Wiederbelebte Geschichten

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Grete Ruile

Wiederbelebte Geschichten

Engelsdorfer VerlagLeipzig2019

Von Grete Ruile

sind im Engelsdorfer Verlag erschienen:

Lebenspunkte ISBN 3-939144-23-1

Gefühlspotpourri ISBN 3-86703-265-3

Gedankenmelodie ISBN 3-86901-240-4

Durchwobenes ISBN 978-86268-255-3

Eingefangene Alltagsmomente ISBN 978-3-86268-660-5

Empfundene Momente ISBN 978-3-95488-403-2

Schlichte Wahrheiten ISBN 978-3-95744-932-0

Lyrisches Naturfenster ISBN 978-3-96145-220-0

Bibliografische Information durch Die Deutsche Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright 2019 Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte bei der Autorin

Hergestellt in Leipzig Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Umschlaggestaltung: © Felix Hohlwegler unter Verwendung einer Bleistiftzeichnung © Annette Ruile

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2019

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Wasserfrüchte

Das Geheimnis der Toten von Falein

Kleines Alltagserlebnis

Der Tagtraum

Colette

Der schwarze Punkt

Chagalls Inspiration

Das zerplatzte Geschenk

Der einsame Schwan in seiner Märchenwelt

Daheim in unserer hohen Tanne

Der Neuankömmling

Der außergewöhnliche Besucher

Stumm aber nicht dumm

Selbstbedienung

Wo geht denn hier die Sonne auf?

Grock der wiederentdeckte Clown

Aus Elisabeths Notizen

Auf Hermann Hesses Spuren

Fast ein Witz

Alt und weise

Die Quittung

Eisgekühlt

Der Sprachfehler

Ein stummer Dialog

Ein Kinderwunsch

Schokolade

Dank an Einstein

Die ersten Kochkünste meines Mannes

Eine Reise veränderte mein Leben

Erinnerung an Badenweiler

Verlockendes Weihnachtsgebäck (Aus meiner Kindheit)

Weihnacht im Hotel Maritim in Würzburg

Die Enthüllung

Grenzenlose Völkerverständigung

Meine Puppe (Weihnachtserinnerungen)

Der Weihnachtswunderstern

Der Talisman

Durch Inspiration geboren

Der Pilgerweg zu allen Vier Jahreszeiten

Das schönste Konzert

Binz an der Ostsee; eine Zeitreise

Erlebtes in St. Moritz

Der Skifahrer

Ein zartes Geschenk

Besuch auf der Erde

Science-Fiction: Manipuliert


Wasserfrüchte

Ein Clochard kam an einem heißen Sommertag gemächlich über den Bürkliplatz in Zürich.

Es war Markttag. Die Händler hatten ihre Waren begehrlich auf den Verkaufsständen ausgebreitet. Schön und farbenfroh sah es aus, es ermunterte zum Kauf. Da entdeckte er einen Stand mit Wassermelonen. Die Farben ihrer glatten Schale variierten zwischen dunkelgrün und hellgrün, gestreift. Ihre Formen waren rund bis länglich. Manche wogen nur wenig. Doch am Boden, rechts vom Stand, lagen drei riesige Wassermelonen. Phantastische Exemplare!

Der Clochard schätzte sie auf etwa zwanzig Kilogramm.

Auch aufgeschnittene, halbierte Melonenschnitze, mit intensiv rotem, süßem Fruchtfleisch lagen zum Verkauf bereit. Sie ließen ihm das Wasser im Munde zusammenlaufen.

Wie mürbe sie aussahen! Er liebte Wassermelonen. Immer wieder drang derselbe Satz des Marktschreiers an sein Ohr: »Leute, kauft Melonen, Melonen, die besten Sommerfrüchte für heiße Tage, mit 93 Prozent Wasser. Kauft Melonen!«

Die Hitze schien dem Clochard unerträglich. Er spürte, wie ausgedörrt seine Kehle war. Durst quälte ihn.

Da packte es ihn. Er verspürte den unbändigen Drang, wenigstens einmal an den geviertelten duftenden Melonenschnitzen zu riechen. Mit den Ellbogen drängelte er sich durch die Kunden vor, an den Stand. Sie wichen erschreckt zurück. Tief beugte der Mann seine Nase hinunter, bis zu den Melonenteilen. Genüsslich schloss er die Augen und sog ihren süßen Duft ein.

