PRIMORDIA 3 – RE-EVOLUTION

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Aus der Reihe: Primordia #3
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Kapitel 9

Der Pazifische Ozean vor San Diego

Re-Evolution: 007

Drake war wieder auf dem Wasser unterwegs, etwa einen Kilometer vom Strand entfernt, wo das Wasser etwa hundert Meter tief war. Die Wasseroberfläche war von leichten Wellen gesäumt, die Nelly jedoch mühelos durchpflügte, ganz so wie ein heißes Messer durch Butter glitt.

Letzte Nacht und auch schon heute Morgen waren erneut diese komischen Blackouts passiert, die ein unangenehmes Kribbeln in seinem Bauch ausgelöst hatten. Ansonsten war es aber anscheinend niemandem aufgefallen, denn als er es einem Typen am Pier gegenüber erwähnt hatte, hatte der Drake so misstrauisch angestarrt, als müsste dieser einen Termin beim Psychiater machen.

Doch wenn der ehemalige Elitesoldat eines im Amazonasdschungel gelernt hatte, dann, dass das Leben kurz war und man nichts als gegeben hinnehmen durfte. Man musste sich über das freuen, was man hatte, und durfte sich nicht von anderen den Spaß verderben lassen.

Er schüttelte den Kopf, um das Spritzwasser aus seinem Gesicht zu schleudern, und schaute dann nach vorn. Es war ein idealer Tag zum Segeln, und er fand es komisch, dass außer ihm niemand hier draußen unterwegs war. In der Ferne hatte er das Gefühl, eine schwarze Silhouette im Wasser zu sehen, doch als er die Augen zusammenkniff, war sie wieder verschwunden.

Vielleicht wieder eine dieser fetten Quallen, dachte er. Dieses Mal würde er aber ein Foto von dem Ding machen! Sicherheitshalber stupste er kurz das Ruder an, damit er nicht wieder mit einem der Monster zusammenstieß. Es konnte sich ja immer noch um anderes Treibgut handeln, wie einen Baumstamm oder einen halb vollen Container. Seine Nelly war auf Geschwindigkeit und schnittiges Aussehen hin optimiert und definitiv kein Eisbrecher.

Der Wind legte noch einen Zahn zu, sodass das Boot sich noch weiter aufrichtete und über die Wellenspitzen tanzte. Drake musste sich jetzt nach hinten lehnen, damit es nicht zum Überschlag kam. Er näherte sich der Stelle, wo er den dunklen Umriss gesehen hatte. Als er sich noch weiter hinauslehnte, sah er das Ding genau unter sich und das Herz sprang ihm fast aus der Brust.

Da unten war ein riesiger Kopf, maximal drei Meter unter der Oberfläche, und der war so groß wie sein Boot. Er hing an einem walähnlichen Körper, doch das Schlimmste war, dass er ihm zu folgen schien.

Drake konnte seinen Blick gar nicht losreißen und sah, dass die Kreatur leicht auf die Seite gedreht war und ihn jetzt mit einem riesigen Auge anstarrte. Dann kam das Ding plötzlich an die Oberfläche.

»Um Himmels willen!«

Er drehte scharf ab, wobei er alle Hände voll zu tun hatte, die Leinen einzuholen, das Steuer im Griff zu behalten und sein eigenes Gewicht zu verlagern, um möglichst schnell Abstand zu gewinnen. Er blickte hastig zurück und sah, dass das Monstrum tatsächlich hinter ihm her war. Eine Fontäne aus Gischt schoss jetzt in die Luft, wie bei einem Wal, jedoch mit dem Unterschied, dass es zwei auf einmal waren, so als kämen sie aus einer verdammt riesigen Nase.

Drake spürte, wie sein Herz raste und er richtete den Blick schnell wieder nach vorne, um zu sehen, wie weit er noch von der rettenden Küste entfernt war … es war bestimmt noch ein guter Kilometer.

Er brachte das Boot noch steiler in den Wind und erreichte so die maximale Geschwindigkeit. Nelly streifte die Spitzen der Wellen jetzt nur noch leicht und war kurz davor, abzuheben und umzukippen. Das wollte Drake natürlich auf keinen Fall, denn er war sich ziemlich sicher, dass er nie mehr aus dem Wasser herauskommen würde, wenn er über Bord ging.

