händen: »Ich flehe Euch an, daß Ihr mich jetzt allein laßt.«

Der Lizentiat blickte erschrocken von dem verhüllten Mann auf das Mädchen. »Ich gehorche dem Wunsche der Jungfer und will die Zusammenkunft nicht stören,« sagte er, und bitterer Schmerz klang aus seinen Worten, »aber ich bleibe so nahe, daß Euer Ruf mich erreicht.«

Regine vermochte nur tonlos zu sagen: »Ich bin Euch auch dafür dankbar.«

Der Verhüllte zog sie tiefer in das Gehölz. Sie sah im Zwielicht das bleiche Antlitz und die zusammengezogenen Brauen des Bruders; sie hielt seine Hand fest und weinte darüber. »Wo ist sie?« fragte Bernhard hastig.

»Sie wird im Walddorfe bewacht.«

»Und wie steht ihre Sache?«

»Morgen soll sie in der Stadt peinlich verhört werden«, antwortete die Schwester, umschlang den Leib des Bruders und fühlte den Schrecken, der ihm durch die Glieder zuckte. Er strich ihr mit der Hand über das Haupt, ohne es zu wissen.

»Die Zeit ist kurz«, murmelte er. »Du bist geübt, für deinen Bruder zu beten; flehe heut zum letzten Male für ihn, und bitte, daß die Nacht finster sei.« Er ließ die Entsetzte los und trat an das Gehölz. Regine sah, daß sich die Zweige bewegten und glaubte das gefurchte Antlitz eines alten Bekannten zu erkennen. Leise verhandelten die Männer. Der andere entwich, und der Bruder trat wieder zu ihr. Jetzt küßte er sie auf die Stirn und sagte traurig: »Arme Schwester.«

»Bin ich Eure Schwester,« sagte Regine, das Haupt erhebend, »so laßt mich teilhaben an Euren Gedanken.«

»Fordere nicht zu wissen, was dich verderben könnte, du unschuldiges Kind. Eine, die wir kennen, ist zur Zauberin gemacht, und wer teil an ihr nimmt, den binden sie auf den Holzstoß. Wir aber sind gottselige Christen und wissen die Gemeinschaft mit allem Teufelswerk zu meiden. Vielleicht habe ich noch etwas Wertvolles in dem Hause der Zauberin versteckt, was ich herausholen möchte, bevor das Gericht mit gierigen Händen danach greift.«

»Sprecht nicht so zu mir, Bernhard«, flehte die Schwester. »Meint Ihr, daß meine Angst geringer wird, wenn Ihr Euch vor mir verstellt? Ich sehe durch die Maske und fühle das Grausen.«

»Graust dir vor der Zauberin?« fragte der Bruder mit rauher Stimme. »Sie war doch einst gütig gegen dich, und wir verdanken ihr die Rettung vor elendem Verderben.«

»Sie ist schwer angeklagt,« stammelte Regine, »und man sagt, es sei bewiesen, daß sie nächtliches Werk geübt habe, das nicht gottselig ist und das dem Teufel Macht über sie gibt.«

»Ich denke, sie hat bei Nacht Wurzeln gegraben, von denen die Leute glauben, daß sie kräftig sind, feindliche Kugeln abzulenken; und ich denke, sie hat die unheimliche Arbeit gewagt, um einen vor Gefahr zu schützen, der ihr lieb ist. War sie im Irrtum oder nicht, war sie in Sünde oder nicht, was, meinst du, soll der Mann tun, dem sie solche Gabe zugeteilt hat?«

»Von sich werfen soll er, was dem Bösen Macht über ihn geben kann«, rief Regine entsetzt.

»Ich aber sage dir, Mädchen, er bewahrt es an seinem Herzen, solange er lebt; nicht, weil er einen ehrlichen Soldatentod fürchtet, sondern weil das Weib, das er liebt, Leben und Seligkeit für ihn gewagt hat.«

Regine hielt sich an dem Stamme des Baumes fest, und das Haupt sank ihr auf die Brust, der Bruder rührte mit dem Finger darauf.

