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Buch lesen: «Die Ahnen», Seite 104

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»Es war etwas davon in der Zeitung zu lesen,« sagte der Korporal, »doch haben wir nicht viel darauf gegeben.«

»Bei uns aber wird‘s, wie ich fürchte, mancher teuer bezahlen«, sagte der Gast. »Wißt, die Polen haben die Schule von St. Johann in Thorn zu einem Jesuitenkollegium gemacht; darin liegt eine übermütige und liederliche Bande von adligen Polen, welche mit ihren Säbeln in der Stadt herumfegt und uns Bürgerkindern spinnefeind ist, weil wir nicht ihren Glauben haben und ihr trunkenes Geschrei nicht ruhig ertragen. In diesem Sommer hatten die Nonnen in unserer Neustadt eine große Prozession angestellt, und die jesuitischen Studenten mit ihren Säbeln waren auch dabei, wir aber, Gesellen und Kinder, standen außerhalb des Kirchhofs und sahen dem Spektakel zu. Als die Prozession bei uns vorbeikam, nahmen die meisten von uns um des lieben Friedens willen die Mützen ab, die Polnischen aber sprangen auf uns zu und schrien, wir sollten niederknien, und da wir widerstanden, zogen die bösen Buben ihre Säbel und hieben auf uns ein. Ich selber erhielt einen Schlitz am Ohr,« – er wies die Narbe – »so daß wir zornig wurden und die jungen Jesuiten zurückschlugen. Alsbald rotteten sie sich zusammen, liefen brüllend mit geschwungenen Säbeln durch die Gassen und fielen jeden Deutschen von unserem Glauben gewalttätig an, bis Herr Konsul Roesner einen von ihnen einstecken ließ. Da wichen sie zurück, kamen aber bald mit neuer Furie aus ihrem Kollegium hervor, zogen einen armen Studenten von der deutschen Stadtschule aus dem Hausflur, in dem er ruhig stand, schleppten ihn gefangen in ihr Kollegium und brüllten und rasten aufs neue durch die Gassen. Endlich riß uns jungen Burschen die Geduld, mancher war wie ich verwundet, auch wir liefen zu Haufen und drängten sie nach ihrer Schule zurück. Weil sie aber aus den Fenstern mit Steinen gegen uns warfen und mit Gewehren schossen, wurde das Volk wütend, drang in das Kollegium ein, zerschlug das Holzwerk von ihren Tischen und Bänken und verbrannte dies am Johanniskirchhofe in einem großen Feuer. Man sagt bei uns, daß vor langer Zeit an derselben Stelle die Pfaffen Dr. Luthers Bücher verbrannt haben. Die gesamte Bürgerschaft trat bewaffnet zusammen, mit Mühe gelang es den Herren Bürgermeistern, den Lärm zu stillen. Am anderen Morgen hießen wir Deutsche die Tumultuanten, die Tore blieben geschlossen, und vom Rat wurde nach uns gesucht. Ich hatte mich versteckt, wo mich niemand fand. Und die Sache schien zu Ende. Jetzt aber, im September, kam unversehens von Krakau eine polnische Kommission mit wildem Kriegsvolk in die Stadt gezogen, und es begann ein Nachforschen und Verhören, so feindselig und mit so grausamer Bedrohung, daß jedermann das Ärgste zu befürchten hatte, ja sogar unsere beiden Herren Bürgermeister wurden angefahren und wie Missetäter verhört. Da sagte mein alter Vater: Mach dich fort, denn jetzt naht der Tag, welcher prophezeit ist, wo es heißen wird: Das deutsche Thorn geht an die Polen verloren. Sieh zu, daß du dich ins Preußische durchschlägst, denn nur von dort kann uns Hilfe kommen. – Ich entwich bei Nacht über die Stadtmauer und hatte meine Not, bis ich über die Grenze gelangte.«

»Hier seid Ihr unter Landsleuten und in Sicherheit«, tröstete August. »Habt Ihr in Thorn zufällig ein deutsches Fräulein gesehen, welches bei euren Bürgermeistern aus- und eingeht und auf einem polnischen Schlosse wohnt?« – Er nannte den Namen.

