PRIMORDIA 3 – RE-EVOLUTION

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Aus der Reihe: Primordia #3
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Kapitel 6

Im Pazifischen Ozean, kurz vor der Küste San Diegos

Re-Evolution: 005

Drake Masterson zog an dem Seil, das das Segel kontrollierte, und ließ das Boot dadurch leicht zur Seite kippen. Er selbst lehnte sich nun nach außen, um das passende Gegengewicht zu bilden. Während sein Wassergefährt an Tempo zulegte, musste er seinen Oberkörper immer weiter über das Wasser hinauslehnen.

Die salzige Gischt spritzte in sein Gesicht, und seine muskulösen Arme umschlossen das elastische Seil und die Ruderpinne mit festem Griff. In der Bucht am Pacific Beach war es um diese Jahreszeit schön warm, eine Gelegenheit, die man auf keinen Fall verpassen durfte.

Drakes Sicherheitsfirma lief momentan richtig gut, sogar so gut, dass er selbst meistens gar nicht mehr vor Ort sein musste. Deshalb konnte er Zeit mit Dingen verbringen, die ihm wirklich wichtig waren – wie das Segeln.

Er hatte ganz bei null angefangen und Unterricht genommen, um die Grundlagen zu erlernen, dann hatte er sich ein Boot gekauft und richtig losgelegt. Hier draußen gab es nur ihn, die Wellen, den Wind und den blauen Himmel. Bei günstigen Bedingungen hatte er das Gefühl, regelrecht zu fliegen, wenn er mit seiner acht Meter langen Catalina Capri 22 über das Wasser fegte, ihres Zeichens ein voll ausgestattetes Rennboot. Er hatte es Nelly getauft, nach seiner Mutter. Es gab sogar eine kleine Kajüte, in der er schon so manche warme Nacht in einer schützenden Bucht verbracht hatte. Er mochte das Gefühl, von den Wellen in den Schlaf gewiegt zu werden, und überhaupt war das Segeln reiner Balsam für seine Seele, nach all diesen Jahren voller Aufregung.

Abgesehen davon gab ihm sein Hobby viel Zeit zum Nachdenken. Es war neun Jahre her, dass er, Helen Martin, Emma Wilson und Ben Cartwright aus dem Amazonasdschungel zurückgekehrt waren. Sie waren alle ziemlich hinüber gewesen, aber am Leben. Alle anderen, die mit ihnen unterwegs gewesen waren, hatten nicht so viel Glück gehabt.

Je mehr Jahre vergingen, umso mehr hatte Drake das Gefühl, das alles wäre gar nicht passiert. Es war einfach so abwegig. Irgendwo im tiefsten Herzen des Amazonas gab es einen Tafelberg, ein Tepui, der alle zehn Jahre zu einer Art Portal in eine hundert Millionen Jahre entfernte Vergangenheit wurde. Man musste das Portal innerhalb von vierundzwanzig Stunden betreten und wieder verlassen, sonst war man dort gefangen. Drake schüttelte den Kopf. In diesen paar Stunden hatten sie fünf gute Menschen verloren. Sogar sechs, wenn man den jungen Mann mitzählte, der unbedingt hatte dortbleiben wollen. Ben Cartwright hatte sogar zehn Jahre dort überlebt. Das müssen die zehn höllischsten Jahre gewesen sein, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte.

Drake war der Meinung, dass alles und jeder, mit dem er in seinem Leben zuvor konfrontiert worden war, gegen dieses Erlebnis verblasste. Selbst seine Zeit als Elitesoldat, als er an der Seite von Ben Cartwright gegen ruchlose und blutrünstige Gegner gekämpft hatte. Das alles war nichts gegen die urzeitlichen Monster gewesen, denen sie im Amazonas gegenübergestanden hatten.

Bei diesem Gedanken lachte er laut auf. Eine Sache war jedenfalls sicher: Er war dankbar für jeden Tag, den er zu Hause war, lebte und sich in einem Stück befand. Drake zog an dem Seil, um das Hauptsegel noch etwas optimaler in den Wind zu drehen. Nellies Bug ging daraufhin noch ein paar Zentimeter nach oben und die Geschwindigkeit erhöhte sich, was Drake unwillkürlich jubeln ließ. Sein Magen kribbelte vor Aufregung, doch dann wurde das Boot so abrupt langsamer, dass er nach vorne geschleudert wurde und beinahe auf das Deck schlug.

