PRIMORDIA 3 – RE-EVOLUTION

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Aus der Reihe: Primordia #3
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Kapitel 2

Sam Houston Nationalwald, Montgomery, Texas – Gegenwart

Re-Evolution: 002

Montgomery war bei bestem Willen keine große Ortschaft, ganz im Gegenteil. Hier hatten bei der letzten Zählung nur 621 Menschen gelebt. Es war dünn besiedelt, beschaulich und lag ganz in der Nähe des Nationalparks und dem wunderschönen Conroe-See. Im Sommer war es hier heiß und feucht, die Winter waren mild. Viele waren der Meinung, das Klima hätte eher etwas Subtropisches an sich, wenn man es mit der üblichen trockenen Hitze in Texas verglich.

Niemand konnte genau sagen, wann die ersten Katzen und Hunde verschwunden waren, aber es schien um die Zeit des merkwürdigen Blackouts herum begonnen zu haben. Dieses ungewöhnliche Ereignis hatte nur ein paar Sekunden gedauert und war von den Menschen gar nicht wahrgenommen worden. Aber direkt danach waren die Haustiere, die über Nacht draußen gewesen waren, am Morgen nicht mehr zurückkehrt, und keiner hatte ihr Verschwinden bemerkt.

Ein paar Tage später standen drei Jäger um ihre Beute herum. Sie lag genau vor ihnen, und obwohl einige von ihnen schon die Handys in der Hand hatten, machte niemand ein Foto. Verwirrt starrten sie nach unten.

Es war ein Vogel, zumindest etwas in der Richtung. Vom Schnabel bis zur Schwanzspitze maß er fast drei Meter. Er sah ein bisschen aus wie ein Vogel Strauß, abgesehen davon, dass der Kopf beinahe sechzig Zentimeter lang war, extrem böse wirkte, und die Kanten des Schnabels aussahen wie rasiermesserscharfe Sägen. Die Klauen an den Enden seiner muskulösen Beine hätten eher zu einer prähistorischen Kreatur gepasst, genauso wie die furchterregenden Krallen daran.

Das Federkleid war rot und braun, die Stummelflügel waren eng an den fassförmigen Körper gedrückt.

Mitch Connors, der Dorfarzt und der einzige halbwegs wissenschaftlich Gebildete aus der Truppe, lehnte sich nach vorne und grunzte dann.

»Ein Terror-Truthahn.«

Die anderen wandten sich ihm zu.

Er nickte. »Mir fiel gerade wieder die Bezeichnung ein. Das ist ein Phorusrhacid. Selten, aber um diese Jahreszeit kommen sie manchmal aus den Wäldern.« Er schaute von einem zum anderen. »Erinnert ihr euch nicht?«

Billy Douglas begann langsam zu nicken. »Oh ja, du hast recht. Jetzt erinnere ich mich.«

Kurz darauf erinnerten sie sich plötzlich alle.

Kapitel 3

Waste Knot Steilwand, Süd-Dakota – 400 Höhenmeter.

Re-Evolution: 003

Ben Cartwright hing an dem Felsen. Er machte gerade eine Pause und atmete tief und bewusst ein und aus. Er drehte sich um und ließ den Blick über die Landschaft schweifen. Die Steilwand, an der Emma und er gerade unterwegs waren, hatte nur einen mittleren Schwierigkeitsgrad, aber sie war wirklich hoch. Dadurch bot sie einen herrlichen Blick über die umgebenden Wälder.

Ulmen, Fichten, Eschen und andere Bäume kämpften um Platz und Sonnenlicht und schufen ein mehrfarbiges Mosaik, das diese atemberaubende Aussicht prägte. Ben grinste. Alles hier sah so einladend und sicher aus, und es fühlte sich einfach heimisch an.

Er konnte nicht anders, als in Gedanken zu einer Situation zurückzukehren, wo er aus ähnlicher Höhe über einen anderen riesigen Wald geblickt hatte, und zwar den Dschungel der Kreidezeit, vor hundert Millionen Jahren. Damals hatte jeder einzelne Quadratkilometer mehr Gefahren enthalten als das gesamte Gebiet, das er jetzt vor sich sah. Hier gab es vielleicht mal einen Bären, einen Berglöwen oder einen unterernährten Wolf, doch in diesem anderen Zeitalter hatte es unzählige monströse Bestien gegeben, für die die weichen, rosafarbenen und unbehaarten Affen namens Menschen nichts anderes gewesen waren als kleine Snacks.