»Das Fräulein kenne ich nicht, das Schloß aber gehört dem Woiwoden, der einer der schlimmsten Wüteriche gegen die Deutschen ist.«

Das also war das Glück des armen Dorchens unter Jesuiten und polnischem Adel! Der Korporal wurde einsilbig und überließ es seinem Beistand Böttcher, den Gast zu unterhalten. Die beiden sprachen leise miteinander, endlich begann Böttcher: »Der Thorner will sich bei unsrer Kompanie anwerben lassen, wenn er ein ordentliches Handgeld bekommt.«

»Wollt Ihr mit Eurem guten Willen zu uns, so seid Ihr mir willkommen,« sagte August erfreut, beredete mit dem Manne die Werbung und trank ihm darauf zu.

Der Thorner ging am nächsten Morgen mit Paß und Brief an den Hauptmann zur Garnison ab; der Korporal aber setzte seinen Weg fort, durchsuchte die letzten Dörfer und dachte vergnügt, daß ihm die saure Arbeit wohlgelungen sei. Am Nachmittage führte Böttcher auf dem Fußwege, der längs der Warthe hinlief, zu einer Stelle, wo dicht am Wasser einige Erlen standen und daran eine rohe Holzbank. »Hier ist eine Überfahrt,« sagte Böttcher, »und hier liegt der Kahn, auf dem der Pole herübergekommen ist, eine Stunde auf und ab ist dies der einzige Kahn. Warten Sie ein wenig, Herr Freikorporal, ich will zusehen, ob ich für mich etwas erfischen kann.« August setzte sich auf die Bank, und der Gemeine hakte die Kette des Kahnes los, sprang hinein, stieß ihn einige Schritt vom Ufer ab und setzte sich darin nieder. »Ich denke, Herr Korporal, wir haben unsere Geschäfte glücklich zu Ende geführt, und ich hoffe, Sie werden mit mir zufrieden sein.«

»Ja, Böttcher,« antwortete August behaglich, »du warst ein schlauer Gehilfe, und ohne dich hätte ich‘s nicht fertiggebracht.«

»Zuletzt habe ich der Kompanie einen Mann verschafft,« fuhr Böttcher selbstzufrieden fort, »der einen Zoll mehr hat als ich.«

»Der Hauptmann soll dein Verdienst erfahren, er wird sich wundern, wenn der Pole ankommt.«

»Da er kommt,« sagte der Soldat, »will ich gehen. Herr Freikorporal, ich desertiere.«

»Plagt dich der Teufel, Böttcher?« rief der überraschte Korporal. »Hast du denn einen Grund, unzufrieden zu sein?«

»Das gerade nicht,« versetzte der Gemeine, »aber es ist mir langweilig geworden. Ich will einmal zusehen, was jetzt unter den Polen los ist. Greifen Sie nicht erst hinter sich, Herr Korporal, ich habe in Ihre Taschenpistole heut früh Wasser gegossen.«

August zog die kleine Waffe hervor, die ihm der Vater beim Abschiede geschenkt hatte, und spannte den Hahn. »Ich hab‘s gemerkt, ich dachte, der gestrige Gewitterregen wäre schuld, ich habe aber frisch geladen.« Und er richtete die Waffe auf den Ungetreuen, der sich unterdes durch einen Stoß weiter abgebracht hatte. »Komm zur Stelle zurück, Kerl, du weißt, daß ich dich niederschießen muß, wenn du nicht gehorchst.«

»Ich lasse es darauf ankommen«, sagte Böttcher, sich weiterschiebend. Der Schuß krachte, Böttcher hielt mit dem Kahn still.