»Was zur Hölle ist denn jetzt los?«

Nelly setzte ihren Weg fort und es war auch kein lautes Geräusch von unten ertönt, als wäre sie gegen ein treibendes Objekt wie ein Fass oder eine Kiste gefahren, ganz zu schweigen von einer Sandbank. Aber Drake war sich sicher, dass er mit irgendetwas kollidiert sein musste. Das Komische war nur, dass es sich eher angefühlt hatte, als wäre er in ein Kissen hineingefahren.

Vielleicht war es ja ein Algenteppich, dachte er und schaute über die Reling, wo er plötzlich die Hälfte einer riesigen Qualle vorbeitreiben sah.

»Oh mein Gott«, flüsterte er. Das Ding musste an die drei Meter Durchmesser haben. Er schaute weiter ins Wasser und sah dann die andere Hälfte vorbeitreiben. Sein Boot musste das Riesending praktisch zweigeteilt haben.

»Was für ein Monster!«

Drake hatte schon davon gehört, dass es in den eisigen Gewässern des Nordens Quallen gab, die bis zu einem Meter Durchmesser haben konnten und über fünfzig Kilogramm schwer waren, aber dieses Ding hier war bestimmt fünfmal so groß.

»Komisch.« Er segelte weiter und kreuzte noch eine Stunde lang auf und ab, bevor er zum Segelklub zurückkehrte. Meistens parkte er Nelly in dem kleinen Bootshaus des Klubs, aber bei dem guten Wetter band er sie einfach nur an den Pier, damit er am nächsten Morgen gleich wieder losfahren konnte.

Er schnappte sich seine Sachen, räumte auf, spritzte die Segel, die Seile und das Deck mit Wasser ab und klettere dann auf den sonnengewärmten Holzpier. Dort schloss er die Augen und ließ die Sonne ein Weilchen auf sein Gesicht scheinen.

Das Leben war schön und er fragte sich, was sein bester Freund Ben wohl gerade so trieb. Drake hoffte, dass Emma und Ben ihr eigenes kleines Paradies gefunden hatten, so wie er, denn er hatte wirklich alles, was er sich wünschte. Nun ja, nicht ganz alles, denn leider hatte er Helen verloren, und in diesem Moment vermisse er sie unfassbar. Er wünschte sich, sie wäre jetzt hier, dann könnte er ihr von der Qualle erzählen. Er seufzte und konzentrierte sich auf die wärmenden Sonnenstrahlen auf seinen Wangen. Die Zeiten ändern sich nun mal, dachte er, und so manches bleibt leider auf der Strecke.

Schließlich öffnete Drake die Augen und wandte sich dem Klubhaus zu, das eine Bar und ein Restaurant beherbergte. Die Sonne stand bereits tief am Himmel und färbte den Horizont orange. Ein paar Schnepfenvögel staksten auf ihren langen Beinen herum und warteten darauf, dass sich die nächste Welle verzog, damit sie den Strand hinunterflitzen konnten, um alle freigelegten Schalentiere aufzupicken. Anschließend eilten sie zurück, bevor sie nass wurden.

Während er dabei zusah, kam eine große Welle, und als die Schnepfen gerade vor ihr weglaufen wollten, schnellte ein Teil davon wie eine Hand aus Wasser nach vorne und stürzte sich auf einen der Vögel. Jetzt sah Drake, dass diese Hand in Wahrheit eine dieser Quallen war, die er im Meer gesehen hatte. Das Ding hatte sich eine der Schnepfen geschnappt und zog sie ins Wasser. Durch den gallertartigen Körper sah Drake, wie das kleine Federtier kämpfte. Es war wirklich grausam.

Drake drehte sich um und hoffte, dass irgendjemand anderes es auch gesehen hatte, doch er war allein.

Wie krank ist das denn?, fragte er sich. Er zog schnell sein Handy hervor und versuchte, ein Bild zu machen, doch der glibberige Jäger und seine Beute waren bereits wieder verschwunden. Vollkommen absurd, dachte er. Heute Abend würde er mit den Leuten im Club darüber reden.