Ein kurzer Kontrollblick nach hinten zeigte ihm, dass die Kreatur zwar nicht näherkam, aber wirklichen Abstand gewann er auch nicht. Die riesige, v-förmige Bugwelle des Monsters blieb dicht an ihm dran. Was auch immer dieses Ding war, es war verdammt groß und verflucht schnell. Wenigstens war er genauso schnell, und solange der Wind hielt, würde er das auch bleiben.

Doch dann rammte die Nelly plötzlich etwas. Es war weich wie ein Kissen, und er wusste sofort, dass es eine von diesen verdammten Riesenquallen war. Das Boot verlor sofort zwei Drittel seiner Geschwindigkeit und Drake arbeitete wie ein Irrer, um das Segel wieder in den Wind zu bekommen. Er nahm zwar schnell wieder Fahrt auf, doch ein Blick zurück verriet ihm, dass sein halbwegs komfortabler Vorsprung sich halbiert hatte.

Scheiße, Scheiße, Scheiße … das kann doch nicht wahr sein, dachte er. Solch einen Irrsinn hatte er doch vor fast zehn Jahren auf diesem verdammten Plateau hinter sich gelassen. Sein Blick konzentrierte sich auf den näherkommenden Strand. Er hatte keine Zeit, den Pier des Klubs anzusteuern, aber es war ihm auch gerade herzlich egal, wo er hinfuhr, solange es nur trocken war.

Er schaute zurück und biss die Zähne zusammen, doch dann fuhr er gegen eine weitere Qualle und wurde nach vorne geschleudert.

»Verdammte Fickscheiße!«, brüllte er. Wieder rackerte er sich ab, um an Tempo zu gewinnen, doch als er erneut unterwegs war und nach hinten blickte, lief ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Das Ding war nicht einmal mehr hundert Meter entfernt. Mit einem sehnsüchtigen Blick starrte er auf den Strand.

Komm schon, Baby, du schaffst das!

Die Nelly rasierte wieder elegant die Wellenkämme, doch dann traf sie auf den Todfeind eines Rennseglers: Eine Flaute! Drake warf sich nach vorne, um nicht hintenüberzukippen, als der Wind plötzlich ausblieb.

Oh Scheiße, nein!

Doch dann wurde das Segel wieder von einer Böe getroffen und das Boot setzte sich langsam aus dem kompletten Stillstand heraus in Bewegung. Doch das ging langsam, so verdammt langsam. Die Geschwindigkeit nahm jetzt zu … fünf Knoten, zehn, fünfzehn, zwanzig … Drake schaute zurück und konnte den aus dem Wasser ragenden Buckel nun ganz genau erkennen. Er war glänzend grau, wie bei einem Wal, aber ein dunklerer Farbton. Das Ding war jetzt so nah, dass er ein paar Seepocken an seinem Rücken erkennen konnte, und erschreckenderweise starrten ihn die Augen eines Jägers an.

Die Nelly war jetzt wieder mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs und er zählte innerlich einen Countdown bis zum Strand hinunter. Es waren jetzt nur noch etwa hundert Meter, während das Monster nicht mal mehr fünfundzwanzig Meter entfernt war. Er bemerkte, dass es beschleunigte, um ihn noch zu kriegen, bevor es zu spät war.

Drake lehnte sich nach vorne, als ob dies das Boot schneller machen würde. Wie weit musste er noch fahren, bevor dieses Monster entschied, dass das Wasser zu flach wurde? Oder konnte es vielleicht sogar an Land gehen? Er dachte an die Qualle und den Vogel.

Unmöglich dachte er und hoffte, dass es das wirklich war.

Schneller, schneller, schneller, flehte er die Nelly in Gedanken an.

Vor sich sah er jetzt einen Haufen Algen im Wasser. Es konnte nur noch ein paar Meter tief sein. Er drehte sich um, in der Hoffnung, das Ding hätte vielleicht schon abgedreht, und tatsächlich war es nicht mehr zu sehen. Kein Wunder, so flach wie es hier war. Das Boot schoss auf den Strand zu … zwanzig Meter, zehn, fünf … dann lief es auf Grund und Drake sprang heraus.

Er hörte erst auf zu rennen, als er auf dem Kamm der ersten Sanddüne ankam, die etwa zehn Meter hoch war, dann wirbelte er herum.

