PRIMORDIA 3 – RE-EVOLUTION

Text
Aus der Reihe: Primordia #3
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kapitel 12

»Deswegen nennen wir es ein Zeit-Paradoxon«

Emma lehnte sich nach vorn. »Helen, du hast gesagt, dass wir etwas in der Vergangenheit gemacht haben, und wir damit die Regeln gebrochen haben … was soll das heißen?«

»Manche nennen es den Schmetterlingseffekt«, erklärte Helen.

»Du meinst, dass ein einziger Flügelschlag eines Schmetterlings eine Kettenreaktion auslösen kann, die zum Beispiel in einem Hurrikan endet?«, fragte Emma. »Meinst du diese komische Theorie?«

»Das kann man zwar so sagen, aber es steckt in Wirklichkeit eine mathematische Grundlage dahinter«, sagte Helen. »Sie kommt aus der Chaostheorie und wurde für Wettermodelle eingesetzt, um die Richtung von Tornados analysieren zu können. Man kann sie auf alles anwenden, das sich von einer Minute auf die nächste ändern kann, und dazu gehört natürlich auch die Zeit.«

Helen lehnte sich nach vorn und schnappte sich ihre Kaffeetasse, nahm einen Schluck und ließ ihre Hand wieder sinken, wobei sie allerdings weiter in das tiefschwarze Gebräu starrte. »Ich habe bereits einige Nachforschungen angestellt, als ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass etwas passiert ist.« Sie stellte die Tasse auf den Tisch.

»Es gibt viele Theorien, wie den Großvater-Effekt, Vorherbestimmung, Zeitschleifen und den sogenannten Femi-Effekt. Im Grunde genommen widersprechen sich einige dieser Theorien, und manche sagen sogar aus, dass es vollkommen egal ist, was jemand in der Vergangenheit macht, da es keine Auswirkungen auf die Zukunft hat. Andere sagen, man kann überhaupt nichts in der Vergangenheit ändern, dazu gehört zum Beispiel der Großvater-Effekt.«

»Man kann zum Beispiel nicht in der Zeit zurückreisen und seinen eigenen Opa töten«, sagte Drake, »denn wenn du das machen würdest, hättest du nie existiert und könntest ihn deswegen nicht töten, stimmt's?«

»Genau. Eine andere Theorie, die die Absurdität des Ganzen deutlich macht, ist die Unmöglichkeitsschleife.« Sie legte eine Hand auf Drakes Unterarm. »Sagen wir mal, eine alte Frau gibt einem jungen Mann eine Uhr. Er reist in der Zeit zurück und gibt der alten Frau, die dann noch ein junges Mädchen ist, die Uhr. Das Mädchen wird alt und gibt die Uhr irgendwann dem Mann. Aber wo ist die Uhr dann ursprünglich hergekommen?«

»Davon kriege ich ja jetzt schon Kopfschmerzen«, sagte Drake.

»Deswegen nennt man es ein Zeit-Paradoxon«, erwiderte Helen lächelnd. »Aber eines ist sicher: Irgendwas, das wir gemacht haben, oder das Andy vielleicht gemacht hat, hat unsere Version der Zeit verändert, und jetzt haben wir den Salat.«

»Es ist so, wie eine Reihe Dominosteine, die in der Vergangenheit angestoßen werden und nun bei uns ankommen.«

»Genau. Der erste Dominostein kann noch winzig klein gewesen sein, doch er kann einen etwas Größeren umstoßen und so weiter, bis wir schließlich bei riesigen Veränderungen landen.«

Drake legte die Stirn in Falten. »Okay, aber sagen wir mal, man tötet vor Hundert Millionen Jahren ein paar Tiere, fällt einen Baum oder isst ein paar Beeren und Nüsse. Wo ist das Problem? Ist ja nicht so, dass das dann die letzten ihrer Art sind.«

»Verstehst du es wirklich nicht?«, fragte Ben seufzend. »Das ist doch genau das Ding. Vielleicht vernichtest du genau die eine Pflanze, die ihrerseits eine Kettenreaktion begonnen hätte.«