»Die kleinen Dinger treffen nicht weit. Daß Sie aber auf mich geschossen haben, ist mir um unserer Freundschaft willen unlieb«, rief der Ausreißer nach dem Ufer herüber. »Zur Entschädigung dafür nehme ich die Montur unseres braven Königs Knirps mit in das Polnische, sie gibt dort mehr Ansehen als ein Freipaß, denn die Polen traktieren jeden preußischen Ausreißer mit Branntwein. Adieu, Herr Freikorporal, kommen Sie gut nach Hause. Halten Sie sich auf dem Wege links, sonst geraten Sie in den Modder.« Er stieß den Kahn an das andere Ufer und verschwand im Weidengebüsch. August steckte seine Pistole in die Tasche und eilte zurück zum nächsten Dorfe. Dort erzwang er durch ernste Vorhaltungen die Begleitung des Schulzen und einiger handfester Leute. Nach längerem Umwege kamen sie über den Fluß und forschten in den Grenzdörfern jenseits nach dem Flüchtling. Er war bereits gemächlich über die Grenze gegangen. Da der Korporal wußte, daß die Verfolgung über die Grenze hinaus der Kompanie zwei Mann gekostet hätte statt des einen, so mußte er unverrichteter Sache über den Fluß zurück und seinen Weg allein fortsetzen. Wahrlich in düsterer Stimmung. Denn er ahnte, daß die Flucht seines treulosen Helfers ihm bei der Rückkehr üblen Empfang bereiten werde. Auch sonst waren seine Betrachtungen unerfreulich; die Sonne neigte sich zum Untergang, er sah um sich eine öde Moorgegend, aus der er sobald als möglich herauskommen mußte, von der Garnison war er noch weiter als einen starken Tagemarsch entfernt, und sein Geld ging zu Ende, denn er hatte dem angeworbenen Mann, der von allen Mitteln entblößt war, einen Vorschuß auf das Handgeld gemacht. Er schritt also unzufrieden mit sich und der Welt vorwärts und war froh, als er bei Sonnenuntergang aus den Sümpfen heraus in eine Kieferheide gelangte. Der Abend wurde kalt und finster, der Weg schien endlos, zuletzt erkannte er in einer Lichtung die Umrisse einiger Gebäude und hörte Hundegebell. Er ging darauf los und kam an die Hütte eines Teerbrenners, den er durch starkes Klopfen am Fensterladen endlich bewog, die Haustür aufzuschließen. Nach langen Verhandlungen erlaubte der ungefällige Mann ihm ein Nachtlager auf dem Heuboden, wo der Gast frierend und bekümmert und keineswegs beruhigt über seine Sicherheit sich in halbem Schlummer umherwarf. Als er bei grauendem Morgen aufbrach, goß der Regen in Strömen, und der Brenner weigerte sich, etwas von dem einzigen Laib Schwarzbrot zu verkaufen, der den Vorrat des Hauses ausmachte; kaum war Auskunft über den Weg zur nächsten Stadt zu erhalten.

Als August endlich eine kleine Landstadt erreichte, war seine Kraft erschöpft; müde, durchnäßt, hungrig und mit leerer Tasche zog er ein und sah auf dem Markte nach einem Quartier aus. Da stand an der Einfahrt des Eckhauses ein junger Mann in Hemdsärmeln, rotbäckig, mit breiten Schultern und einer offenen Miene, welcher ihn anredete: »Herr Sergeant, wonach sehen Sie sich um?« August antwortete: »Nach einem guten Wirt.«

»Kommen Sie herein«, sagte der Mann. Er führte ihn in eine große Stube, in welcher eine hübsche junge Frau saß, ihr Kind auf dem Schoße. Die Stube war sauber mit gelber Farbe getüncht, rotgestrichene Tische und Bänke standen darin, und im Ofen brannte ein wohltätiges Feuer. August grüßte die Frau und fragte, wie Soldatenbrauch war, nach dem Namen des Wirtes. »Ich heiße Schulze,« sagte dieser, »und bin ein Brandenburger. Räume die Ofenbank, Pine, damit der Herr Sergeant sich trocknet.« August setzte sich und genoß schweigend die behagliche Wärme, während der Wirt ihm mit untergeschlagenen Armen zusah. Endlich begann der Gast: »Lieber Herr Schulze, mich hungert.«

»Es ist schon gesorgt«, antwortete der Wirt.