Das Meer lag ruhig da. Natürlich sah er die weiße Gischt, aber kein riesiges Monster, keinen gigantischen Kopf, der aus dem Wasser schaute. Aber er wusste genau, was er gesehen hatte. Er verzog das Gesicht, als dieses seltsame Kribbeln wieder durch seinen Körper lief. Dann schien die Sonne sich wieder für eine Sekunde zu verdunkeln.

Drake schaute zum Himmel hinauf. Was soll dieser Quatsch?, fragte er die große, gelbe Sonnenscheibe.

»Bist du lebensmüde, Junge?«

»Hä?« Drake wirbelte herum.

Neben ihm auf der Düne stand jetzt ein alter Mann, der seine Sandalen in einer Hand trug und ein Fernglas um den Hals hängen hatte.

Drake zeigte mit dem Finger in Richtung Meer. »Haben Sie das gesehen?« Seine Stimme war höher, als es ihm recht war.

Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Klar habe ich das gesehen.« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete mit dem Daumen in Richtung eines Schildes, das aus dem Sand ragte. Drakes Unterkiefer fiel förmlich herunter, als er das riesige, gelbe Schild las.

Kronosaurier-Saison: Schwimmen, Segeln und Angeln streng verboten – Lebensgefahr!

Darunter war die stilisierte Silhouette des Meeresreptils zu sehen, das ihn gerade verfolgt hatte.

»Was?« Drake spürte, wie seine Augen fast aus den Höhlen fielen. »Ist das ein Witz?«

»Idiot.« Der Alte wandte sich ab. »Es gibt schon einen Grund, warum wir in dieser Jahreszeit nicht ins Wasser gehen. Es ist Brunftzeit für die Kronos. Wenn die hier etwas erlegen, gehen sie vielleicht das ganze Jahr nicht mehr weg.«

»Das ist doch irre.« Drake rannte ihm hinterher und packte ihn am Arm. »Seit wann ist das so?«

Der Mann schien auf einmal etwas Angst vor Drake zu bekommen, der selbst mit Mitte fünfzig immer noch sehr muskulös war.

»Seit wann?« Der Alte schüttelte den Kopf und wirkte verwirrt. »Das war doch schon immer so. Jedes Jahr kommen die Biester mit der warmen Meeresströmung hier die Küste hoch.« Er trat einen Schritt zurück. »Bleiben Sie einfach bis Oktober an Land, okay?«

»Alles klar«, erwiderte Drake und nickte. »Sicher.«

Der Mann wandte sich ab und verschwand über die Dünen, während Drake aufs Wasser starrte. Plötzlich sah der Ozean anders aus, irgendwie mysteriös und bedrohlich. Sein Blick wanderte am Strand entlang, wo sein Boot lag. Er hätte liebend gerne geglaubt, dass ihm jemand einen Streich spielen wollte, doch er wusste, was er gesehen hatte, und deswegen musste etwas passiert sein, das absolut unglaublich war.

 

Er spürte wieder dieses Kribbeln in seinem Bauch und wusste, dass das, was passierte, immer noch passierte. Sein Handy klingelte und er warf einen Blick darauf. Es war Helen.

Kapitel 10

Die Welt steht Kopf

Ben Cartwright legte das Telefon weg und wandte sich Emma zu. »Das war Drake. Er kommt mit Helen hierher. Sie sind bereits unterwegs und wollen etwas Wichtiges mit uns besprechen.« Er beobachtete sie aufmerksam. »Er klang ziemlich aufgeregt.«

»Sind sie denn wieder zusammen?« Emma hob die Augenbrauen. »Hat er gesagt, worum es geht?«

»Nein.« Ben ließ die Hände in seine Hosentaschen gleiten und ging langsam auf sie zu. »Aber du kannst es dir wahrscheinlich denken, oder?«

»Du meinst, denen ist auch so was Seltsames passiert?« Emma starrte für einen Augenblick auf den leeren Kamin. »Aber warum wir? Warum sind es nur wir, die mitbekommen, dass die ganze Welt plötzlich kopfsteht? Das ist doch irre!«

»Aber irre ist jetzt offenbar normal.« Er hielt inne und starrte sie an. »Das neue normal.«

Sie schaute ihn an. »Meinst du, es liegt daran, dass wir dort waren?«

Ben zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber wie könnte das zusammenhängen? Zach merkt zum Beispiel nicht, dass etwas nicht stimmt. Für ihn und die anderen war das alles schon immer so, nur wir sind diejenigen, bei denen etwas nicht stimmt.«

»Nur wir sehen die Veränderungen«, sagte Emma leise.