Helen legte die Hände zusammen. »Genau so funktioniert der Domino-Effekt. Stell dir mal vor, du gehst hunderttausend Jahre zurück und isst eine Beere. Wenn du das nicht gemacht hättest, hätte vielleicht ein Käfer diese Beere gegessen und das hätte ihn vor dem Verhungern gerettet. Dann hätte diesen Käfer später ein Vogel gegessen, der ohne diese Mahlzeit keine Eier in diesem Jahr hätte legen können, und diese Eier hätten eine ganze Familie von Urmenschen ernährt.« Sie rieb sich die Stirn und fuhr fort. »Die Familie hungert daraufhin und bekommt in diesem Jahr kein Kind, dabei wäre dieses Kind ein großartiger Anführer geworden und hätte einen Stamm gegründet, der nun niemals existieren wird. Das könnte die gesamte Welt verändern.«

Ben strich sich durch die Haare. »Und jetzt multipliziere das mit Tausend, indem du hundert Millionen Jahre zurückgehst.«

»Genau«, sagte Helen leise. »Selbst durch winzige Eingriffe können gesamte Spezies aussterben und eine andere nimmt ihre Rolle ein. Daraufhin kann eine komplett alternative Zukunft entstehen.«

»Um Himmels willen«, flüsterte Drake und stand auf. Er überlegte. »Aber warum passiert das gerade jetzt? Es ist doch nichts von alldem passiert, als Ben dort war.«

Einen Moment lang schwiegen alle und hingen ihren eigenen Gedanken nach.

»Vielleicht … äh …« Ben zog die Schultern hoch. »Vielleicht hat es etwas mit Schlüsselmomenten zu tun. Vielleicht waren die Dinge, mit denen ich interagiert habe, alle nicht wichtig … also kein Schlüssel für unseren Zeitstrahl.«

»Anders kann ich es mir auch nicht erklären«, stimmte ihm Helen zu. »Manche Spezies, und bestimmte Tiere, sind entscheidend für unsere Zeitebene. Vielleicht hat man tausendmal Glück, oder auch hunderttausendmal, aber dann isst du die eine Beere oder tötest den einen Vogel, der wirklich wichtig gewesen wäre.« Sie schaute auf. »Der ein Schlüsselmoment in unserer Geschichte gewesen wäre.«

»Na toll«, presste Drake hervor. »Okay, ich habe aber noch eine Frage. Warum betreffen uns diese Veränderungen hier in den USA, wenn wir doch in Südamerika waren?«

»Das sind auf jeden Fall globale Effekte«, erklärte Helen. »Mal abgesehen von der Verschiebung der Kontinentalplatten, waren die Meeresspiegel in den vergangenen hundert Millionen Jahren viel niedriger. Es gab Landverbindungen zwischen Afrika, Asien, Europa und uns. Tiere und Pflanzen konnten sich daher hin- und herbewegen.«

»Wir müssen uns wahrscheinlich einfach an die Veränderungen gewöhnen«, meinte Emma. »Vielleicht ändert sich ja auch einiges zum Guten. Vielleicht werden wir Menschen weniger kriegerisch, vielleicht wird es weniger Krankheiten geben, bessere Nahrung … wir müssen einfach abwarten und schauen.«

Helens Augen wurden glasig. »Oder wir hören vielleicht einfach auf, zu existieren.« Sie lächelte Emma müde an. »Eine neue Krankheit könnte entstehen, oder ein neues Raubtier. Oder vielleicht entscheiden wir uns, niemals unsere Bäume zu verlassen.«

»Wir könnten auch komplett verschwinden«, warf Drake ein. »Unsere menschliche Rasse könnte sich vor unseren Augen auflösen. Eine Person nach der anderen.«

»Dann sind wir vielleicht die einzigen Menschen auf der Welt, denen das auffällt«, sagte Ben missmutig. Erneut spürte er, wie ein Kribbeln durch seinen Körper lief und verzog das Gesicht. Er sah, wie Drake und Helen sich ansahen, und Emma legte ihm eine Hand auf die Schulter, bevor alles für eine Sekunde dunkel wurde.

»Oh Gott, schon wieder!« Emmas Griff wurde fester, sodass es Ben beinahe wehtat.