Kapitel 7

Am südöstlichsten Ende Nordamerikas – vor 100 Millionen Jahren

Andy hörte auf zu paddeln und ließ das rustikale Boot weitergleiten, als der Fluss in eine größere Wasserfläche mündete. Dort fiel ihm eine merkwürdige Stromschnelle auf; direkt unter der Oberfläche musste sich eine Felskante oder ein ähnliches Hindernis befinden. Also würde er entweder paddeln müssen wie ein Irrer oder an Land gehen, um das Boot auf die andere Seite zu ziehen.

Wenn er aussteigen müsste, wollte er jedenfalls direkt festen Boden unter den Füßen haben, ohne erst noch durch das Wasser waten zu müssen, denn der Fluss hatte sich schon vor einer Weile braun eingefärbt und es war unmöglich zu sagen, was sich außer abgestorbenen Pflanzenresten und Schlamm sonst noch darin befand.

Eigentlich machte ihm das nicht wirklich Sorgen, doch dass er in einiger Entfernung etwas aus dem Wasser auftauchen sah, war schon eher beunruhigend. Er konnte es nicht genau erkennen, doch es konnte sowohl ein Süßwasser-Mosasaurus sein als auch ein Riesenkrokodil oder eine Schildkröte von der Größe eines Kleinwagens.

Wenn er versuchen würde, das Boot aus dem Wasser zu ziehen, könnte er eine Schildkröte auf jeden Fall abhängen, aber wenn es irgendwas anderes wäre, würde er zu Fischfutter werden.

»Scheiße«, flüsterte er.

»Gluck.«

Andy schaute auf das kleine Reptil hinab.

»Wohnt da jemand?« Gluck hatte den Kopf schief gelegt und starrte ihn mit einem seinen rubinroten Augen an.

Andy seufzte und nickte. »Ja, da wohnt jemand, und dieser Jemand ist verdammt groß.« Er stützte seine Unterarme auf die Bordkante. »Da können wir nicht reingehen, auch wenn ich mir sicher bin, dass dieser Jemand uns verdammt gern kennenlernen würde.«

Minutenlang starrte er auf den See hinaus, bevor er zu einer Entscheidung gelangte. Er fluchte, denn er wusste, dass es lange dauern würde und riskant war. Trotzdem fing er an, auf das nahe gelegene Ufer zuzupaddeln.

Das Boot drang in Schilfgras ein, woraufhin irgendetwas panisch hinwegglitt und in den Tiefen des Flusses abtauchte. Dann lief das Boot auf Grund und blieb stecken. Andy sprang hinaus und zog es ein Stück weiter auf das Festland, dann betrat er es wieder, um seine Sachen einzusammeln. Er benutzte dazu eine Art einfachen Rucksack, den er aus zusammengewobenen Fasern hergestellt hatte, nach dem Vorbild von Urvölkern aus Papua-Neuguinea. Überhaupt waren ihm seine Kenntnisse über die Handwerkskunst solcher Stämme schon oft sehr nützlich gewesen. So hatte er sich nach einigen Fehlschlägen Schuhe aus Tierhäuten angefertigt, dazu eine Fellweste und -hose. Er besaß Behälter für Trinkwasser, die momentan allerdings leer waren, und packte Gluck jetzt in einen von ihm gefertigten Sack, der es sich sofort darin bequem machte.

 

Andy kniete sich ins Boot und warf einen letzten Blick auf die Stelle im See, wo er die große Gestalt gesehen hatte. Seine Augen verengten sich, als er die jetzt still daliegende Wasseroberfläche absuchte. Es war absolut windstill und das einzige Geräusch war das Summen der Insekten im Schilfgras. Die Sonne wärmte den Boden und er roch schlammige Erde, Pflanzen und ein Dutzend anderer Gerüche. Hätte er das Ding nicht kurz gesehen, würde er gar nicht ahnen, dass es da war.

Er wusste, dass große Krokodile wie der Deinosuchus und der Mourasuchus in dieser Gegend lebten und ihm sogar aus dem Wasser heraus folgen konnten. Aber sie waren groß, im Extremfall bis zu fünfzehn Metern lang und wogen viele Tonnen, sodass sie langsam waren. Da der Dschungel sehr dicht war, würden sie ihm nicht lange nachstellen können. Er verzog das Gesicht, denn es gab eine Sache, die ihm sehr wohl folgen und ihn fangen könnte, wahrscheinlich sogar, bevor er auch nur fünf Meter geschafft hatte.

Bitte, lass es keine Titanoboa sein!