»Aber geben Sie mir keine Mahlzeit,« fuhr August fort, bedrückt durch seine Geldlosigkeit, »denn ich habe nur wenig in der Tasche.«

»Das wird sich alles finden«, sagte Schulze. »Es ist Mittagszeit, und auch wir wollen essen. Sie müssen vorlieb nehmen mit dem, was wir im Hause haben. Pine, decke auch für den Herrn Sergeanten.«

Die Frau setzte das Kind ihrem Manne auf das Knie und ging behend nach der Küche. Der Wirt sah ihr wohlgefällig nach und nickte dem Gaste zu: »Sie versteht‘s.« Darauf ließ er seinen Jungen auf dem Knie reiten, zuerst langsam, wie die Bauern, dann im Trabe wie die jungen Herren, bis der Kleine ins Feuer kam und seinerseits durch »Hott« und »Hü« den Vater antrieb. Unterdes legte die Wirtin ein reines Tischtuch auf und brachte die Speisen, deren kräftiger Geruch den Hungrigen mit frohen Hoffnungen erfüllte.

»Kommen Sie, Herr Sergeant,« sagte Schulze, »nichts geht über einen Teller Grützesuppe, wenn man durchnäßt ist.«

Der Gast aß wacker, so daß er sich selbst seines Appetits schämte, der Wirt aber gab ihm darin nichts nach, während er mit der Frau in freundlichem Zureden abwechselte und aus einer großen Kanne fleißig Kottbuser Bier einschenkte. Dabei erzählte der Korporal ein wenig von seiner sächsischen Heimat und von dem Kommando, welches ihn hierherführte, und verbarg nicht, daß ihm die Betrübnis der Leute, welche er aufgesucht, die Arbeit oft schwer gemacht hatte.

»Ich glaub‘s wohl,« sagte der Wirt, »denn manchen trifft es hart und grausam. Jedoch dazu sind wir alle da, die einen zahlen die Steuern, während die anderen marschieren, damit die Fremden Respekt vor uns behalten. Als mein Großvater jung war, hausten die fremden Kriegsvölker hier am Orte wie Mordbrenner und Kannibalen, und die Bürger wurden wie die Hunde erschlagen, von den Weibern und Kindern gar nicht zu reden. Als aber mein Vater jung war, hieben wir Brandenburger den Schweden, der sich noch einmal in das Land gewagt hatte, mit unseren Fäusten hinaus; seitdem haben wir Sicherheit, unsern Weibern wird keine Schmach mehr angetan, und unsere kleinen Kinder werden nicht mehr unter die Hufe der Pferde geworfen. Wenn nur von den Herren Offizieren Billigkeit geübt wird, so ist die Last für das Volk zu ertragen. Unsere Landeskinder, soweit sie wirklich eingezogen werden, dienen nicht gar lange und kommen klüger nach Hause zurück, als sie gegangen sind. Ich denke, es ist bei uns in Stadt und Land, obgleich wir viele Soldaten unterhalten, mit der Nahrung und dem Verdienst nicht schlechter bestellt als bei Ihnen in Sachsen oder anderswo in Deutschland. Denn unser König führt einen schweren Stock, aber er sorgt auch wie ein Vater für die Blauen und für uns andere in Hemdsärmeln.«

August freute sich über die kluge Rede, denn auch er fühlte zuweilen wieder den Stolz eines Preußen, und er saß mit seinem Wirt längere Zeit in gutem Gespräch zusammen, obwohl er die Mattigkeit immer noch merkte. Als er nach Tisch aufbrechen wollte, forderte er seine Rechnung; da sagte Schulze: »Drei Maß Bier zu einem Drittel, welches auf Sie kommt, macht soundso viel; das Essen bezahlt der liebe Gott.«