Ben ging zum Fenster hinüber. »Und genau das macht mir Sorgen.« Er sprach über seine Schulter weiter: »Wann hört das auf? Was wird als Nächstes geschehen?«

Es klingelte an der Tür und Emma stand auf. »Es ist Zeit für ein paar Antworten«, sagte Ben.

Emma öffnete die Tür, während Ben wieder an ihre Seite trat. Als Drake hereinkam, umarmte sie ihn und ließ ihn dann vorbei, damit er Ben die Hand geben konnte. Anschließend nahm sie Helen in den Arm und begrüßte sie höflich. Es war schon lange her, dass sie sich gesehen hatten, doch für Ben sahen sie immer noch aus wie damals, abgesehen von ein paar silbernen Strähnen im Haar, und dazu vielleicht die eine oder andere Falte im Gesicht. Was jedoch neu war, war der abgehetzte Gesichtsausdruck bei beiden.

»Kommt herein.«

Ben führte sie ins Wohnzimmer, wo schon eine dampfende Kaffeekanne auf dem Tisch stand, sowie frisch aufgeschnittener Orangenkuchen, den Emma am Morgen gebacken hatte. Hinter ihnen knisterte das Feuer im Kamin und er hoffte, dass das Ambiente eine Atmosphäre der Ruhe vermittelte; eine Art sicheren Hafen in all diesem Irrsinn.

»Wo ist denn der Hochbegabte?«, fragte Drake.

Ben schmunzelte und deutete zur Treppe nach oben. »Ich wette, er kämpft entweder gerade gegen Drachen oder zerhackt irgendwelche Zombies.«

»Wenn er bloß wüsste, dass sein Vater das in echt gemacht hat … also, zumindest das mit den Drachen.« Drake setzte sich auf das Sofa und bewunderte dessen saubere Oberfläche. »Hey, gar keine Hundedecke voller Haare mehr?«

»Tja, das ist ja die Sache …« Ben schaute ihn ernst an und legte seine Hände zusammen. »Was ist ein Hund?«

»Hä?« Drake verzog das Gesicht und seine Gabel mit dem Stück Kuchen darauf schwebte nun ein paar Zentimeter von seinem Mund entfernt. »Was soll das heißen?«

Helen setzte sich und Emma übernahm, während sie ihr einen Kaffee eingoss. »Nun ja, es gibt sie nicht mehr.«

Drake und Helen starrten sie an, als Ben weitersprach: »Wir hatten einen Hund, wir wissen es ganz genau. Aber er ist weg.« Er verzog das Gesicht. »Er ist nicht nur weg, er hat nie existiert. Um genau zu sein, gibt es überhaupt keine Hunde mehr.« Er schaute seine Freunde eindringlich an. »Außer in unserer Erinnerung.«

Emma presste ihre Lippen zusammen. »Irgendwas hat sich verändert. Irgendwie hat sich die ganze Welt verändert.«

Drake ließ die Hand mit der Kuchengabel sinken. »Ich wusste es!« Er wandte sich Helen zu. »Siehst du?«

Ben saß auf der Kante seines Stuhls, seine großen Hände umklammerten seine Knie. »Ich habe Dinge gesehen, seltsame Dinge, die ich nicht verstehe, und ich denke, euch geht es genauso, stimmt's?«

Helen nickte. »Allerdings. Ich habe fleischfressende Pflanzen gesehen, die meine Studenten angegriffen haben. Die hat es vorher definitiv nicht gegeben. Das wüsste ich doch.« Sie schüttelte den Kopf. »Die Studenten aber haben so getan, als wäre ich verrückt, weil ich nie etwas davon gehört hatte.«

Drake nickte. »Ja, das war für mich auch das Härteste. Jeder tut so, als wäre ich derjenige, mit dem etwas nicht stimmt. Ich war segeln und bin von etwas verfolgt worden, das wie ein riesiger Wal aussah. Aber es war keiner. Es sah aus, als würde eine Riesenechse unter Wasser schwimmen …« Er wandte sich Helen zu. »Was hattest du noch mal gesagt, was es gewesen sein könnte?«

»Ein Kronosaurus oder ein Tylosaurus … vielleicht einer von denen. Auf jeden Fall längst ausgestorben«, sagte sie leise.