Als er in dieser Zeit gefangen gewesen war, hatte er sich im Schlamm einbuddeln, in Höhlen einmauern und auf Baumwipfeln schlafen müssen. Er hatte Aas essen müssen, Insekten, Gras und alles andere, was er hatte finden können. Sein Körper war in diesen zehn Jahren mit mehr Narben überzogen worden, als er in seiner Karriere als Elitesoldat angesammelt hatte.

Er wollte sich gerade wegdrehen, als ein merkwürdiges Kribbeln durch seinen Körper lief, dann wurde kurz alles schwarz.

»Was zum …?«

Es war genauso schnell wieder vorbei, wie es begonnen hatte, und Ben schaute nach oben, um zu prüfen, ob etwas an der Sonne vorbeigezogen war, doch der Himmel war genauso wolkenlos und tiefblau wie zuvor. Als er wieder hinuntersah, verengten sich seine Augen. Da war doch irgendwas mit den Bäumen – irgendetwas war anders.

Er baumelte für einen Moment an seinem Sicherungsseil und versuchte, darauf zu kommen, was anders war, doch er konnte es nicht sagen.

Wahrscheinlich gar nichts, dachte er und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. Sie waren zu Hause und er hatte die Qualen überlebt. Er war in Sicherheit.

Ben grinste, dann lachte er laut auf und warf den Kopf in den Nacken. »Ich bin am Leben!«, rief er begeistert.

»Aber nicht mehr lange, wenn du nicht bald mal Gas gibst.«

Als er diese Stimme hörte, wurde Bens Grinsen noch breiter und er schaute nach oben. Emma war bereits auf dem Gipfel angekommen und stand furchtlos an der Felskante, die Hände in ihre wohlgeformte Taille gestützt. Ihre gebräunten, muskulösen Schultern glänzten von leichten Schweißperlen überzogen in der Sonne.

Ben kicherte und begann wieder zu klettern. Zu Beginn war sie die Expertin im Freeclimbing gewesen, doch inzwischen hatte sie ihn auf so viele Touren mitgenommen, dass er sie gar nicht mehr aufzählen konnte. Dieser Sport hielt ihn in absoluter Top-Form, und obwohl er schon silberne Strähnen im Haar hatte, war er immer noch voll auf Zack. Zumindest seiner Meinung nach.

Er begann jetzt, schneller zu klettern, und seine Arme und Schultern schrien auf. Er wusste schon jetzt, dass er heute Abend ein heißes Bad brauchen würde, am besten in Kombination mit einigen kalten Bierchen.

Als er oben ankam, schüttelte er seine Arme und Hände aus, um den Muskeln eine Erholung zu gönnen. Er grinste sie an.

»Komisch, von da unten sah das alles viel leichter aus.«

Emma lächelte zurück, wodurch sich leichte Fältchen um ihre grünen Augen bildeten. Für ihn war sie immer noch so hübsch wie eh und je, auch wenn die Zeit ihre Spuren hinterlassen hatte und die Sonne ihr noch ungefähr eine Million weitere Sommersprossen verpasst hatte, die sich über ihre Nase und ihre Wangen verteilten. Er konnte sich nicht helfen, aber ihr Anblick brachte sein Herz unwillkürlich dazu, sich fast zu überschlagen.

Sie breitete die Arme aus. »Habe ich Sie nicht gerade rufen hören, wie lebendig Sie sich hier oben fühlen, Captain Cartwright?«

»Allerdings. Aber um sich lebendig zu fühlen, muss man leider erst mal unglaubliche Schmerzen überstehen, habe ich nicht recht?« Er grinste theatralisch.

»Jetzt stell dich mal nicht so an!« Sie trat wieder an den Abgrund heran und spähte hinab. »Sollen wir runterklettern oder den Wanderweg nehmen?«

Er hielt beide Hände in die Höhe und rief: »Zwei Stimmen für den Wanderweg!«

Sie lachte. »Okay, aber dann joggen wir wenigstens. Abgemacht?«

Ben stöhnte auf. »Können wir das Leben nicht auch einfach mal genießen?« Er setzte sich auf einen Felsen und sie nahm neben ihm Platz. Es war neun Jahre her, dass Emma ins dunkle Herz des Amazonasdschungels gereist war, um ihn zu retten und nach Hause zu bringen. Sie hatten beide seelische Narben zurückbehalten, die noch lange nicht geheilt waren, und die Erinnerungen würden sie wohl niemals vergessen.