Und als August sich sträubte, diese Gastfreundschaft anzunehmen, schnitt Schulze seine Einrede durch, indem er nachdrücklich begann: »Lieber Herr Sergeant, ich habe aus Ihren Worten gemerkt, daß Sie von gutem Herkommen sind und zuweilen mehr Geld im Beutel haben, als vielleicht heut. Bietet sich Ihnen Gelegenheit, so können Sie damit einmal einem armen Soldaten etwas Gutes tun. Ich aber nehme von Ihnen weiter nichts; der Herr hat mir ein gutes Stück Brot beschert; meine Frau, die Sie hier sehen, habe ich geheiratet und diesen Gasthof mit dazu bekommen. Wir sind glücklich in unserem Hauswesen, warum sollte ich Ihnen nicht dies wenige angedeihen lassen? Nehmen Sie vorwillen.« Die Hausfrau sprach leise zu ihrem Mann. »Die Frau sagt mir eben,« fuhr Schulze fort, »daß ich Sie zum späten Nachmittage nicht fortlassen soll, weil Sie erschöpft sind. Nun weiß ich, daß Herrendienst allem vorgeht, aber wenn es Ihnen nichts verschlägt, so ruhen Sie sich erst in einem ordentlichen Bette aus, heut können Sie doch nicht mehr weit und morgen holen Sie mit frischer Kraft das Versäumte ein. Das ist Pines Meinung, und die Frau hat recht. Schlagen Sie ein.« – Er hielt ihm die Hand hin. August schlug dankbar ein. Als er am anderen Morgen aufbrach, schritt er zwischen dem Wirt und der Wirtin bis zum Haustor, wo zum letzten Abschied auch noch das Kind dem Gaste die Hand reichen mußte.

Herr Schulze und seine Frau wußten nicht, wie wohl ihre Freundlichkeit dem vereinsamten Jüngling tat, der auf dem Weitermarsch immer daran dachte, daß sein Vater gern hilfreich gegen Notleidende gewesen war, jetzt zahlten Fremde dem Sohne die Guttaten zurück. Auch sein harter Dienst dünkte ihm in diesen Stunden nicht mehr eine unwürdige Sklavenarbeit, die einfachen Worte des Brandenburgers hatten ihn gemahnt, daß etwas Großes darin war.

Am späten Nachmittag erreichte August die Garnison. Da der Hauptmann nach Tisch leicht unwirsch wurde, so besorgte der Heimkehrende, daß sein Aufenthalt bei dem freundlichen Wirt ihm jetzt seinen Rapport erschweren könne. Diese Annahme betrog ihn nicht. Als er eintrat, empfing ihn der Hauptmann mit Vorwürfen über seine lange Abwesenheit, auch der Bericht über die gelungene Ausführung des Auftrags minderte den Unwillen nicht, und als der Korporal zuletzt die Flucht des Böttchers berichten mußte, verlor der Hauptmann alle Herrschaft über sich, schleuderte rohe Flüche auf das Haupt seines Untergebenen und beschuldigte ihn der Willfährigkeit gegen den Entflohenen und der Feigheit bei der Verfolgung. Da geriet auch August in Zorn und rief mit blitzenden Augen: »Herr Kapitän, ein solcher Angriff auf meine Ehre ist ungerecht und unvernünftig.« Der Wütende riß den Degen aus der Scheide: »Ihr Höllenhund wollt noch räsonieren?« und drang mit der blanken Waffe auf ihn ein. Der Korporal sprang, um sich dem Trunkenen zu entziehen, zur Tür hinaus und die Treppe hinab, aber der Offizier rannte ihm nach, fuchtelte ihm mit der Degenklinge auf den Rücken und rief zu dem Feldwebel, welcher mit einigen Unteroffizieren auf der Straße vor dem Quartier stand: »Führt den Sakramenter in Arrest.«

August hatte bis dahin das Glück gehabt, niemals die Züchtigung mit der flachen Klinge zu erfahren, welche den Unteroffizieren und Junkern zugeteilt wurde, weil sie den Betroffenen nicht die Ehre minderte, was die Stockschläge getan hätten, die den Gemeinen zukamen. Als er nun heut so schwere Kränkung erfuhr, wo er freundliche Billigung erwarten durfte, empörte sich seine Seele gegen die Ungerechtigkeit, und wie der Feldwebel ihm nach dem Seitengewehr faßte, sprang er zurück und legte die Hand an den Griff. Da drang der Hauptmann mit entblößtem Degen aufs neue gegen ihn ein und hieb ihn über die Hand, daß das Blut hervorspritzte. Die Unteroffiziere drängten sich in guter Meinung an den Verwundeten, um diesen am Gebrauch seiner Waffe zu hindern, und der Feldwebel entriß ihm das Seitengewehr; er wurde auf die Wache geführt und dort auf Befehl des nachstürmenden Hauptmanns mit der gesunden Hand an die Strafsäule geschlossen, während der Feldscher geholt ward, die Wunde zu verbinden. Der Mann sagte bedauernd: »Es hat wenig gefehlt, daß Ihnen die Hand für immer gelähmt wurde.«