»Glaubst du, daß der Gott der Liebe, zu dem du so eifrig bittest, eine Menschenseele deshalb dem Teufel und der ewigen Verdammnis übergibt, weil sie sich, nicht aus Haß, sondern aus herzlicher guter Meinung unterwunden hat, aus dem Walde zu holen, was die Nachtgewalten nur ungern dem Menschen hergeben?«

»Ich bin gelehrt,« antwortete Regine leise, »daß es Sünde ist, an solche Geheimnisse zu rühren.«

»Und glaubst du, daß die Jungfrau im Walde schädliche Zauberei treibt und mit dem Bösen im Bunde steht?«

Regine erhob sich und sagte: »Nein!«

»Sei bedankt für dieses Wort«, rief Bernhard, und ein Strahl von Freude erhellte sein Angesicht. »So ziemt es der Schwester zu reden.« Er zog sie an sich und wiederholte: »Armes Kind! Für dich wird am härtesten zu tragen, was das Schicksal uns gefügt hat. Warst du auch zuweilen unzufrieden mit dem wilden Bruder, du hattest seither an seinem Herzen eine Stätte, wo du sicher ruhen konntest; wir beide kannten einander genau, und zwischen uns war festes Vertrauen. Jetzt stehst du in Gefahr, den Bruder zu verlieren; freundlos sollst du, zarte Blume, unter Fremden gedeihen; ja, wer mag dafür bürgen, ob meine Tat nicht auch dich beschädigt und ins Elend wirft? Das ist Gram und Bitterkeit, die ich zu anderer Not in diesen Angststunden fühle, und ich bitte dich, und ich bitte die lieben Eltern im Himmel, daß ihr mir verzeiht, wenn ich dich verlasse um einer anderen willen.«

Reginas Tränen fielen auf die Hand des Bruders, als sie die Hand küßte. »Sorgt nicht um mich«, bat sie. »Das Blümlein, welches Ihr genannt habt, steht unter Gottes Auge, geduldig in Regen und Sonnenschein, damit der Herr mit ihm tue nach seinem Gefallen. Könnt Ihr aber jetzt, wo Euch irdische Leidenschaft treibt, unserer Eltern im Himmel gedenken und Eurer Schwester auf Erden, die Euch liebt, so sorget auch, daß Ihr Euch nicht für immer von ihnen scheidet. Es ist fürchterlich, zu denken, daß die Jungfrau vom Walde ohne schweres Verschulden verurteilt werden kann durch falschen Glauben und durch die Blindheit ihrer Richter. Mein Bruder aber, wenn er dieses Urteil durch heimlichen Anschlag verhindern will, verfällt dem irdischen Richter ebenso wie jene. Der Teufel ist geschäftig, Bernhard, gegen solche, welche in stolzem Vermessen gegen Recht und Gesetz ankämpfen; ist auch die Jungfrau unschuldig, wer bürgt dafür, daß nicht Ihr zu einem schweren Verbrechen an Gott und den Menschen verlockt werdet, während Ihr sie mit Gewalt aus den Banden des Gesetzes lösen wollt?«

»Deiner Warnung gedenke ich,« antwortete der Bruder, »vielleicht bewahrt sie einen Schurken vor der Kugel, die ich ihm zugedacht. Rufst du aber das Gedächtnis unserer toten Eltern gegen mich an, so wisse, seit der Stunde, in der mein Bube mir die Trauerbotschaft zutrug, während ich hierher ritt in Angst und Wut, wie du sie niemals empfunden, habe auch ich Gesichte gehabt von seltsamer Art, und ich habe Stimmen gehört, weiß nicht, kamen sie vom Himmel oder anderswoher. In das eine Ohr schrie es mir: Sei treu bis über den Tod, und wenn die ganze Welt Untreue fordert; und in das andere Ohr schrie es: Deines Rosses letzter Sprung sei für den Genossen, der um deinetwillen in Not kam. Ist ihr der Pfahl beschieden, so sei er mir‘s auch, und würde ihr der Himmel verweigert, so soll meine Seele den Türsteher Petrus niemals um Einlaß bitten. Ich tue, was ich muß; und ich sage dir, Mädchen, wenn unsere Eltern noch lebten, die Mutter würde weinen wie du, der Vater aber würde sein Haupt heben, wie er zuweilen tat, und mich mit seinem Sprichwort begrüßen: Treue bewahren, ist jedem Pflicht, den Königen aber ist es Ehre.«