»Hör mal, mein Freund«, schrie da der Melonenverkäufer aufgebracht, »du vertreibst mir meine Kunden, was soll dein unmögliches Verhalten! Kauf dir eine Melone oder verschwinde! Hast du verstanden?«

Erschrocken wich der Clochard zurück.

Der Händler machte eine Handbewegung gegen ihn, wie wenn man eine lästige Fliege verscheucht. »Hast du Geld oder nicht?« Da griff der Angesprochene mit stummer Gebärde in seine abgetragene Hose und zog die Hosentaschen heraus.

Die Taschen waren leer! Der Händler wiederholte seine abschätzige Handbewegung gegen ihn. Wortlos zog der Clochard nochmals an seinen Hosentaschen. Plötzlich klimperte es und ein Rappen fiel auf den Boden. Er drehte sich kurz auf dem Pflaster um. Rasch stellte er seinen Fuß auf das Geldstück und hob es auf. Freudig rief er: »Endlich hab ich dich wiedergefunden! Mein Glücksrappen!« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Der Verkäufer des Melonenstandes dachte an die vielen großen Münzen und Scheine in seiner Kasse. Hatten sie ihn je einmal glücklich gemacht? Ein Lächeln in sein Gesicht gezaubert? War dieser Glücksrappen etwa ein Hinweis für ihn, etwas menschlicher zu sein?

Zu seiner eigenen Überraschung hörte er sich rufen: »He, du, mit deinem Glücksräppler! Komm her, ich will dir etwas schenken!«

Der Clochard traute dem Frieden nicht. Vorsichtig kam er näher.

»Komm! Ich will dir wirklich etwas geben.« Der Verkäufer nahm einen großen Plastiksack und füllte ihn randvoll mit Melonenvierteln, diesen gab er dem Landstreicher. Als er ihm in die Augen schaute, sah er darin ein Leuchten, wie bei einem Kind, das man reich beschenkt.

Schnell nahm der Clochard den Sack und lief eiligen Schrittes davon.

 

»Was für ein beglückendes Gefühl ist es doch, Freude zu bereiten«, dachte der Melonenhändler. »Ich hatte es fast schon vergessen.«


Das Geheimnis der Toten von Falein

In der Stadt Venedig lebte einst ein Tuchhändler und Schneider. Man nannte ihn Tenore, weil er ein wunderbarer Sänger war. Tenore war dafür bekannt, dass er nur mit ganz erlesenen Stoffen handelte.

Dazu nahm er lange Schiffsreisen auf sich, bis in den Orient, um die Stoffe nach Venedig zu bringen. So edel wie seine Stoffe waren, so edel waren auch sein Benehmen und sein Auftreten.

Der Handel machte ihn reich. Er konnte sich alle Freuden des Lebens leisten. Einzig eine liebevolle Frau fehlte ihm zum vollkommenen Glück.

Eines Tages erhielt er eine Botschaft des Dogen von Venedig. Der Doge war das Oberhaupt der aristokratischen Republik von Venedig, ein äußerst einflussreicher Mann. Die Botschaft des Dogen lautete: »Bringen Sie sofort Ihre schönsten Stoffe in meinen Palast!« Sein Blut geriet in Wallung. Er war erregt! Das könnte eine Handelsmöglichkeit mit großer Gewinnspanne geben, ging es ihm durch den Kopf. Wie befohlen, eilte er sofort zum Palast.

Am Eingang standen kostbare Kübel mit Intarsien, die bepflanzt waren mit Palmen und duftenden Blumen. Schon hier spürte man Reichtum und Luxus.

Er wurde zum Dogen geführt. Dieser gab ihm zu verstehen, noch einen Moment zu warten.

Der Doge hatte den Teppich der Lustbarkeiten ausgebreitet. Es gab ein Gelage mit vielen Frauen, denen der Doge aus wasserklaren Kristallkaraffen ständig Wein kredenzte. Der Schneider sah, dass der Doge berauscht war. Er wirkte würdelos auf ihn. Nachdem die Munterkeit auf dem Höhepunkt angelangt war, wandte er sich lächelnd zu mir. »Diese Frauen sind für mich nur Gespielinnen.« Er erklärte: »Ich liebe meine Frau, doch ich spüre, ihr inniges Gefühl gehört mir nicht. Vielleicht hilft es, sie mit den edelsten Gewändern auszustatten. Du sollst ihr nur deine allerschönsten Tuchballen präsentieren. Ein Diener wird dich ausnahmsweise in ihr Gemach geleiten.« Der Diener eilte mit ihm durch verschiedene Gänge des Palasts. Es kam ihm vor wie in einem Irrgarten. Vor einer goldenen Türe hielt er an und klopfte. Zaghaft wurde sie geöffnet.