August saß totenbleich und trotzig in der strengen Haft. »So mußte es kommen,« dachte er, »damit ich der ungerechten Fesseln entledigt werde. Lieber will ich dies mühselige Leben in der Jugend endigen, als mich fernerhin in so schändlicher Weise zum Sklaven machen lassen.« Und kein tröstendes Zureden der Unteroffiziere vermochte ihm ein Wort abzugewinnen. Nach einer Stunde kam der Hauptmann, den der Vorfall ernüchtert hatte, in ganz veränderter Stimmung, er gebot den Arrestanten loszuschließen und versuchte begütigende Worte, aber er erhielt nur die Antwort: »Ich war des Königs Unteroffizier, aber nicht Ihr Sklave.«

Nach einigen Tagen wurde der Korporal zu dem gütlichen Verhör geführt, welches der kriegsgerichtlichen Untersuchung vorausging. Dazu waren ein Premierleutnant und der Auditeur vom Stabe gesandt, der Sekondeleutnant von der Kompanie zugezogen. August wußte, daß er sich vor einem Soldatengericht keines anderen schweren Unrechts schuldig gemacht hatte, als der Weigerung, sein Seitengewehr abzugeben, und er versuchte sich zu verteidigen: »Ich bin nie bestraft worden und fühlte in jenem Augenblick am tiefsten die Schande, auf der Straße arretiert und ohne Gewehr durch die Stadt nach der Wache geführt zu werden. Ich hatte nicht die Absicht, mich gegen die Verhaftung selbst aufzulehnen, und wollte nur das Gesuch stellen, mich mit dem Seitengewehr nach der Wache gehen zu lassen, als ich mit dem Degen angefallen und verwundet wurde.« Darauf bat er zu Protokoll zu nehmen, wie der Hauptmann am ersten Tage der Rückkehr sein Abschiedsgesuch behandelt, wie er ihn von der Fahne weg zu angestrengtem Dienst in die Schreibstube gesetzt und ihm zuletzt das schwierige Offizierskommando zugeteilt habe. Er erzählte das Benehmen bei der Rückkehr, die ungerechten Vorwürfe, die ihm wegen der Desertion des Böttcher gemacht worden, den nicht er, sondern der Hauptmann selbst ausgewählt. »Wie kann mir ein Vorwurf gemacht werden, daß ich ihn, der an meiner Seite ging, in den Kahn springen ließ, da ich, auf seine Hilfe angewiesen, vier Wochen mit ihm im Lande umhergezogen bin, wo er jeden Tag eine Gelegenheit finden konnte, zu entweichen? Was mir auch geschehen möge, ich erkläre hier, daß ich mich keines strafbaren Unrechts schuldig weiß, wohl aber mit bitteren Schmerzen fühle, daß ich grausam behandelt und in meiner Ehre gekränkt worden bin.«

Als er in den Arrest zurückgeführt ward, empfand er den besten Trost eines empörten Gemütes, daß er seinem Herzen Luft gemacht und, was ihn lange bedrückt, freimütig ausgesprochen hatte. Die Haft wurde ihm durch die Teilnahme der Unteroffiziere erleichtert; er vernahm auch, daß sein Fall schwerlich vor ein Kriegsgericht kommen werde, und daß der Hauptmann für einige Wochen beurlaubt sei.