»Ja, ich habe es auch gespürt.« Drake richtete sich auf. »Was ist denn dieses Mal passiert? Was ist verschwunden, oder was ist dazu gekommen?«

Emma sah Ben an und er schaute zurück … sie dachten offenbar an das Gleiche. Sofort sprang Emma auf und rannte zur Treppe.

»Zach?« Sie nahm drei Stufen auf einmal »Zach?«

Ben stand auf, starrte in Richtung der Treppe und merkte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Er schickte ein stummes Gebet zum Himmel.

»Was denn?«, erklang jetzt eine gedämpfte Antwort aus dem Kinderzimmer. Ben atmete aus und bemerkte erst jetzt, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Langsam setzte er sich wieder hin.

»Die menschliche Spezies ist ein Frosch, der im Kochtopf sitzt, und das Wasser wird immer heißer«, sagte Helen gerade. »Aber genau wie der Frosch bemerkt sie gar nicht, wenn die Temperatur um ein paar wenige Grad steigt.«

»Aber was ist schlimmer?«, fragte Drake. »Es gar nicht zu bemerken, dass die Welt immer gefährlicher wird, und ein Mensch nach dem anderen ausgeknipst wird? Oder so wie wir zu sein, und es aus irgendeinem Grund mitzukriegen, was sich alles verändert?«

»Für uns ist es auf jeden Fall am gefährlichsten«, erwiderte Helen, »denn wir wissen ja nicht mal, was sich genau verändert. Denk mal an den Kronosaurier

Drake nickte. »Oh ja, und ich habe dir noch nicht mal von den vogelfressenden Riesenquallen erzählt.«

Emma kam mit einem erleichterten Gesichtsausdruck die Treppe herunter. Sie setzte sich neben Ben und verschränkte ihre Hände mit seinen.

»Was machen wir denn jetzt?«

»Wir können gar nichts machen«, sagte Ben.

»Bist du dir sicher?«, fragte Drake. »Klar, heutzutage können wir nichts machen … aber es ist ziemlich genau neun Jahre und acht Monate her, dass wir auf diesem verdammten Plateau waren.«

»Das bedeutet«, stieg Ben ein, »Primordia kehrt in vier Monaten wieder zurück, und dann ist das Portal auch wieder geöffnet.«

»Die Tür in die Vergangenheit, mit deren Hilfe wir verhindern können, dass sich noch mehr verändert.« Drake lehnte sich zurück.

»Nein«, sagte Emma nachdrücklich. »Auf keinen Fall. Wir sind letztes Mal nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen. Das machen wir bestimmt nicht noch einmal. Warum sollten wir auch?«

»Wegen Andy«, antwortete Helen. »Was immer er dort auch anstellt, er darf nicht damit weitermachen.«

»Nein«, wiederholte Emma, dieses Mal noch nachdrücklicher. »Da mache ich nicht mit.«

»Ich gebe dir recht«, sagte Ben. »Du bleibst hier.« Er holte tief Luft. »Aber es macht mir genauso eine Höllenangst, gar nichts zu unternehmen, denn damit wird die Welt für unseren Sohn immer gefährlicher. Deshalb muss ich gehen, um dieser Sache ein Ende zu bereiten … was auch immer diese Sache überhaupt ist.« Er lächelte, doch in seinen Augen spiegelte sich nicht einmal ein Funken Freude wider. »Abgesehen davon ist das ja quasi schon mein zweites Zuhause, nicht wahr?«

 

Drake stöhnte. »Es war meine Idee, also wenn du Schützenhilfe brauchst …« Er presste seine Augenlider zusammen und betete. Sag Nein, sag Nein, sag Nein.