Im Eingang der Türe stand eine liebliche Frauengestalt, die uns aus großen, scheuen Augen ansah. Der Diener erklärte ihr mein Kommen. Sie war erfreut und wünschte sich von mir, dass ich ihr eine Festtagsrobe schneidere. Ich geriet sofort in ihren Bann, konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Sie spürte es, wurde dunkelrot vor Verlegenheit. Ich war beschämt! Für die Anprobe vereinbarten wir mehrere Termine. Die Wahl fiel auf einen meiner schönsten Stoffe, der mit Goldfäden durchwoben war. Bei jeder Anprobe flatterte mein Herz ein wenig mehr wie ein Schmetterling im Sonnenschein. Ich hatte mich verliebt.

Zu meinem Entsetzen entdeckte ich plötzlich beim Anproben Zeichen von Gewalt an der Dogaressa. Ihre Handgelenke waren blutunterlaufen. Es sah aus, als sei sie an Händen und Füßen gefesselt worden. Ihre Augen waren glanzlos geworden. Das hielt ich nicht mehr aus.

Ich musste reagieren, musste sie ansprechen. Herzzerreißend berichtete sie, dass der Doge, ihr Ehemann, sie angebunden hatte, weil sie ihm nicht zu Willen war. Sie umfasste mich, flehte mich an, ihr zu helfen. Da gestand ich ihr meine Liebe. Der Gedanke zur Flucht wurde geboren.

Nun erzählte ich meiner Geliebten von dem ihr unbekannten Land.

»Als Fernkaufmann bereiste ich oft die Schweiz. Auf dem Maiensäss Falein ob Filisur, in Graubünden, kann ich meine Waren gut verkaufen. Die Menschen haben ein Herz gewinnendes Wesen. Sie sind offen und unverdorben. Man fühlt sich hier rasch wie zu Hause.

Dort könnten wir Frieden finden und sorglos leben. Wir werden nicht in einem Palast wohnen, aber wir werden umgeben sein von unberührter Natur, von Bergen, Wäldern und Seen.

Außerdem spricht man in den Bergregionen mehrere italienische und lombardische Dialekte.

Ist das nicht erfreulich für dich?«

Wenn ich so zu ihr sprach, leuchteten ihre Augen wieder. Eines Tages sagte sie: »Ich bin nun bereit, dir in die Schweiz zu folgen. Mein Gemahl, der Doge, ist sehr grob und gewalttätig gegen mich, ohne jedes Feingefühl. Er verwechselt Liebe mit Besitz. Einen dringenden Wunsch habe ich aber noch. Lass mich meine alleinstehende Mutter mitnehmen.«

»Selbstverständlich kann sie uns begleiten.« Das Blut des Wohlwollens durchströmte meine Adern. Mein ganzes Denken war, Sarina von diesem Tyrannen zu befreien. Dann sagte ich zu ihr: »Ich darf dir aber nicht verheimlichen, dass wir auf unserer Reise nach Falein auch auf Schmuggler, Wilderer oder Wegelagerer treffen könnten. Viele Menschen benutzen die Wege der Alpen von Nord nach Süd. Das macht das Reisen oft unangenehm und gefährlich. Bist du dir sicher, dass du das alles auf dich nehmen willst?« Sarina schaute mich aus ihren großen rehbraunen Augen an. »Ja, ich will alle Strapazen und Gefahren auf mich nehmen, mein Geliebter, um bei dir zu sein und mit dir zu leben.«

Fieberhaft bis ins letzte Detail, versuchte ich jetzt unsere Reise vorzubereiten. Über das Adriatische Meer vom Golf di Venezia nach Triest, Richtung Südtirol, schien mir eine gute Wegstrecke zu sein.