»Ich mahne nicht mehr, wo menschliche Warnung vergeblich ist«, sprach die Schwester, entsetzt über den Aufruhr seines Gemütes; »Ihr aber sollt nimmer vergessen, daß auch für mich das Sprichwort des Vaters gilt. Braucht Ihr in der Not ein treues Herz, so denkt meiner.«

»Liebe Schwester«, rief Bernhard und umschlang das Mädchen, welches er allein und schutzlos in der Wildnis dieser Welt zurücklassen sollte. An seiner Hand trat sie aus dem Baumschatten auf den Weg. Dort wies sie nach ihrem Begleiter vom Schlosse, der in einiger Entfernung stand, auch er mit finstern Gedanken beschäftigt. Noch einmal fühlte sie die Hand dessen, der ihr bis dahin Bruder und Vater gewesen war, auf ihrem Haupte, dann wich er in den Schatten zurück, und sie schritt eilig vorwärts, aber ihre Glieder bebten in unterdrücktem Schluchzen. Der Lizentiat ging schweigend neben ihr durch die Schloßpforte. Er sah beim Laternenlicht zwischen Mitgefühl und Groll die Qualen, mit denen sie rang, und verneigte sich auf dem Gange tief und förmlich zum Abschiede. Ach, er wäre trotz seiner Würde reuig vor ihr auf die Knie gefallen, hätte er den Jammer des armen Mädchens verstanden, welches jetzt alles verloren hatte, was ihr auf Erden lieb war, auch den teilnehmenden Freund im Fürstenschlosse.

Unter dem dunklen Wolkenhimmel sprühte der Regen und tobte der Sturm. Er dröhnte wie Wogenschwall an den Mauern des Fürstenschlosses, warf die Schornsteine von den Dächern der Stadt und schleuderte große Baumäste auf den Grund. Aus der Herberge nahe am Schlosse jagten zwei verhüllte Reiter auf der Landstraße dahin. Hinter dem ersten Dorfe gesellten sich zwei andere zu ihnen, nach der ersten Wegstunde war die Zahl bis zu einem ganzen Trupp herangewachsen, und zwischen sich führten sie ein Wagenhaus, aus starken Brettern gezimmert. Wenn eine Dorfwache in dem Brausen des Windes den Hufschlag und das Rasseln des reisigen Zuges hörte, der außerhalb des Zaunes dahinfuhr, so drückte sie den Hut über die Augen und sprach einen hilfreichen Spruch, um vom Heere des wilden Jägers verschont zu werden.

Am Eingange des Waldtals, wo ein steiler Fels bis zum Wege vorsprang, hielt der Haufe an und der Führer, ein hagerer Gesell, dessen Gesicht durch die herabgezogene Krempe des Hutes verborgen war, sah scharf in die Runde und gab die Befehle. »Ist der Funke dort hinten ein Licht des Dorfes, und brennt das Licht im Hause der Jungfrau?« fragte er eine kleine verhüllte Gestalt, die neben ihm ritt.

»Es kommt aus der Kammer eines kranken Dorfweibes«, antwortete der Kleine.

»Dann lenken wir hier über den Bach und meiden die Dorfgasse. Hinab, und suche die Furt! – Ruhig, Bruder«, mahnte er einen Gefährten, dessen Roß durch die Ungeduld des Reiters gestachelt wurde. »Willst du die Bauern vor scharfem Eisen bewahren, so müssen wir lautlos flattern wie Fledermäuse.« Unterdes glitt der Kleine vom Pferde und verschwand in der Finsternis. Als er nach einer Weile an seinem Tier heraufkletterte, gebot der Alte: »Voran und achte auf die Steine.« Die Reiter verließen den Weg, setzten vorsichtig über den geschwollenen Bach und zogen talauf längs der Berglehne, an welcher das einsame Haus stand.