»Genau, ein Kronosaurus … so einer war es. Ein gottverdammtes Monster. Ich habe es nur mit knapper Not lebendig an den Strand geschafft.« Er lehnte sich zurück und schnaubte verächtlich. »Und wisst ihr, wieso mir das passiert ist? Weil wir gerade die sogenannte Reptiliensaison haben – die Krono-Saison!« Seine Augenbrauen wanderten nach oben. »Was soll dieser Scheiß? Wann soll das denn alles passiert sein? Ich meine, die hatten sogar Warnschilder an dem Strand. Die waren vorher ganz sicher nicht da, das weiß ich genau.«

Ben nickte. »Die Welt verändert sich gerade. Wir leben nun offenbar in einer Welt, in der es keine Hunde mehr gibt, aber dafür Meeresungeheuer.«

»Ziemlich beschissener Tausch«, meinte Drake.

Helen driftete in Gedanken gerade ab. »Hunde haben sich nie entwickelt und andere Spezies sind nie ausgestorben. Die Evolution hat offenbar eine ganz andere Bahn eingeschlagen.« Sie schaute auf. »Etwas ist passiert, das alles verändert hat, und zwar in der Vergangenheit.«

»Es passiert immer noch«, warf Emma ein. »Hey, hat jemand von euch in letzter Zeit ein komisches Gefühl gehabt? Als ob ein Kribbeln durch den ganzen Körper läuft?«

»Ja, auf jeden Fall. Es fühlt sich an, als ob ein schwacher elektrischer Strom vom Kopf bis zu den Zehen läuft und sich dann in der Magengegend einnistet«, erwiderte Drake. »Und dabei wird das Licht kurz dunkler … das Sonnenlicht.«

»Es wird anscheinend immer schlimmer«, sagte Helen. »Wir müssen das gewesen sein. Wir haben etwas in der Vergangenheit verändert … wir haben die Regeln verletzt.« Sie schaute die anderen der Reihe nach an. »… und jetzt bezahlen wir den Preis dafür.«

Kapitel 11

Toronto, Kanada – Geschäftsviertel Bay Street

Chess Monroe schaute kurz über seine Schulter hinweg in Richtung von Mohammed Ibn Aziz, der gerade die Hauptstraße herunterkam. Er wurde von drei riesigen Kerlen begleitet, deren dunkle Anzüge ihre Muskelberge kaum im Zaum halten konnten. Einer lief vor ihm, die beiden anderen klebten praktisch an seinen Schultern.

Aziz war der Chefbuchhalter des Maghadam-Clans gewesen, einer Verbrecherfamilie, vor der er jetzt vom CSIS beschützt wurde, dem kanadischen Geheimdienst. Gerüchten zufolge war er geschnappt worden und hatte – mit einer langen Haftstrafe konfrontiert – die Seiten gewechselt. Im Tausch gegen Straffreiheit und eine neue Identität wollte er alles offenlegen, was er über die Familie wusste. Jetzt musste er nur noch bis zu seinem Gerichtstermin überleben.

Niemand sollte wissen, wo er sich momentan aufhielt, und dieser letzte Ausflug in die Öffentlichkeit diente nur dazu, Dokumente aus einem Schließfach zu holen, die die Köpfe der Familie hinter Gittern bringen würden. Der Staatsanwalt würde den Rest machen müssen.

Das Problem, wenn man sich mit dem organisierten Verbrechen anlegte, waren die enormen Ressourcen, die sie zur Verfügung hatten. Geld, Grundstücke, Unternehmen und Kontakte bis in die höchsten Sphären der Politik, und natürlich auch ein Netzwerk aus Helfern, die bis in die untersten Schichten, zu den Straßenkindern reichten. Daher gab es für jeden Spitzel wie Aziz einen Gegenspitzel, der seine eigene Mutter für ein bisschen Geld verraten würde.