Das Adriatische Meer ist hier weniger stürmisch. Durch das Etschtal über den Karawanenweg zwischen Italien und der Schweiz, wollte ich unsere neue Heimat Falein ob Filisur erreichen. Dort, so hoffte ich, würden wir in Zukunft frei und geborgen sein.

Ohne bemerkt zu werden, konnte Sarina den Palast verlassen. Ihre Mutter trafen wir am Hafen, von wo wir mit einer Barke das Meer überquerten. Auf dem Festland ging es nur langsam vorwärts. Die Bergwege in der Schweiz sind steinig und mühevoll zu gehen, die Nächte im Freien kühl. Die Frauen trugen zum Glück warme Kleider wie die Bergbäuerinnen.

Lange Baumwollröcke und Kapuzenumhänge aus Wolle, dazu Bundschuhe mit dicken Gummisohlen.

Ich trug Beinlinge und über dem Hemd einen Baumwollgugel mit Kapuze aus Wollfilz, dazu lange Stiefel. Meine Last auf dem Rücken war ein dick geschnürtes Bündel mit Decken und Proviant. Diese Decken breitete ich, wenn nötig, bei Tag und Nacht für uns aus.

Oft saßen wir da wie staunende Kinder, begeistert von den gigantischen Bergen, von der außergewöhnlichen Alpenflora, von Gämsen, Murmeltieren, Adlern und vielen uns unbekannten Tieren. Die Bäume verwischten sich beim Eindunkeln zu bizarr-seltsamen Formen wie bei einer Theaterkulisse. Am Morgen weckte uns der Sonnenglast über den Bergen. Wir waren glücklich. Es gab nur noch einen engen Tobel zu durchwandern und wir waren am Ziel.

Im Palast hatte man inzwischen das Fehlen der Dogaressa bemerkt. Den Dogen überkam die Wut wie ein Feuer des Wahnsinns. Dass es diese Frau wagen konnte, ihm zu widerstehen, zu fliehen. Sofort eilte er zu ihrer engsten Vertrauten, ihrer Dienerin. Er presste den Fluchtweg regelrecht aus ihr heraus, indem er sie mit harten Strafen bedrohte. Seine Herrenmacht hatte er verloren, das durfte er nicht dulden! Sofort ließ er seinen treuen Palastwächter rufen, einen ausgezeichneten Soldaten. »Sie haben den Auftrag, mir unter allen Umständen, die Dogaressa zurückzubringen, und sei es mit Gewalt. Das ist ein Befehl!«

Tenore und die Frauen sahen das Ziel schon vor sich, als am Ende des Tobels breitbeinig ein Wächter stand, wie der Teufel aus dem Ort der Verdammnis.

Sarina kannte ihn. Schon oft hatte sie erlebt, wie skrupellos er war. Angst kroch in ihr hoch.

»Stehen bleiben, keinen Schritt weiter«, rief er laut! Jetzt wussten sie, dass sie in der Falle saßen.

»Gib mir Sarina her, der Doge verlangt, dass ich sie zurückbringe, oder ich schlage dir den Schädel ein«, rief er lautstark dem Tenore zu.

Der Stämmige versperrte ihm den Weg. Sarina zitterten die Knie. Der kalte Schweiß lief über ihr Gesicht. Ihre Mutter stand blass wie Wachs vor Schreck neben ihr. »Lauft weiter, lauft so schnell ihr könnt«, rief Tenore den Frauen zu. »Ich werde euch einholen.« Furchtlos trat er auf den muskulösen Klotz zu, schob ihn mit aller Kraft zur Seite und wollte den Frauen folgen, als ihn von hinten ein harter Schlag auf den Kopf niederstreckte. Der Soldat schlug mit einem vierkantigen Stein auf Tenores Hinterkopf. Mit einem lauten Knall fiel er zu Boden. Die Frauen hörten den Knall. Die Mutter rief: »Lass uns umkehren, wir müssen Tenore helfen!«

Als Sarina vor ihrem Liebsten stand, sah sie, dass Tenore tot war. Es war grauenhaft!

Blut quoll aus seinem Schädel und bedeckte die Erde, sie konnte es kaum auffangen. Ein quälender Schrei drang aus ihrem Mund. Noch nie hatte ihre Mutter Sarina so schreien hören. »Was haben sie getan! Was haben sie meinem Liebsten angetan«, rief sie immer wieder.