»Danke, Kumpel«, sagte Ben und lehnte sich nach vorne, um ihm auf die Schulter zu klopfen. Drake öffnete die Augen, hielt ihm eine Faust entgegen und Ben schlug dagegen. »Abgemacht.«

Ben schaute Drake ernst an. »Wir holen Andy zurück, oder zumindest halten wir ihn davon ab, weiterzumachen mit dem, was er tut.«

»Hey!« Helens Augen blitzten auf. »Was soll das denn heißen? Was habt ihr vor?«

Die beiden Männer tauschten einen weiteren Blick aus, denn sie wussten beide ganz genau, was das heißen sollte. Ben räusperte sich. »Wir überzeugen ihn, mitzukommen. Selbst, wenn wir ihn dafür fesseln und nach Hause schleifen müssen.«

»Wirklich?« Helens Augen verengten sich. »Das glaube ich euch nicht.«

»Tja, dann komm doch einfach mit.« Drake hob angriffslustig sein Kinn.

»Ernsthaft?« Helen verzog das Gesicht. »Willst du damit unsere Beziehung wieder aufflammen lassen? Indem du mich in eine prähistorische Welt mitnimmst, wo alles nur darauf aus ist, mir die Eingeweide rauszureißen? Oh, und dann hast du auch noch angedeutet, meinem Bruder etwas antun zu wollen.«

Drake grinste. »Scheint so, als wären meine Kenntnisse im Flirten etwas eingerostet.«

Helen starrte ihn einen Moment lang böse an, doch dann musste sie lachen. Ben und Emma fielen mit ein.

»Du Arsch.« Helen wischte sich die Lachtränen aus den Augen. »Okay, ich bin mit dabei, aber nur, weil ich weiß, dass dann die Chance größer ist, dass er mit zurückkommt.«

»Okay …« Drake hob die Augenbrauen. »Sicher? Eigentlich hatte ich das gar nicht ernst gemeint.«

Helen zuckte mit den Schultern. »Ohne mich wärst du dort doch schon nach einer Minute tot. Außerdem habe ich mir überlegt, wenn wir nichts unternehmen, wird unsere Welt, oder sagen wir mal, unsere Zeitebene, bestimmt ebenso tödlich werden wie die späte Kreidezeit.«

Emma lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie schüttelte den Kopf und ihre Augen wurden feucht. »Sorry, ich kann das nicht.«

Ben rutschte näher an sie heran und legte seine Arme um sie. »Ich weiß, und das ist auch vollkommen in Ordnung. Du musst dich um Zach kümmern. Du musst seine Gegenwart sichern und ich seine Zukunft, und dazu muss ich nun mal leider in die Vergangenheit.«

Emma nickte, doch dann hielt sie inne. »Vielleicht kommt Andy ja von selbst zurück, wenn sich das Portal öffnet.«

»Vielleicht. Eventuell kommen ja auch gar keine weiteren Veränderungen mehr«, entgegnete Drake.

»Nein, er wird nicht von selbst zurückkommen«, sagte Helen. »Aber ich wette, seine wissenschaftliche Neugier wird ihn zu dem Plateau zurückführen, um die Öffnung des Portals zu beobachten. Dem wird er bestimmt nicht widerstehen können.«

Ben nickte. »Er wird dort sein, und wir auch. Wir schnappen ihn uns und dann hauen wir ab.«

»Ich organisiere ein paar Gerätschaften«, sagte Drake. »Dieses Mal werde ich auch sichergehen, dass sie genug Durchschlagskraft haben.«

»Um Himmels willen, Jungs.« Emma schüttelte den Kopf. »Vergesst ihr dabei nicht etwas?«

Sie warteten ab, während Emma verächtlich schnaubte. »Ben, du warst dreißig Jahre alt, als du zum ersten Mal da rein bist. Jetzt bist du fünfzig. Ich weiß, dass ihr viel trainiert und fit seid, aber wenn du eines weißt, dann doch, dass das Überleben auf dem Plateau die härteste Herausforderung ist, die die Welt zu bieten hat.«

Ben lehnte sich zurück. »Ich habe ja auch nicht vor, mich lange dort aufzuhalten. Das können wir uns auch gar nicht erlauben.«

»Also brauchen wir Hilfe.« Drake rieb sich das stoppelige Kinn, was ein raues Geräusch erzeugte. Schließlich nickte er. »Ich kenne ein paar Leute, die können uns mit Muskeln und Feuerkraft aushelfen, aber das wird nicht billig werden.«