Eines Abends saß der Korporal beim Kreuzerlicht über einem Buche, als Unteroffizier Roncourt eintrat. Der Alte hatte ihn so oft besucht, als der Dienst gestattete und durch sein Geplauder bleischwere Stunden erträglich gemacht, heut sah er sehr ernsthaft aus: »Demoiselle Friederike wünscht Sie zu sprechen.« August fuhr in die Höhe: »Sie wissen, daß das unmöglich ist.«

»Es ist keiner von den Offizieren bei Wege. Der Unteroffizier der Wache sitzt in der Stube und sieht nichts, der Posten unter dem Gewehr wird Ihnen den Rücken kehren, Sie müssen innerhalb der Vergatterung bleiben; das Fräulein steht draußen. So können Sie mit ihr reden.«

»Was ist geschehen?« fragte August mit trüben Ahnungen.

»Sie geht fort«, sagte Roncourt traurig.

Der Jüngling eilte hinter ihm ins Freie. An dem Lattenzaun sah er eine verhüllte Gestalt, er ging auf sie zu und suchte durch die Stäbe ihre Hand zu fassen, die sie ihm nicht entzog.

»Der Herr war meinem verstorbenen Vater lieb«, begann das Mädchen leise. »Es ist zum letzten Male, daß ich Sie sehe, und ich wollte Ihnen Lebewohl sagen.« Sie stützte sich an den Zaun und weinte.

»Warum müssen Sie fort?«

»Ich habe Herrn Roncourt genötigt, mir zu bekennen, woher die Unterstützung kam, durch welche ich in der letzten Zeit hier erhalten wurde. Ich weiß jetzt, wie großmütig der Herr an mir gehandelt hat, und ich danke Ihnen dafür von ganzer Seele. Aber das darf nicht so fortgehen. Dem Andenken an meinen Vater bin ich schuldig, mir andere Unterkunft zu suchen. Es ist mir Aussicht auf eine Stelle gemacht, morgen früh reise ich mit der Frau eines Kaufmanns ab.«

»Wohin?« fragte der Jüngling wie betäubt.

»Fragen Sie nicht, Monsieur König, vergessen Sie mich; nein, denken Sie zuweilen an mich wie an eine Verstorbene; ich werde Ihrer Herzensgüte gedenken, so lange ich lebe.« – Er fühlte den bebenden Druck ihrer Finger, da zog er in der Bewegung ihre Hand durch den Zaun und küßte diese. Das gebeugte Mädchen richtete sich auf und sagte fast freudig: »Ich danke Ihnen für diesen letzten Gruß. Ich gelobe dem Herrn, wenn er in Zukunft jemals von mir erfährt, es soll demselben nicht leid tun, daß er einem Mädchen von meiner Lage die Hand geküßt hat.« Sie zog ihr Tuch um sich, und kaum hörbar klang ihr Lebewohl, dann verschwand sie in der Dunkelheit; der Gefangene aber legte sein Haupt an den Zaun, der ihn von ihr schied.

Auch dieses Band, welches ihn noch in der Garnison festhielt, war zerrissen. Er saß den Rest des Abends in dumpfem Schmerze auf seiner Bank und suchte sich mit dem Gedanken zu ermutigen, daß solche Freundschaft auf die Länge doch nicht ohne Worte und Verkehr geblieben wäre. Und was hätte dann werden sollen? Erst in dem Weh, welches er nach der Trennung fühlte, wurde ihm bewußt, wie sehr sein Herz an der Verschwundenen hing. Als der Franzose wieder eintrat, machte er ihm heftige Vorwürfe, daß er gegen das Abkommen den Anteil des Jünglings an den Sendungen verraten habe.