»Ich denke, bei diesem Wetter schlafen die Wachen«, begann der Führer wieder. »Ich bringe das Eisen mit, welches die Türen geräuschlos öffnet. Schwinge dich über den Zaun, Bube, und sieh zu, auf welcher Streu du die Wächter findest. Sie müssen unter die Nebelkappe, bevor sie sich rühren; ein lauter Ruf könnte uns zwingen, dem ganzen Dorf ein heißes Ende zu machen.« Wieder hielt der Trupp in einiger Entfernung vom Hause, und wieder tauchte der Knabe vom Pferde hinab in die Schwärze der Nacht.

In der Stube lag auf dem Lehnstuhl ein bleiches Weib und starrte nach dem flackernden Schein der Lampe. »Zum letzten Male sehe ich dies Licht brennen. Klein ist der Funke, doch bald wird er ein großer Brand. Nur um Euretwillen tue ich es, geliebter Herr; den Leib, der Euch gehört, soll keine fremde Faust entblößen; ich selbst will mir den Richter suchen, der mehr Erbarmen hat, als die Menschen hier auf Erden. Die Nacht ist finster und lang; erkenne ich im Morgengrau die Fichte auf der Höhe, wo ich an seiner Seite stand, so will ich ihm Lebewohl sagen für immer. Wenn die Lohe aufsteigt, so hoffe ich, jagt der Wind sie abwärts vom Dorfe, damit die Wöchnerin mit ihrem Kinde nicht Schaden leide.

»In den ersten Tagen, nachdem sie mich in Haft gesetzt, flogen meine Gedanken unablässig zu ihm hin, und ich meinte, er müßte kommen, mich in die Arme schließen und über mir trauern, daß ich ausgestoßen und verflucht bin ohne Schuld. Jetzt träumt mir nicht mehr so. Es wird ihm gehen, wie den andern auch, sie werden ihm Übles von mir sagen, und er wird ihnen glauben. Ich möchte doch, daß ich ihm leid täte.

»Die Wächter riefen mir zu, daß die alte Ursel tot im Walde gefunden ist. Das war ein Glück für sie. Die Amseln sind von den Bauern erschossen, auch die Katze ist erschlagen, weil sie mir zugehörte. Einsam war mein Leben und einsam soll mein Ende sein.

»Von der Leinwand, die ich gesponnen und über die er sich gefreut, habe ich als letzte Arbeit zwei Hemden genäht. Eines trage ich auf dem Leibe für meine letzte Stunde, und das andere sollte er sich aufheben bis zu der Zeit, wo es ihm angezogen wird. Aber der Wunsch war eitel, niemand wird ihm mein Vermächtnis zutragen, denn es gibt keinen Boten mehr von mir zu ihm. Und wer weiß, ob nicht auch ihm davor graut, in meinem Gespinst bestattet zu werden.«

Sie sprang heftig auf, sah durch das Fenster zu der Tanne und faßte nach der Lampe. Ein Windstoß schlug an das Fenster, daß die Scheiben klirrten, und durch Sturm und Regen klang ein Geräusch wie von schnaubenden Pferden, Geflüster von Stimmen und das Knarren des Tores. Die Stubentür sprang auf, ein Mann stand auf der Schwelle. Sie hörte die Worte: »Gelobt sei Gott, daß ich Euch finde!« und fühlte sich von starken Armen umschlungen. Da klammerte sie sich fest an den Geliebten und schrie: »Noch nicht sterben!«

»Komm, Judith«, mahnte der Mann und zog sie nach der Tür.

»Wohin?« fragte sie wild. »Die Leute draußen weisen auf mich mit den Fingern, und Euch werden sie töten, wenn Ihr nicht von mir weicht. Hinweg von mir, Ihr seid bei einer Hexe!« Sie suchte sich ihm zu entwinden, aber sie sank wieder an seine Brust.

»Was die Hexerei angeht,« begütigte die Stimme Gottliebs hinter ihr, »so gibt es hier nur eine Hexe, die sogenannte Frau Venussin, sowie ihren Jungen, welcher den Hundenamen Amor führt. Und wenn Euch die Nachbarn hierzulande gehässig sind, so reitet davon. Wer vier starke Pferdebeine unter sich hat, dem steht die weite Welt offen, geht‘s nicht bei den Christen, so zieht er zu den Türken oder zu den Engländern, welche ich gleichfalls loben höre. Schaffe sie auf das Pferd, Bruder, denn dieser Ort ist ihr verleidet.«