»Keine gute Idee«, erwiderte Helen. »Wisst ihr noch, was letztes Mal passiert ist? Niemand glaubt uns doch diese Geschichte mit dem Portal in die Urzeit, und deshalb kann sich auch niemand richtig darauf vorbereiten.« Sie wandte sich jetzt an Drake. »Oder hast du Emma damals etwa wirklich geglaubt, als sie dir das Ganze erzählt hat?«

»Nein«, gab Drake zu. »Selbst jetzt kann ich es immer noch kaum glauben. Obwohl, die letzten paar Tage haben die Erinnerungen dann doch ziemlich aufgefrischt.«

Ben rieb sich die Stirn. »Ich denke, wir haben keine andere Wahl. Es geht schließlich um den Fortbestand der Menschheit, auch wenn das außer uns offenbar niemand weiß.« Er wandte sich an Helen. »Sorry, aber was wir hier vorhaben, ist wichtiger als unser Überleben oder das Überleben anderer Leute, die aus freien Stücken mitkommen.«

Ben lächelte Emma schief an. »Ich weiß, du verstehst das. Unterm Strich ist es doch so: Selbst, wenn wir nicht zurückgehen, holt die Vergangenheit uns irgendwann sowieso ein. Sie ist hinter Zach her, und hinter allen anderen Kindern.«

Emma schien daraufhin dahinzuschmelzen und nahm seine Hand. »Stimmt, es tut mir leid. Bringt Andy zurück, rettet unsere Welt und auch die Zukunft.« Sie hob das Kinn. »Aber lasst mir eine verdammt große Knarre hier.«

Kapitel 13

Eagle Eye Observatorium, Burnet, Texas – 60 Tage bis zur Erscheinung des Kometen

»Hey …« James Henson stellte die Schärfe an seinem riesigen Teleskop nach und öffnete die Blende des Okulars. Er lehnte sich zur Seite, um den Hauptcomputer anzuschalten, und widmete sich dann wieder seiner Betrachtung.

»Hast du was gefunden?« Sein Kollege, Andy Gallagher, klang nur mäßig interessiert und fütterte seinen eigenen Computer weiter mit Daten.

»Hier ist ein bisschen Verkehr«, entgegnete Henson. »Da kommt so ein kleiner Bursche aus den unendlichen Weiten angedüst.« Er streckte einen Arm zur Tastatur aus und begann, einhändig zu tippen, um die Daten des galaktischen Besuchers aufzunehmen.

»Ein Asteroid?«, fragte Gallagher.

»Ja, gute Größe, und er wird nahe genug vorbeikommen, dass wir ihn genau unter die Lupe nehmen können.« Henson begab sich nun an den Bildschirm des Rechners und war offenbar sehr zufrieden mit dem, was er dort sah. Für einen Durchschnittsmenschen wirkte der Bildschirm einfach schwarz, mit dem einen oder anderen weißen Nadelstich hier und da, doch für das trainierte Auge war es sofort als Schnappschuss eines ganz bestimmten Bereichs unseres Sonnensystems zu erkennen.

»Ich dachte schon, du sagst mir jetzt, dass Primordia wieder auf dem Rückweg ist.« Gallagher lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Denn aktuell haben wir es doch mit unserer Glückszahl zu tun – der Acht – und unser stets pünktlicher Besucher P/2018-YG874 müsste eigentlich wieder vorbeikommen.«

»Klar, das tut er auch, aber wir reden hier über etwas ganz anderes.« Henson erstarrte und drehte sich dann ganz langsam um. »Heeeeyyy … du meinst doch nicht etwa …?« Gallagher verzog das Gesicht. »Ich meine …?« Er hob die Augenbrauen. »Meinst du etwa die stoßen zusammen?« Er schnaubte verächtlich. »Bist du auf Drogen? Ich meine, auf mehr Drogen als sonst?«

Henson lachte auf. »Hey, sehe ich etwa so aus, oder was?«

Gallagher grinste. »Du siehst aus wie der Weihnachtsmann, wenn er sich seinen Bart ein paar Wochen nicht kämmen und eine Jogginghose tragen würde.«