Ben schaute hinauf in den Himmel. Bald würde der Komet Primordia wiederkommen. Ehrlich gesagt wollte er gar nicht darüber nachdenken, doch jedes Jahr um diese Zeit kreisten seine Gedanken unweigerlich um die damaligen Ereignisse. Es war ein Jahrestag, der sich tief in sein Hirn gebrannt hatte.

Er spürte, wie Emma ihre Hand auf seinen Oberschenkel legte und machte sich bewusst, dass er der glücklichste Mann der Welt war. Er seufzte und genoss die Aussicht. Nach einem kurzen Moment wunderte er sich allerdings wieder über die Bäume.

»Hey, schau dir mal den Wald an, was stimmt denn damit nicht?«

Sie stand auf und ging zum Abgrund, wo sie ihre Augen mit einer Hand abschirmte. Sie ließ den Blick wandern, schüttelte jedoch kurze Zeit später den Kopf.

»Keine Ahnung, auch wenn ich diese Aussicht liebe, konzentriere ich mich meistens doch eher auf die Felswände.« Sie drehte sich um und lief zu ihm zurück, dann tätschelte sie seinen muskulösen Brustkorb. »Du bist doch der Elitesoldat, der eigentlich einen Blick für die Umgebung haben müsste.«

Sie hatte recht, so war es. Für einen Moment schaute er sie intensiv an, dann wandte er sich wieder den Bäumen zu. Irgendwie war er sich sicher, dass diese Kiefern vorhin nicht da gewesen waren. Sie waren irgendwie riesig, unnormal riesig, und aus irgendeinem Grund kamen sie ihm verdammt bekannt vor.

Er zermarterte sich das Hirn, aber er kam nicht drauf. Dann gab er es auf und lächelte Emma an, deren Blick auf der Landschaft ruhte. Er schlug ihr mit der flachen Hand auf den Po.

»Okay, wer zuletzt unten ist, zahlt das Bier.«

Er sprintete los.

Kapitel 4

Das Helios-Sternensystem, auch bekannt als unser Sonnensystem

 

Komet P/2018-YG874, genannt Primordia, hatte seine elliptische Kurve um die Sonne beendet und war wieder auf dem Weg in Richtung Erde. Es würde noch ein paar Monate dauern, bis er seinen erdnächsten Punkt erreicht haben würde, bei dem er mit bloßem Auge sichtbar wäre.

Bis dahin würden sich auch die Auswirkungen des Kometen auf der Erde bemerkbar machen – wenn auch nur an einem einzigen Ort. Einem Tafelberg oder Tepui tief im Amazonasdschungel Venezuelas. Das hatte Primordia schon seit über hundert Millionen Jahren getan, und vielleicht würde es noch hundert Millionen Jahre so weitergehen.

Vielleicht aber auch nicht.

Am anderen Ende des Sonnensystems, in etwa fünfundvierzig Millionen Kilometern Entfernung von der Sonne, befindet sich der Kuiper-Gürtel, eine große Ansammlung von Millionen von Asteroiden. Die meisten von ihnen waren klein und bestanden aus nichts weiter als gefrorenen Gasen wie Methan, Ammonium sowie Wassereis. Sie sind Überbleibsel der Zeit, als das Sonnensystem entstanden ist. Es gab allerdings auch richtig große Exemplare, die aus solidem Stein und Metallen bestanden.

So ein Exemplar schoss nun in den Kuiper-Gürtel. Wie bei einer Runde Billard kollidierte er mit einigen anderen Asteroiden und schoss sie aus dem Weg, sodass sie in die Tiefen des Weltalls geschleudert wurden. Sie flogen in alle möglichen Richtungen, kreuz und quer durch das Sonnensystem und darüber hinaus, doch einer von ihnen steuerte auf ein ganz besonderes Ziel zu: Die Erde.