Deshalb wussten die Maghadams bereits, dass Aziz geschnappt worden war, sie wussten, dass er sich gerade auf seine Aussage vorbereitete, und sie wussten auch von seinem Besuch bei der Bank. Wahrscheinlich waren sie schon wenige Minuten, nachdem der Plan überhaupt beschlossen worden war, darüber unterrichtet worden.

Die Bay Street in Toronto war um zwei Uhr nachmittags voller Leute. Die Kaffeeläden quollen praktisch über mit Geschäftsleuten, die ihre Meetings abhielten und über die Kollegen lästerten, während gestresste Einkäufer von einem Laden zum nächsten hetzten.

An einem der Tische draußen in der Sonne saßen zwei Männer und eine blonde Frau, die lachten und an ihren Kaffeetassen nippten. Die Frau lehnte sich gerade nach vorn, um ein Stück Kuchen mit ihrer Gabel zu zerteilen. Falls ein gut ausgebildeter Sicherheitsbeamter die Frau genauer unter die Lupe genommen hätte, wäre ihm sofort aufgefallen, dass sie trotz ihrer teuren Kleidung das Besteck wie ein Bauarbeiter hielt, und dass ihre Handknöchel geschwollen und voller Striemen waren.

Chess war einer der Männer, die mit ihr am Tisch saßen. Sie waren beide ebenfalls gut gekleidet, in Sportjacketts aus Baumwolle – das eine blau, das andere braun. Ihre Hemden waren frisch gebügelt und gestärkt, doch ihre Gesichter verrieten, dass sie ihr Geld eher mit Gewalttaten als mit Finanzgeschäften verdienten.

Zwei Blocks weiter, die Straße hinunter, parkte nun ein Lieferwagen langsam ein. Am Steuer saß eine dunkelhaarige Frau, die ein Headset im Ohr hatte und wartete. Im hinteren Bereich des Fahrzeugs befand sich ein Mann an der Schiebetür.

Als die Gruppe von Aziz näherkam, zählte einer der Männer im Café ihre Schritte mit und ließ dann die Kaffeetasse, die er vor seinen Mund hielt, ein Stückchen sinken.

»Jetzt.«

Der Mann mit dem blauen Jackett stand auf und ging auf die Gruppe um Aziz zu. Die beiden anderen Kaffeetrinker blieben ruhig sitzen, lachten und unterhielten sich scheinbar miteinander. Hinter ihren dunklen Brillen waren ihre Augen jedoch starr auf die Männer gerichtet, die sich ihnen näherten.

Ein Stück die Straße hinunter verlangsamte der Mann im blauen Jackett jetzt seine Schritte, als er den Anführer der Bodyguards fast erreicht hatte. Ganz leise sagte er: »Showtime.«

Aus seinem Ärmel rutschte nun ein fünfundzwanzig Zentimeter langer Stachel aus Stahl, der in einem rutschfesten Griff endete. Der Mann blieb stehen, wirbelte herum und warf sich dann nach vorne. Bevor sein Gegenüber überhaupt reagieren konnte, hatte er ihm das spitze Metallstück auch schon in den Hals gerammt.

Aziz klappte der Unterkiefer herunter, und verschreckt hob er die Hände vor sein Gesicht, wie ein kleines Kätzchen. Die beiden Wachen hinter ihm griffen nach ihren versteckten Pistolen, doch in diesem Moment standen auch schon der Mann und die Frau aus dem Café neben ihnen und schossen ihnen mit schallgedämpften Waffen in die Köpfe, was vom Geräusch her an hustende Kinder erinnerte.

Die drei Toten wurden jetzt vorsichtig an eine Backsteinmauer gelehnt, und als der Lieferwagen mit quietschenden Reifen neben ihnen hielt, wurde die Schiebetür aufgerissen. Aziz wurde gepackt und wie ein kleines Kind durch die offene Tür gehievt.

»Du hast eine Verabredung«, sagte Chess.

Der kleine Buchhalter wurde auf einen Sitz geschoben und das Trio folgte ihm. Auf der Straße hatte kaum jemand bemerkt, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war.

Hinten in dem Lieferwagen sammelten sich nun Tränen in Aziz Augen. »Werdet ihr mich töten?«

Chess schüttelte den Kopf. »Nein … wir liefern dich nur den Maghadams aus. Die werden dich dann töten.«