»Sie schmeicheln mir, mein Herr.« Henson richtete sich auf. »Der Weihnachtsmann hat übrigens keinen Abschluss in Astrophysik an der technischen Universität Kalifornien gemacht, schon vergessen?«

»Ja toll, und meiner ist aus Princeton, mit besonderer Auszeichnung, also wissen wir beide, was los ist. Der Weltraum ist quasi leer, und die Chance, dass zwei winzige astrale Körper zusammenstoßen, ist verschwindend klein.«

»Und doch passiert es.« Henson verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete den sich auf dem Computerbildschirm bewegenden Lichtpunkt. »P/2018-YG874, Primordia, reist jetzt schon seit Millionen von Jahren durchs All.« Er drehte sich um. »Irgendwann hat man halt auch mal Pech.«

»Unmöglich«, erwiderte Gallagher mit Nachdruck. Dann sagte er: »Obwohl es ziemlich cool wäre.« Er schaute auf. »Hey, du hast ihn entdeckt, du darfst ihn also benennen.«

Henson strich sich für einen Moment durch den Bart und erhob dann seinen Zeigefinger. »Von nun an möge alle Welt Euch kennen unter dem Namen … Lord Vader

Gallagher stöhnte, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. »Okay, dann eben Lord Vader. Möge die dunkle Seite mit dir sein.« Er wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. »Lass uns Lord Vader mal lieber im Auge behalten, nur um auf Nummer sicher zu gehen.«

Kapitel 14

An der südöstlichsten Spitze Nordamerikas, vor 100 Millionen Jahren

Der riesige Zweibeiner bewegte sich langsam nach vorne und setzte seinen Fuß, der die Größe eines Kleinwagens hatte, langsam auf den weichen Boden auf, anschließend machte er einen weiteren Schritt, doch dann bewegte er sich mehrere Minuten lang kein bisschen. Endlich drehte er den Kopf leicht und lauschte für einen Moment in die Stille, bevor er einen weiteren zögerlichen Schritt machte.

Er sog die Luft tief durch seine mächtigen Nüstern und untersuchte die vielfältigen Gerüche des ihn umgebenden Dschungels. Er verfolgte etwas – etwas, das er noch nicht sehen konnte, sondern nur riechen, doch sein sechster Sinn, den jedes Raubtier besaß, sagte ihm, dass seine Beute nicht mehr weit weg war.

Die Alpha-Theropoden waren riesige Monster und ernährten sich durchaus auch von Aas, aber sie liebten die Erregung, die sie beim Jagen und auch beim Töten durchströmte. Die zwanzig Zentimeter langen, nach hinten gebogenen Zähne dieser Spezies waren perfekt dafür geeignet, Fleisch und Knochen ihrer riesigen Zeitgenossen ohne Probleme zu zerfetzen.

Das Tier blieb bewegungslos, und trotz seiner turmhohen Größe und des massigen Körperbaus konnte man es im Zwielicht des Dschungels kaum sehen. Seine Haut bestand aus braunen und grünen Flecken und an seinem dicken Schwanz, den es als Gegengewicht zu seinem schweren Kopf nutzte, waren einige Streifen zu sehen. Von der Schwanzspitze bis zum Kopf maß die Bestie an die zwölf Meter und das Gesamtgewicht lag bei über fünfzehn Tonnen. In der Kreidezeit waren sie einer der größten Fleischfresser Nordamerikas gewesen.

Die Kreatur drehte nun wieder ganz langsam den Kopf und nahm jeden Quadratmeter des Dschungels unter die Lupe. Gleichzeitig versuchte sie, den Geruch ihrer Beute aufzunehmen. Minuten vergingen, dann machte sie einen weiteren Schritt und dann noch einen, um anschließend wieder zu pausieren und zu suchen.

Es war unklar, wonach der Fleischfresser suchte. Endlich schien er aufzugeben und weiterzuziehen, wobei er deutlich weniger auf leise Bewegungen achtete, sondern rücksichtslos Bäume aus dem Weg schob, als wären sie bloß riesige Grashalme.