Kapitel 5

Re-Evolution: 004

Der Heimflug nach Greenberry in Ohio dauerte nicht mal zwei Stunden. Mehrmals spürte Ben auf dieser Reise ein Kribbeln in seinem Körper, das ihm fast den Magen umdrehte. Er sah das Sonnenlicht kurz flackern, so wie Glühbirnen bei Störungen im Stromnetz. Einmal schaute er dabei Emma an, und ihre Augen verengten sich ebenfalls, also war er offenbar nicht der Einzige, der es bemerkte.

Am frühen Abend wurden sie von einem Taxi an ihrem Familienanwesen abgesetzt. Bens Mutter Cynthia war vor einigen Jahren gestorben und nun war Ben der Eigentümer. Das Grundstück sowie alle beweglichen und unbeweglichen Güter darauf gehörten nun ihm und natürlich seiner Ehefrau Emma.

Ben ließ die Taschen auf der Veranda auf den Boden gleiten und sah auf die Uhr. Zach, ihr sechs Jahre alter Sohn, hatte bei einem Freund übernachtet, aber es war vielleicht die letzte Kletterreise, die sie ohne ihn absolviert hatten, denn nächstes Mal wollten sie ihn mitnehmen. Sie hatten an der Kletterwand im Fitnessstudio bereits mit ihm geübt.

Zach würde nach dem Abendessen bei ihnen abgesetzt werden und Ben schaute jetzt nach Norden, in Richtung der Baumreihe, die das Anwesen begrenzte und überlegte, wie viel Zeit ihm noch für die letzte Aufgabe des Tages blieb. Denn Belle, ihre in die Jahre gekommene Labrador-Hündin, hatten sie bei ihren Nachbarn Frank und Allie untergebracht. Bei ihnen wurde sie stets überfüttert, durfte auf dem Sofa schlafen und wurde nicht mal angemeckert, wenn sie mit dreckigen Pfoten ins Haus kam und die Teppiche verschmutzte. Es war ein Wunder, dass sie danach überhaupt noch zurück zu Ben und Emma wollte, und vermutlich lag das auch nur daran, dass Zach ihr inoffizieller Hundebruder ohne Fell war.

Das Haus war groß und fühlte sich jetzt seltsam verlassen an. Emma hatte die Tür aufgeschlossen und die Taschen hineingeworfen.

»Holst du Belle ab? Schließlich wird sie die Erste sein, mit der Zach sich beschäftigt, wenn er wieder da ist … und nicht etwa mit uns!«

Er wusste, dass sie absolut recht hatte. »Tja, Kinder und ihre Hunde«, rief er nach drinnen, »die kommen immer an erster Stelle, Mama und Papa erst knapp auf Platz zwei.«

»Ich bereite in der Zeit auf jeden Fall schon mal etwas zu essen vor, bis du mit unserem vierbeinigen Fellknäuel zurückkommst.«

»Super.« Ben griff durch die offene Tür ans Schlüsselbrett und schnappte sich den Autoschlüssel. »Ich wünsche mir etwas, das sich auf Kaltes Tier reimt.«

»Altes Tier?« Sie lehnte sich in sein Blickfeld und grinste. »Kein Problem.«

Ben lachte und tänzelte die Stufen hinunter, dann machte er sich auf den Weg zur Garage.

Er startete den SUV, ließ den Motor einmal aufheulen und fuhr dann los. Die Grundstücke in der Gegend waren alle recht groß, von daher würde es bestimmt zwanzig Minuten dauern, zu Frank und Allie zu kommen, die eigentlich nur ein paar Meilen entfernt wohnten. Sie waren ein nettes Paar, etwas älter als Ben und Emma. Er war ein Ingenieur im Ruhestand und sie machte noch ein bisschen IT-Consulting. Ihre eigenen Kinder waren schon erwachsen und weggezogen, sodass das Haus inzwischen viel zu groß für sie war und sie etwas Langeweile hatten. Deswegen nahmen sie gerne jede Gelegenheit wahr, auf Belle oder Zach aufzupassen.

Ben fuhr die Einfahrt hinauf und folgte dem schmalen Weg zur Spitze des Hügels, wo ihr Bungalow stand. Komischerweise kam Belle nicht sofort auf ihn zu gerannt, als sie den Motor hörte, und auch nicht, als er aus dem Wagen stieg.