Der Schmerz durchbohrte sie wie ein glühendes Messer, das ihr in die Brust gestoßen wurde. Der Soldat lachte nur höhnisch. Er berührte den Toten voller Abscheu.

»Euch beide erwartet eine ganz spezielle Züchtigung des Dogen, wenn wir zurückkehren.« Wieder lachte er spöttisch. Da wussten die beiden Frauen, was sie tun wollten.

Sarina zeigte auf ihren Ringfinger und schaute dabei ihre Mutter an. Diese nickte. »Ich hätte dich so gerne glücklich gesehen, mein Kind, ich hätte sanfter geruht.«

»Wie gerne hätte ich mit Tenore gelebt, aber das Martyrium des Dogen ist schlimmer als der Tod.« Sarina öffnete den Ring, indem sie ein kleines Rädchen drehte. Innen wurde ein weißes Pulver sichtbar, Zyankali, ein stark giftiges Kaliumsalz der Blausäure. Bittermandelgeruch stieg in ihre Nasen.

Zusammen nahmen sie das weiße Pulver. Sie umschlossen sich fest mit den Armen und drückten sich zärtlich aneinander. Als der Soldat aufbrechen wollte, sah er, dass etwas mit den Frauen nicht stimmte. Beide hatten blaue Lippen, ihre Haut hatte sich bläulich verfärbt und die Fingernägel waren schwarz. Aber ihre Gesichter strahlten Ruhe und Frieden aus. Der Tod schickte seine Boten. Kaltblütig wie der Soldat war, ärgerte ihn nur, dass er für drei Menschen ein Grab schaufeln muss.

Ein Tag, flüchtig wie ein Tautropfen, kann alle schönen Zukunftspläne verändern oder zunichtemachen.


Kleines Alltagserlebnis

Mein Arbeitsplatz ist an der Uni Freiburg. Heute war wieder ein besonders anstrengender, turbulenter Tag. Ich beschloss deshalb, nach Feierabend noch ein Stück durch den Park zu spazieren. Das hilft mir meist, um Abstand zu gewinnen von den oft traurigen Patientenschicksalen.

Ein frisches Lüftchen wehte. Tief atmete ich ein und aus und fühlte mich gleich viel besser.

Ich liebe den Park mit seinen alten Bäumen und Sträuchern. Besonders hübsch ist es momentan: Es ist alles voll von Blumen und blühenden Pflanzen.

Spaziergänger sah ich keine. Nur eine ältere Frau ging etwa 100 Meter vor mir her, mit ihrem Rollator. Sie ging schleppend und gebückt. Kaum hatte ich sie überholt, rief sie laut. »Stopp, stopp!« Ich drehte mich um und fragte: »Meinen Sie mich?«

»Ja, ja«, sagte sie. »Sehen Sie die drei roten Fahnen?« Aufgeregt hob sie den rechten Arm und zeigte nach vorne.

»Nein, ich sehe keine drei roten Fahnen.«

»Doch, Sie müssen die drei roten Fahnen sehen.« Verneinend schüttelte ich den Kopf.

»Ich kann nicht mehr! Ich kann nur bis hierher und nicht weiter«, jammerte die betagte Frau. »Ich bin todmüde! Bitte helfen Sie mir!« Sie fing an zu schluchzen. Ich sah, dass die Frau in einem schlechten Zustand war. »Wo wohnen Sie denn?«, fragte ich sie.

»Im Seniorenheim.«

»Gut, ich habe mein Handy dabei und werde dort anrufen, dass man sie abholt.«

Nun vergoss die Frau noch mehr Tränen. »Nein«, sagte sie immer wieder, »dass dürfen Sie nicht tun, sonst darf ich nicht mehr ausfahren.«

»Wohnen vielleicht Kinder von Ihnen in der Nähe?«

»Nein, mein einziger Sohn lebt in Hamburg.«

Inzwischen wusste ich, wo die drei roten Fahnen wehten, vor dem Seniorenheim. Die Seniorin hatte die falsche Richtung eingeschlagen. Hilfesuchend sah sie mich an.

 

Ich begutachtete ihren Rollator. Glücklicherweise war es ein breites Exemplar.