Er wartete ein paar weitere Minuten und wünschte sich, seine Schwester Helen wäre hier, damit er sich mit ihr besprechen könnte. Sie war schließlich die Expertin für das Verhalten dieser Schlange, und es gab auch noch etwas anderes, das er mit ihr besprechen wollte. Warum hatten diese Schlangen nur den Tafelberg bewohnt? Warum bevorzugten sie dieses Gebiet als ihr Zuhause?

Ein Mysterium, das ich ein anderes Mal lösen muss, dachte er.

Er wandte sich dem Dschungel zu. Dort waren dicke Baumstämme, Palmen, Farne und Schlingpflanzen zu sehen. Pilze wuchsen großflächig auf den Stämmen; sie waren orangefarben, braun oder backsteinrot. Alles dampfte regelrecht.

Der dichte Dschungel machte ihm immer Sorgen und er bevorzugte das Wasser, wo er besser sehen konnte, was auf ihn zukam – zumindest, solange es sich an der Oberfläche zeigte. Ihm reichte schon ein Blick auf diese dichte, grüne Wand, um ängstlich und nervös zu werden.

Wenigstens kann ich dort nach etwas zu Essen suchen, dachte er. Er wusste, dass er viel zu wenig Grünzeug aß und wenn man sich nur von Fleisch ernährte, konnte man schnell Skorbut und Rachitis bekommen, wovon ihm irgendwann die Zähne ausfallen würden.

Neben dem Boot glitt jetzt irgendein Schalentier durch das Wasser und Andy schnappte es sich. Es war etwa faustgroß und sofort kam ein Fuß aus dem Gehäuse heraus, der aussah wie eine blaue Zunge. Andy riss ein großes Palmblatt ab und wickelte die Wasserschnecke ein, um sie frisch zu halten, dann tat er sie in seinen Beutel, um sie später zu essen.

Er warf einen Kontrollblick hinein. »Vertragt euch, ihr beiden.«

»Gluck«, beschwerte sich Gluck.

»Ich weiß, dass er komisch riecht, aber du etwa nicht?« Andy schloss den Beutel.

Er fragte sich oft, ob irgendetwas, das er in dieser Zeit tat, eine Auswirkung auf die Zukunft haben würde. Vor seiner Reise hierher hatte er einige Recherchen in dieser Richtung angestrengt und hatte von vielen Theoretikern gelesen, dass es passieren könnte, wogegen andere der Meinung waren, die Zukunft wäre unveränderlich, da alles sowieso passieren würde oder sollte.

Vielleicht würde ohne ihn die Zukunft auch gar nicht so sein, wie er sich an sie erinnerte. Im Grunde war so ein Zeitparadoxon unergründlich.

Andy warf einen letzten Blick auf den See und verließ dann sein Boot. Für einen Moment stand er einfach nur da und drehte sich langsam im Kreis.

»Ich taufe dich auf den Namen Amerika

Dann verschwand er in den Dschungel.

Kapitel 8

Elmo, in Utah – der Friedhof der Knochen

Re-Evolution: 006

Helen Martin entstaubte gerade vorsichtig ein paar versteinerte Knochen. Obwohl nur der Umriss eines Schädels zu sehen war, erkannte ihr in der Paläontologie geschultes Auge sofort, dass dies ein bedeutender Fund war. Ihre Begeisterung wuchs deshalb mit jedem einzelnen Wischer ihres Spezialpinsels.

Es musste sich um ein Exemplar der Spezies Triceratops handeln, doch dieses war anders als alle anderen. Es hatte nach vorne zeigende Hörner auf der Stirn und ähnelte damit keinem der anderen Funde. Außerdem war der Schädel riesig. Er hatte an die zwei Meter Durchmesser und war abnormal proportioniert.

Sie hielt einen Moment inne, um ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen: Sand, Lehm, Dünen, Massen harten Gesteins und ein paar hart gesottene Pflanzen.

Die Gegend hier in Elmo war eine echte Fundgrube für Dinosaurier-Fossilien, vor allem die Skelette von Allosauriern gab es hier in Hülle und Fülle. Das waren große Zweibeiner mit riesigen, eckigen Köpfen. Doch es war natürlich tausendmal cooler, etwas Seltenes zu finden.