Andy blieb, wo er war, und bewegte keinen Muskel. Der Schlamm, mit dem er sich bedeckt hatte, war dick aufgetragen und glitschig wie Schmierfett. Er juckte außerdem tierisch. Aber er hielt die Insekten ab und schirmte vor allem seinen eigenen Körpergeruch ab. Zumindest den Großteil davon.

Das Monster, das ihm nachgestellt hatte, kannte er als Mitglied der Gruppe der Carcharodontosaurier – vermutlich war es ein Siats Meekerorum. Sie hatten in dieser Gegend hundert Millionen Jahre vor Andys eigener Zeit gelebt. Obwohl es Zweibeiner unter den Dinosauriern gab, die noch größer und schwerer waren, gehörte dieses Monster durchaus zu den gefährlichsten und wildesten Exemplaren.

Andy verfolgte das Verschwinden der Kreatur, die sich ihren Weg inzwischen mit der Eleganz eines Bulldozers bahnte. Er erinnerte sich an Diskussionen, in denen es darum gegangen war, ob diese riesigen Fleischfresser Jäger oder Aasfresser gewesen waren – jetzt wusste er es. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie riesigen Beutetieren nachstellten und ihr eigenes Gewicht dazu nutzten, um sie umzuschubsen. Anschließend benutzten sie ihre kraftvollen Kiefer, um Kehlen herauszureißen oder Wirbelsäulen zu zerquetschen. Sie waren auf jeden Fall Jäger, und verdammt gute noch dazu.

 

Schließlich bewegte sich Andy in dem riesigen Dschungel und krabbelte unter dem Wurzelgewirr riesiger mangrovenartiger Bäume hervor. Er öffnete seine Tasche und schaute nach dem kleinen, vogelartigen Reptil. Zur Abwechslung hatte Gluck seinen Schnabel fest geschlossen gehalten, vermutlich hatte er den Geruch des Alpha-Jägers wahrgenommen und gewusst, dass es überlebenswichtig war, keinen Mucks zu machen.

Andy machte ein paar vorsichtige Schritte, hielt dann wieder inne und betrachtete den Weg, der vor ihm lag. Er war nur ein kleiner Wurm in einem Land von Riesen. Langsam drehte er sich um und sah über seine Schulter. Er hatte in den vergangenen Jahren sehr viel über diese Zeit gelernt, und dazu gehörte auch, dass selbst die tonnenschweren Jäger die Möglichkeit besaßen, auf der Jagd leise wie Gespenster zu sein. In einem Moment dachte man noch, man wäre allein, im nächsten tauchte plötzlich ein gigantischer Schatten nur wenige Meter hinter einem auf.

Andy konnte gar nicht mehr mitzählen, wie knapp er dem Tod schon von der Schippe gesprungen war. Selbst, wenn ich eine Katze wäre, hätte ich all meine Leben schon verbraucht, dachte er und grinste. Seine Zähne und die weißen Augen leuchteten aus dem dunklen Schlamm hervor.

Es dauerte noch zwanzig Minuten, bis er sich sicher genug wähnte, um sein normales Tempo wiederaufzunehmen. Nach einer Weile blieb er stehen und atmete tief ein. Er war immer noch weit weg, denn es war keine Spur von Salz in der Luft zu riechen, und damit meinte er kein Meersalz, auch nicht das schweflige Salz von Magmabecken, sondern den klaren, eindeutigen Geruch von Natursalz.

Als er noch klein gewesen war, hatte es eine ganz bestimmte Sache gegeben, die in ihm den Wunsch geweckt hatte, Paläontologe zu werden, und das waren die großen Fundorte von Fossilien gewesen, die man auch Knochenbetten nannte. An diesen Orten mit der größten Fossiliendichte fand man immer die am besten erhaltenen Überreste von Dinosauriern … in manchen Fällen sogar ganze Herden von ihnen.

Die Mitte Nordamerikas hatte einst unter Wasser gelegen, als die Meeresspiegel noch Hunderte Meter höher gelegen hatten. In den heißen, trockenen Zeiten der Kreidezeit waren die Polkappen schließlich geschmolzen und das Wasser war tief ins Herz des Kontinents eingedrungen. Dadurch hatte es diese riesige Landmasse hier einfach in der Mitte durchtrennt.