»Eine Möglichkeit haben wir, wie ich Sie zurückbringen kann. Sie setzen sich auf den Ruhesitz des Rollators und ich fahre sie langsam zurück zum Seniorenheim. Es ist zwar eine heikle Sache, denn die Füße müssen Sie dabei etwas anheben.«

Ihr Gesicht bekam sofort einen hoffnungsvollen Ausdruck. »Ja, lassen Sie uns das ausprobieren«, meinte sie.

Ich drehte den Rollator Richtung Seniorenheim und hob die müde Frau auf die Sitzbank. »Festhalten am Gestänge!«, befahl ich. Vorsichtig fuhren wir los. Zu meinem Erstaunen genoss sie die außergewöhnliche Rückfahrt. »Ach, ist das lustig«, rief sie immer wieder. »Es macht so viel Spaß!« Unbekümmert wie ein kleines Kind, thronte sie auf dem erhöhten Sitz. Das Müdesein schien spurlos verschwunden.

Die drei roten Fahnen flatterten im Wind, als wir näherkamen. »Gleich sind wir da«, sagte ich. »Sehen Sie auch die drei roten Fahnen?«

»Ja, aber sehr undeutlich, denn auf dem linken Auge bin ich fast blind. Ach, war das schön mit Ihnen! Heute haben wir gemeinsam den Rollator-Führerausweis bekommen, nicht wahr?«, strahlte sie. Wir sahen uns an und mussten so heftig lachen, dass uns die Tränen kamen. Beim Abschied versprach ich der alten Dame, sie auf alle Fälle wieder zu besuchen.


Der Tagtraum

Endlich saß er im Zug.

Es war knapp. Die Räder fingen an zu rollen.

Sein braunes Vuitton-Lederköfferchen stellte er neben sich auf den Sitz.

Gerd war ein Mann in den besten Jahren, schlank und groß gewachsen, mit lebhaften braunen Augen und dunkelbraunen, buschigen Haaren. Er war sportlich-elegant gekleidet. Auffallend, seine geliebte rote Krawatte von Brioni auf dem weißen Hemd.

»Ach, bin ich müde!«, dachte er. »Die letzten Tage im Büro waren stresserfüllt.«

Die Sonne schien durch das Fenster ins Abteil. Kurzerhand zog er das Rollo herunter.

»Schlafen, schlafen, nichts als schlafen, möchte ich.« Er schloss ein wenig die Lider, dachte an sie. Chantal – die Frau die er schon lange begehrte. Sie ist blond, hat ein schönes Dekolleté und ist sehr sexy. Im Halbschlaf hörte er sie flüstern: »Je t’aime, je t’aime!« Ja, alles was ich brauche ist Liebe.

Seine Augen fielen ihm vollends zu. Er träumte, war im siebten Himmel. Sie war bei ihm, die Geliebte. Sie schmuste mit ihm, küsste ihn leidenschaftlich mit ihren vollen roten Lippen. Es wurde ihm so heiß, dass er den Schlipsknoten seiner roten Krawatte lockerte. Das war der Anlass für die Geliebte, ihm das Hemd zu öffnen. Sie ließ ihre zarten Finger über seinen Körper gleiten, presste sich eng an ihn. Ihre Wärme war sehr wohltuend. Wie zärtlich sie war und wie gut sie roch! »Pass auf, Gerd«, ging es ihm durch den Kopf, »sonst bist du nicht mehr Herr deiner Sinne.« Dieser liebliche Duft ist sehr erregend! Er spürte, wie sein Herz hämmerte.

Sein Atem ging schneller. Er genoss die Liebkosungen, das Verlangen nach ihr wuchs. Seine Männlichkeit machte sich bemerkbar.

Dann – ein Ruck! Im Halbschlaf dachte er: »Jetzt hat der Zug angehalten.«

Die Abteiltür ging auf und wieder zu.

Ein erneuter Ruck. Der Zug fuhr an.

Durch einen harten Plumps auf seinen Schoss, wurde er schlagartig hellwach.

Ein kleines Hutzelmännchen saß auf seinem Schoss. Verschämt und erschrocken murmelte es leise: »Entschuldigung!« Er richtete sich sofort auf, platzierte sich Gerd gegenüber und betrachtete ihn eingehend. Nach einer Weile sagte er: »Sie haben eine extravagante Krawatte an, mit einem außergewöhnlichen Rot.«

Obwohl er mich auf unsanfte Art in die Realität zurückholte, konnte ich ihm absolut nicht böse sein.