Helen drehte den Kopf weg, weil sie niesen musste, denn die trockene Luft kitzelte in ihrer Nase. Das war eigentlich eine gute Sache, denn obwohl dieses Gebiet heutzutage staubtrocken war, hatte sich hier in der späten Kreidezeit ein riesiger Sumpf ausgebreitet, in dem Massen von riesigen Pflanzenfressern gelebt hatten, die natürlich von Fleischfressern gejagt worden waren. Zu dieser Zeit hatte der Meerespegel höher gelegen als heute und Nordamerika in zwei Hälften geteilt. Die westliche Landmasse hatte man Laramidia genannt, sie enthielt das, was heute die Westküste von Kanada und den USA war. Im Osten befand sich das fast genauso große Appalachia, ein eher bergiges Land.

Helen wischte sich den Schweiß von der Stirn und hockte sich hin. Früher war sie auf prähistorische Schlangen spezialisiert gewesen, vor allem auf die Titanoboa, aber nachdem sie beinahe von einer von ihnen umgebracht worden war, brachte sie es nicht mehr fertig, diese Spezies auch nur anzuschauen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie hatte mitansehen müssen, wie andere Menschen von diesen Bestien zerquetscht und bei lebendigem Leibe gefressen worden waren. Sie hatte Jahre gebraucht, um die psychischen und physischen Traumata hinter sich lassen zu können. Zu diesen Blessuren kam noch hinzu, dass ihr kleiner Bruder, Andy, immer noch in dieser Zeit feststeckte.

Ihre Augen wurden feucht, als sie auf die Knochen hinunterblickte, die sich vor ihr auftaten. Vielleicht werde ich ihn ebenfalls eines Tages ausgraben, dachte sie. Wieder kitzelte ihre Nase, doch dieses Mal waren melancholische Erinnerungen der Grund dafür.

Sie fand es wirklich schlimm, dass sie jetzt allein war. Nachdem sie gemeinsam durch die Hölle gegangen waren und überlebt hatten, waren sie und Drake für einige Jahre ein Paar gewesen, doch dann hatten sie sich auseinandergelebt. Vermutlich hatten sie sich irgendwie doch immer wieder an die schrecklichen Ereignisse erinnert und brauchten deshalb Distanz, damit die seelischen Wunden heilen konnten.

»Oooh!« Helen spürte, wie ein starkes Kribbeln durch ihren Magen huschte und legte sich eine Hand auf den Bauch, während das Sonnenlicht kurz wie ausgeknipst schien, ein paar Sekunden später aber wieder zurückkehrte. Sie blinzelte und fragte sich, ob sie sich das Ganze nur eingebildet hatte.

Sie schaute sich um und sah die beiden Studenten, die ihr halfen, um Bonuspunkte für ihre Abschlussarbeit zu sammeln. Edward Ramirez und Elizabeth Shelly waren beide kompetent, nett und absolut verlässlich, was ihre Sorgfalt anging, doch sie schienen nichts davon bemerkt zu haben, was gerade passiert war, also hatte Helen es sich wohl nur eingebildet. Vielleicht war sie auch einfach nur dehydriert. Sie öffnete den Verschluss ihrer Wasserflasche und trank ein paar Schlucke, wobei sie ihren Blick über die Ausgrabungsstätte schweifen ließ. Irgendwie schien auf einmal alles grüner zu sein oder die Pflanzen waren ihr vorher nicht aufgefallen.

Zu ihrer Linken arbeitete Edward gerade an einer Schieferfläche, direkt unter einem merkwürdigen Busch. Da hatte er sich ein wirklich gutes Plätzchen gesucht, da er an die Fossilien herankam, aber gleichzeitig einen natürlichen Schatten abbekam.

Sie sah ihm einen Moment bei der Arbeit zu und betrachtete dann den Busch über ihm. Dort hing etwas, das wie große Kirschen aussah, was sie irgendwie merkwürdig fand, denn normalerweise gedieh in dieser nährstoffarmen, trockenen Umgebung kaum etwas. Den Luxus, Früchte zu produzieren, konnten sich die meisten Pflanzen deswegen gar nicht leisten.

Sie wollte sich gerade wegdrehen, doch dann fiel ihr auf, dass sich eine der Kirschen, die besonders groß und rot war, dem Kopf des jungen Mannes zu nähern schien. Sekunden später war sie nur noch wenige Zentimeter entfernt und explodierte zu Helens Verwunderung in einer Wolke aus Staub oder Gas.

Edward glitt daraufhin zu Boden, als hätte er sich spontan entschlossen, ein kleines Nickerchen zu machen.