Er hielt inne und schaute sich um. Wahrscheinlich wird sie gerade wieder gefüttert, dachte er, denn nichts und niemand konnte Belle den Bauch von einem Snack abhalten.

Das Licht der Veranda ging nun an, die Vordertür öffnete sich quietschend und Frank trat mit einer Tasse Kaffee nach draußen und winkte.

»Hallo, Fremder!«

Ben lächelte und ging auf ihn zu. »Howdy, Frank! Schönen Abend.«

»Den habe ich«, antwortete Frank. »Kaffee? Bier?«

»Nein, danke«, antwortete Ben. Er schaute sich um und zog die Schultern hoch. »Wo ist denn das alte Mädel?«

Frank verzog das Gesicht. »Allie?«

Ben grinste. »Ja, klar.« Er ging die Stufen der Veranda hinauf und streckte ihm seine Hand entgegen, die Frank ergriff und schüttelte. »Willkommen zurück, Nachbar. Also, was kann ich denn nun wirklich für dich tun?« Er ließ Bens Hand los und wartete.

»Ähm, der Flohbeutel?« Ben wartete immer noch darauf, dass dieser merkwürdige Gag zu seiner Pointe gebracht werden würde. »Ihr müsst sie ja dieses Mal wirklich sehr verwöhnt haben, wenn sie sich überhaupt nicht rührt.«

Franks Mundwinkel wanderten weiter nach unten. »Ich verstehe nicht, was du meinst Kumpel.«

Ben mochte Frank, aber nach den Strapazen der Reise wollte er jetzt wirklich nur noch seinen Hund haben und nach Hause. »Belle, meinen Hund, kann ich sie jetzt bitte mitnehmen? Ich bin ein bisschen müde.«

»Dein was?« Frank trat ein Stück zurück, und in diesem Moment kam Allie an die Tür.

»Hallo Ben, willkommen zurück. Ist Emma auch da?« Sie schaute von einem der Männer zum anderen. »Alles in Ordnung bei euch?«

Ben nickte. »Ja, klar. Ich bin nur gekommen, um Belle abzuholen.«

»Belle? Wer ist Belle?«

Jetzt reichte es Ben. »Leute, der Witz zündet irgendwie nicht. Ich will wieder nach Hause. Danke, dass ihr auf sie aufgepasst habt, aber ich muss zurück sein, bevor Zach kommt.«

Franks Gesichtsausdruck wurde nun ernst. »Ich bin mir nicht sicher, was hier los ist, Ben, aber du redest verrücktes Zeug.«

»Belle!« Bens Verwirrung wandelte sich nun langsam zu Ärger. »Mein Hund.«

»Ben, hier gibt es niemanden namens Belle.« Franks Stimme klang nun ebenfalls gereizt und Ben spürte, wie sich das Klima des Gesprächs mehr und mehr wandelte. Er war sauer, aber ihm wurde auch klar, dass Frank keinen Spaß machte. »Mein Hund?«

»Was zur Hölle ist ein Hund?« Frank wandte sich an Allie: »Am besten, du gehst jetzt nach drinnen. Ich regle das schon.«

Allies Stirn lag in Falten, als sie Ben ein angedeutetes Lächeln zuwarf und dann im Haus verschwand, wobei sie die Tür hinter sich schloss.

Ben hatte das Gefühl, gerade in einer Folge von Twilight Zone mitzuspielen. »Mein Hund, Belle. Sie ist ein Labrador. Ihr habt auf sie aufgepasst.«

Frank kam einen Schritt nach vorn und legte seine Hand auf eine von Bens breiten Schultern. »Am besten, du fährst jetzt nach Hause. Ruh dich einfach mal ein bisschen aus.« Er führte Ben zu den Stufen. »Wir haben schon seit Monaten nicht mehr auf Zach aufgepasst, und garantiert nicht auf jemanden namens Belle.«

»Hör auf!« Ben zuckte zurück und drehte sich um. »Belle!«, rief er in Richtung des Hauses. Schnell ging er an Frank vorbei, der am Fuße der Treppe stehen blieb und ihm aufmerksam hinterherschaute.

»Belle!«, rief Ben erneut. Er legte seine Handflächen trichterförmig um den Mund: »Be-eeelle!« Aber es kam kein Hund angerannt.