Andy war mittlerweile im Osten angekommen, in dem Teil, den man Appalachia nannte. Auf der anderen Seite des interkontinentalen Meeres lag der westliche Teil, Laramidia. Innerhalb von Millionen von Jahren war der Wasserspiegel wieder gefallen und aus dem ehemaligen Meer war ein riesiger See geworden, und er hatte Millionen von Spezies prähistorischer Kreaturen eingeschlossen. Einige von ihnen waren winzig, andere die größten Seemonster ihrer Zeit gewesen. Sie waren zu monströsen Goldfischen geworden, deren Aquarium die Größe eines Sees hatte.

Irgendwann später würde dieser See komplett austrocknen und die gestrandeten Tiere würden zu Skeletthaufen werden und dann versteinern. Für diese Kreaturen war es eine Todesfalle gewesen, für spätere Forscher der reinste Jackpot.

Seit er in der Vergangenheit angekommen war, hatte Andy das Ziel gehabt, das Berühmteste aller Knochenbetten zu besuchen, doch natürlich war es in dieser Zeitzone noch kein Knochenbett.

Andy schnüffelte noch einmal. Verdammt, ich habe immer noch eine verdammt lange Strecke vor mir, und dabei bin ich schon Ewigkeiten unterwegs … Er hielt kurz inne, als ihm ein Gedanke kam. Er griff in seine Tasche, was ein Gluck seines kleinen Freundes hervorrief.

»Mach mal Platz, Kumpel.« Er zog eine Steintafel hervor, die etwa dreißig Zentimeter breit, sechs hoch und zwei tief war. Auf ihr befanden sich Hunderte und Aberhunderte hineingekratzter Markierungen. Das Ganze war sein Kalender. Ganz oben hatte er sogar seinen Namen in Großbuchstaben eingeritzt: ANDY.

Den hatte er damals hinzugefügt, als er noch ein Messer gehabt hatte. Doch das war nun schon seit vielen Jahren weggerostet.

»Wow, weißt du, wer bald wiederkommt?« Er schaute hoch, hatte aber gar keine Chance, den Himmel durch das dichte Baumkronendach zu sehen. Außerdem war es mit Sicherheit auch noch viel zu früh, um Primordia mit bloßem Auge sehen zu können.

»Ist ja auch egal.« Er legte den Kalender-Stein wieder in seinen Beutel, doch dann schaute er hoch. Stell dir doch mal vor, wie das Plateau aussieht, wenn sich das Portal zu öffnen beginnt. Er hielt inne und fluchte dann leise. Meine gottverdammte Neugier, dachte er.

Aber erst mal muss ich den riesigen See erreichen, flüsterte er. Es gab allerdings ein Problem. Das, was in der Zukunft die USA sein würden, waren im Moment zwei getrennte Landmassen. Laramidia bestand aus flachen Landmassen, aber Appalachia, wo er angekommen war, bildete auch schon damals das riesige Rückgrat Nordamerikas, und zwar in Form einer Bergkette, der Appalachen. Diese hatten sich vor vierhundertachtzig Millionen Jahren geformt, im Ordovizium. Durch die Verschiebung der Kontinentalplatten hatte sich dort ein Gebirge aufgetürmt, das genauso hoch war wie die Alpen heute. In Andys Zeit hatten diese Gipfel durch natürliche Erosion bereits einiges an Höhe eingebüßt, aber hier, in der Kreidezeit, waren sie immer noch eine ernst zu nehmende Herausforderung, selbst für erfahrene Bergsteiger. Doch Andy würde sie überqueren müssen.

Er atmete tief ein und dann ganz langsam und bewusst wieder aus, wobei er ganz deutlich spürte, wie sehr all die Jahre in dieser brutalen Zeit an seinen Kräften genagt hatten. Er war dünn, ausgemergelt und müde. Noch einmal öffnete er den Beutel und der kleine Pterosaurier hob seinen Kopf.

»Wir schaffen das, Andy! Wir haben doch noch Zeit«, sagte er.

Andy grinste und nickte. »Da hast du verdammt noch mal recht.«

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?