Was zur Hölle ist denn da los?, fragte sich Helen und legte die Stirn in Falten.

»Edward«, rief sie laut genug, dass der junge Mann es auf jeden Fall hören musste. Doch er reagierte nicht, und Helen sah, dass merkwürdige Tentakel aus dem Busch hervorgekrochen kamen.

»Hey!« Helen sprang auf, und Elizabeth, die andere Studentin, drehte sich verwirrt in ihre Richtung.

»Hey!«, rief Helen erneut, warf einen schnellen Blick auf ihre Werkzeuge, und schnappte sich eine kleine, aber scharfkantige Metallschaufel. Dann sah sie, wie die Tentakel sich um den jungen Mann wickelten und ihn vorsichtig vom Boden aufhoben.

Scheiße. Sie rannte los.

Edward war definitiv ohnmächtig. Helen holte mit der Schaufel aus und schlug dann wie mit einer Machete zu. Sie hackte einige der dünneren Schlingpflanzen ab, doch den dickeren konnte sie nichts anhaben. Also versuchte sie, die Dinger auszureißen, doch sie stellte schnell fest, dass sie mit kleinen, scharfen Dornen übersät waren, die sich bereits an Edwards Kleidung festgehakt hatten … und in seinem Fleisch.

Elizabeth sprang ihr nun bei und fing an, die Tentakel mit einer kleinen Spitzhacke zu bearbeiten. Endlich waren ihre Bemühungen zu viel für die grauenvolle Pflanze und der junge Mann kam frei. Elizabeth ließ ihre Hacke fallen und packte ihn bei den Schultern, um ihn ein paar Meter wegzuziehen, damit er in Sicherheit war.

Helen stand einfach nur da und starrte ungläubig den Busch an, wobei sie immer noch schwer atmete. Sie sah, dass auf dem Boden kleine Pfützen aus Edwards Blut entstanden waren, in die kleinere Versionen der Tentakel nun ihre Enden hineinsteckten, wie Katzen, die etwas Milch aus einer Schüssel tranken.

Vorsichtig näherte sie sich dem gefährlichen Gewächs und konnte erkennen, dass sich zwischen dem Grün alle möglichen Knochen befanden. Von kleinen Echsen, Vögeln, und etwas, das sogar der Schädel eines Kojoten sein konnte.

»Was zur Hölle ist hier los?« Sie drehte sich entgeistert um.

Elisabeth wischte Edwards Wunden vorsichtig mit einem Taschentuch sauber. »Vampirseide«, sagte sie. »Wir hätten eigentlich wissen müssen, dass sie hier wächst.«

»Was?« Helens Mund stand weit offen und sie starrte sie einfach nur an. »Was ist denn das für eine fiese Pflanze?«

Elizabeth legte den Kopf schief, wobei sich eine gewisse Verwirrung auf ihrem jugendlichen Gesicht manifestierte. »Es ist mir auch gerade erst wieder eingefallen. Vampirseide, ist eine parasitäre Schlingpflanze, die echt gefährlich ist. Sie kommt aber öfter in dieser Gegend hier vor, das weißt du doch.«

Helen schüttelte den Kopf und ihr wurde schwindelig. »Ich habe noch nie in meinem Leben von diesem Ding gehört oder ein Exemplar davon gesehen.« Sie wandte sich wieder der Pflanze zu, die ihre dornigen Auswüchse inzwischen zurückgezogen hatte und geduldig darauf wartete, dass ihr nächstes Opfer vorbeikam.

Irgendetwas hatte sich verändert, und je mehr Helen darüber nachdachte, umso mehr überkam sie eine schreckliche Gewissheit. Sie rieb sich die Stirn und ahnte langsam, wieso sie nicht auf dem gleichen Stand war wie Elizabeth. Warum kam ihr diese Pflanze so komplett abnormal vor, wenn sie der Studentin vollkommen vertraut war?

 

Als sie sich durch den Dschungel der späten Kreidezeit gehackt hatten, war ihr ein ähnlich blutrünstiges Gewächs über den Weg gelaufen. Nur was machte es jetzt hier, in dieser Zeit?

In ihrem Inneren bildete sich ein Knoten aus Sorge. Sie musste unbedingt mit jemandem reden, und zwar dringend, und es gab da jemanden, dem sie auf jeden Fall vertrauen konnte, weil er dasselbe erlebt hatte wie sie.