Er pfiff so laut er konnte. Nichts. Das ergab doch alles keinen Sinn. Die Hündin war gut erzogen, und sobald sie Bens Stimme hörte, kam sie eigentlich sofort zu ihm gerannt.

Ben wirbelte herum. »Der Spaß ist aus, Frank. Wo ist mein gottverdammter Hund?«

Frank war fünfzehn Jahre älter und bestimmt zwanzig Kilo leichter, aber er baute sich jetzt vor Ben auf, so gut es ging. »Junge, ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Du machst meiner Frau Angst und ich bin inzwischen echt sauer. Fahr nach Hause und beruhige dich. Und zwar jetzt sofort.«

Ben ging ein paar Schritte, die Hände in die Hüften gestemmt, dann riss er die Arme in die Luft. »Scheiß drauf.« Er machte sich eigentlich am meisten Sorgen darüber, wie Zach darauf reagieren würde.

Er eilte zu seinem Wagen zurück, stieg ein, ließ den Motor an und rammte seinen Fuß aufs Gaspedal. Dreck und Kieselsteine wirbelten durch die Luft, als er das Auto drehte und auf das Tor zuraste.

Auf dem Weg nach Hause kreisten seine Gedanken wie wild umher. Er wusste, dass er Belle dort abgesetzt hatte. Er hatte gesehen, wie Frank ihr durch das Fell gestrichen hatte, und wie Allie ein Leckerli in das Maul des begeisterten Hundes hatte fallen lassen. Er wusste nicht, was für ein komisches Spiel sie spielten, aber er würde es herausfinden.

Wütend murmelte er auf der Fahrt vor sich hin. Wenn es sein müsste, würde er nachts mit einer Taschenlampe wiederkommen. Schließlich war er ein versierter Spurenleser und außerdem äußerst hartnäckig.

Zurück auf seinem Grundstück hielt er mit quietschenden Reifen vor dem Haus, stieß mit der Schulter die Autotür auf und joggte dann die Stufen hinauf, wobei er immer noch vor sich hin murmelte. Plötzlich kam ihm ein Gedanke und er blieb abrupt stehen. Vielleicht war Belle ja weggelaufen und es war ihnen zu peinlich gewesen, das zuzugeben. Ben drehte sich um und formte mit den Händen einen Trichter um seinen Mund.

»Belle!« Er wartete ein oder zwei Sekunden und schrie dann erneut: »Be-eeelle!«

Emma kam nach draußen und streckte ihm eine Flasche Bier entgegen. »Was ist denn los?«

Ben wandte sich ihr zu. »Das wüsste ich auch nur allzu gerne.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, wobei er wieder dieses merkwürdige Kribbeln in seiner Magengrube spürte. »Irgendwas ist komisch.« Er seufzte. »Belle … du kennst Belle doch, oder?«

»Äh, ja?« Sie drückte ihm das Bier in die Hand. »Was ist denn mit ihr?« Sie legte die Stirn in Falten.

»Scheiße, ich weiß es nicht.« Er verzog das Gesicht. »Ich habe sie doch bei Frank und Allie abgesetzt, oder?«

»Natürlich hast du das.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo ist sie denn?«

»Sie haben gesagt, sie hätten sie nicht.« Ben schnaubte verächtlich. »Um genau zu sein, haben sie sogar gesagt, sie hätten noch nie im Leben von ihr gehört.« Obwohl er es nicht wollte, wurde seine Stimme immer lauter. »Sie haben außerdem gesagt, sie wüssten nicht, was ein gottverdammter Hund ist.«

»Das ist doch komplett irre, du musst dich verhört haben«, sagte sie.

»Nein, ich habe mehrfach nachgefragt – keine Belle, kein Hund.« Er blickte fragend in Richtung Himmel.

»Das ist doch Blödsinn, dann fahren wir eben noch mal zusammen zu ihnen.« Sie überlegte kurz. »Moment, ich hole schnell ein Foto von ihr.«

Sie nahm ihm das Bier wieder aus der Hand und verschwand im Haus. Ben wartete, wobei das ungute Gefühl in seinem Bauch sich immer weiter ausbreitete. Plötzlich fragte er sich, ob ihm jemand einen Streich spielen wollte, von dem alle wussten, bis auf ihn. Jetzt fehlte nur noch die Auflösung am Ende.