Roncourt stellte sich feierlich vor ihm hin: »Sie haben Grund, Monsieur König, mit mir unzufrieden zu sein, und wenn Sie auf Genugtuung bestehen, so werde ich mich nicht weigern. Aber mir blieb keine Wahl, denn Demoiselle Friederike forderte die Mitteilung um ihrer Ehre willen, und sie hatte ein Recht dazu. Wenn Ihnen, dem jungen Manne, leid ist, daß sie geht, was soll ich, der Alte, sagen, der mit ihr fast alles verliert, was seinem Leben eine Freude war? Sie hat mir den Vogel in Kost gegeben, wollte ihn aber nicht verschenken, denn sie meinte, er wäre ihr vor aller ihrer Habe lieb, und sie hoffe, mich und den Vogel noch einmal wiederzusehen. An den Trost muß ich mich halten.«

Die Haft hatte einige Wochen gedauert, als der Feldwebel eilig den Gefangenen aufrief. »Mein Herr Bruder soll sogleich zum Major Vogt kommen; dieser ist aus dem Stabsquartier eingetroffen und ich denke, er bringt auch in deiner Sache die Sentenz.« August geriet in große Bewegung, der Überbringer seines Urteils erschien ihm glückverheißend, dennoch bangte ihm jetzt vor der Entscheidung. Sein Empfang belehrte ihn, daß die Sorge nicht unbegründet war, denn der Major begann mit strenger Miene: »Ihr habt Euch gegen Euren Kapitän schwer vergangen, Ihr habt ihm ins Angesicht sein Verhalten ungerecht und unvernünftig gescholten und habt Euch, die Hand am Seitengewehr, der Verhaftung widersetzt. Wenn er darauf die blanke Waffe gebraucht hat, so habt Ihr Euch Glück zu wünschen, daß Ihr nur mit einem leichten Hiebe davongekommen seid, ein anderer hätte Euch schlimmer mitgespielt. Seine Hoheit der Markgraf haben mir befohlen, Euch diese Order vorzulesen: Der Freikorporal König hat künftig den Respekt gegen seinen Kapitän besser zu beobachten, widrigenfalls man ihn mit der empfindlichsten Strafe belegen wird. Für diesmal ist er wegen seiner Jugend und bewiesenen Applikation aus besonderer Gnade zu pardonieren, auch wieder in Dienst zu stellen. – Dankt unserem gütigen Chef,« ermahnte der Major wieder gebieterisch, »wäret Ihr in meiner Kompanie gewesen, es wäre Euch viel schlechter ergangen.«

»Hätte doch der Himmel gefügt, daß mir dieses Glück zuteil geworden wäre,« antwortete August, »der Dienst ist mir im letzten Jahre schwer gemacht worden.«

»Harter Dienst erzieht eher zum Soldaten, als leicht gewonnene Zufriedenheit«, sagte der Major. Dann fuhr er in anderem Tone fort: »Mit großem Bedauern habe ich den Tod Eures Vaters vernommen, Eure Anzeige fand ich erst in diesen Tagen bei meiner Rückkehr vor. Wäre der würdige Mann noch am Leben und hätte er von diesem Streit mit Eurem Hauptmann gehört, er würde Euch mit den Worten ermahnt haben: Mein lieber Sohn, dein Hauptmann darf gegen dich nicht Unrecht behalten.« Und er legte ihm väterlich seine Hand auf die Schulter.

Das warme Wohlwollen, welches hinter dieser Mahnung erkennbar wurde, gab dem Korporal den Mut, sein früheres Gesuch um Entlassung zu erwähnen und für jetzt wenigstens um Urlaub zu bitten. Da aber furchte sich die Stirn des Majors. »Ein solches Gesuch vermag ich nicht zu befürworten, auch ist die Zeit dafür übel gewählt. Es stehen Verwicklungen bevor, welche einem Soldaten verbieten, seine Fahne zu verlassen.« Mit diesem Bescheide mußte August vorliebnehmen. Als der Hauptmann einige Tage darauf in die Garnison zurückkehrte, fragte er erstaunt den Korporal: »Wie? Seid Ihr los? Was habt Ihr für Strafe bekommen?«

»Der hohe Chef hat mich begnadigt.« Da sagte der Hauptmann: »Haben gute Freunde diesmal bei Seiner Hoheit für Euch gesprochen, so werde ich Euch von heut ab auf den Dienst passen. Sobald ich die geringste Widersetzlichkeit merke, sollt Ihr die Bekanntschaft mit meinem Degen in ganz anderer Weise machen als bisher.«

Der Unteroffizier schwieg und machte kehrt.