»Ben?«

Er eilte ins Haus und sah Emma am Kamin sitzen, die Arme auf den Sims gestützt. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Weg! Einfach weg!«

Ben trat an ihre Seite und schaute sich um. Auf dem Kaminsims standen die üblichen Gegenstände. Kleine Vasen, ein bunter Stein, den Zach mal gefunden hatte und ein paar Bilder in silbernen Rahmen. Es gab ein Foto von seiner Mutter, seinem Vater, Emmas Eltern, ein paar Aufnahmen vom Haus zu verschiedenen Jahreszeiten, und diverse Schnappschüsse von Zach. Doch das war alles. Insgesamt waren es acht Bilder, so wie immer. Ben neigte den Kopf nach vorn. Eines der Bilder war anders. Wie in Trance machte er mit steifen Gelenken einen Schritt nach vorn. Auf dem Foto sah er Zach nach einem Football-Spiel. Er grinste außer sich vor Freude, weil er den letzten, entscheidenden Touchdown geschafft hatte. Auf der einen Seite lag sein Helm auf dem Boden, und auf der anderen … nichts.

 

»Wo ist Belle?« Er hob den Bilderrahmen an. »Er hatte seine Hand doch auf ihrem Kopf, und sie saß genau da!« Er zeigte mit dem Finger auf den leeren Rasen.

Emmas Mund öffnete und schloss sich, doch es kamen keine Worte heraus. Sie schaute ihn einfach nur verwirrt an.

Ben hielt sich das Bild ganz nah vor das Gesicht und suchte nach Spuren einer Bildretusche. Das musste doch ein Trick sein. Langsam schüttelte er den Kopf.

»Was zur Hölle ist hier los?« Er schaute Emma an, die inzwischen ganz blass war. Plötzlich weiteten sich ihre Augen und dann rannte sie in die Küche. Er hörte, wie Schubladen und Schranktüren geöffnet und geschlossen wurden und alle möglichen Dinge herumklapperten. Ben folgte ihr.

»Es ist alles weg.« Sie schaute ihn an und hob die leeren Handflächen. »Ihre Fressnäpfe, ihr Futter, die Spielsachen – alles weg.« Emma schüttelte den Kopf. »Es ist so, als hätte sie nie existiert.«

»Genau wie Frank gesagt hat«, murmelte Ben. »Er hat gefragt: Was ist ein Hund?«

»Das kann doch nicht sein.« Emma nahm ihm das Bild aus der Hand und kniff die Augen zusammen.

Plötzlich spürte Ben einen schweren Verlust, als wäre sein Haustier gerade gestorben. »Aber sie hat doch gelebt.« Er schaute Emma hilflos an. »Was passiert gerade mit uns?« Dann lächelte er schwach. »Wenigstens siehst du es genauso.«

»Beziehungsweise sehe ich es genauso nicht.«

»Mom, Dad?«

Sie schaute Ben erschrocken an. »Zach ist da. Was sagen wir ihm denn jetzt bloß?«

Ihr Sohn kam in die Küche geschossen, dann wirbelte er noch einmal herum und rief zur Tür hinaus: »Bis bald, Tim! Danke, Mrs. Abernathy, tschüss!«

»Danke, Angie«, rief auch Ben und hörte die Mutter von Zachs Freund einen Gruß durch die immer noch offene Tür erwidern, dann schloss sie diese von außen.

Zach grinste sie freudestrahlend an, seine halblangen, schwarzen Haare hingen ihm in die grünen Augen. Er schoss nach vorne, um Emma zu küssen und Ben zu umarmen. Er bemerkte gar nicht, wie mitgenommen sie waren, und eilte zur Speisekammer, um sich einen Keks zu holen. Dann kam er zurück und lächelte sie kauend an, bis er bemerkte, dass etwas nicht stimmte und innehielt.

»Was ist denn los?«

Ben schaute kurz zu Emma. Beide warteten darauf, dass der andere etwas sagte, doch Ben wusste, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, bis Zach nach seinem Lieblingstier fragte, also ergriff er das Wort.

»Zach, wir glauben, dass Belle vielleicht weggelaufen ist.«

Zach legte die Stirn in Falten. »Wer?«