Buch lesen: «Lehrbuch der Psychotraumatologie», Seite 9

Schriftart:

Piaget hat gezeigt, dass die Organisation der Orientierungsschemata im Laufe der menschlichen Entwicklung eine strukturelle Stufenfolge durchläuft. Grundlage bleibt die sensomotorische Stufe der Intelligenzentwicklung, also die im Situationskreis modellierte Koordination von rezeptorischer und effektorischer Sphäre. In der Entwicklungsphase der sensomotorischen Intelligenz (0-18 Monate) besteht die wesentliche Leistung darin, Handlung und Wahrnehmung immer genauer zu koordinieren. Mit etwa 1 1/2 Jahren, im Übergang zum symbolisch vorbegrifflichen Denken (bis 4. Lebensjahr) ereignet sich, was Piaget die kopernikanische Revolution der Intelligenzentwicklung nennt: Symbol und Vorstellungsbild verselbständigen sich bis zu einem gewissen Grade gegenüber den bis dahin eingespielten Kreisläufen der Wahrnehmungs- und Handlungskoordination. Hier tritt – mit anderen Worten – das Kind in die Welt spezifisch menschlicher Bedeutungsverarbeitung ein. Allem Anschein nach ist dieser Zugang zur menschlichen Symbolwelt, die Ablösung aus dem „symbiotischen Funktionskreis“ (von Uexküll und Wesiack 1988, 341) mit emotionalen Krisen verbunden. Das Kind löst sich aus der Unmittelbarkeit der sinnlichen Erscheinungen und gewinnt einen ersten Zugang zur Sphäre der Symbole. Es handelt sich um den gleichen Entwicklungszeitraum, den Margaret Mahler (Mahler et al. 1975) als Separations-Individuationsphase beschreibt.

Gegen Ende des ersten Lebensjahres bildet sich die „Gegenstandspermanenz“, die Fähigkeit des Kindes, eine Vorstellung auch von verdeckten oder verschwundenen Gegenständen innerlich festzuhalten und obgleich sie unsichtbar sind, weiter nach ihnen zu suchen. Von der Gegenstandspermanenz zu unterscheiden ist die sog. „Objektkonstanz“ oder „Beziehungskonstanz“ (Fischer 1987, 300), die Fähigkeit, eine konstante innere Repräsentanz des Liebesobjekts auch in Abwesenheit oder emotionalen Belastungssituationen aufrechtzuerhalten.

Die „Beziehungsschemata“ (s. u.) des Kindes haben hier ein neues Niveau der Selbstregulation und Autonomie erreicht, das für die weitere psychische Entwicklung von großer Bedeutung ist. Die Ablösung des Denkens, der kognitiven Schemata von der sinnlichen Unmittelbarkeit durchläuft noch folgende unterscheidbare Stufen: Das anschauungsgebundene Denken von 4-7 Jahren; die konkreten Denkoperationen von 7–12 und die formalen Operationen ab 12 Jahren. Erst im Stadium der formalen Operationen können, wie schon in Abschnitt 1.2 ausgeführt, psychische Abläufe kognitiv repräsentiert werden und damit auch Traumata als „seelische Verletzungen“. Im Bereich des logischen Denkens können Kinder „Hypothesen über Hypothesen“, also Hypothesen zweiter Stufe bilden und sich in ihren Denkoperationen auf „geistige Inhalte“, auf Hypothesen erster Stufe beziehen. Damit werden jene reflexiven und selbstreflexiven Fähigkeiten des Menschen voll ausgebildet, die wir im Modell des Funktions- bzw. Situationskreises als „Merken des Merkens“ und als „Merken des Wirkens“ bezeichnen können. Unser Wahrnehmen wahrzunehmen oder unsere Denkprozesse zu beobachten, setzt Fähigkeiten voraus, die in diesem Stadium erworben werden. Basseches (1980) konnte nachweisen, dass auf das Stadium der formalen Operationen noch eine weitere Stufe der kognitiven Entwicklung folgt, die wir als Stadium der dialektischen Operationen bezeichnen. → Dialektisches Denken ist in besonderem Maße ein integratives Denken, das Widersprüche analysiert und sie „aufhebt“ durch Bildung übergeordneter Konzepte. Ansätze der dialektischen Operationen und zu einer Kompetenz in dialektischem Denken finden sich natürlich schon in früheren Stadien der kognitiven und emotionalen Entwicklung, vor allem an den Übergängen zwischen den Entwicklungsstufen. Das Bestreben, widersprüchliche, dissoziierte Schemata zu integrieren, ist der Motor für die Entwicklung eines in sich kohärenten Selbstsystems, das wir mit Bezug auf die integrierende Instanz als → Ich-Selbstsystem bezeichnen wollen. Dialektisches, integrierendes Denken, Aufarbeiten widersprüchlicher oder in sich gespaltener Schemata ist die Voraussetzung dafür, dass die Person situationsübergreifende „Metaschemata“ ausbilden kann, welche die situationsspezifischen Schemata koordinieren, um die Kontinuität des Handelns in der Lebensgeschichte zu gewährleisten. Durch traumatische Erfahrungen kann besonders diese interne Koordination der Schemata über verschiedene Entwicklungsstufen hinweg beeinträchtigt werden. Traumatische Situationserfahrungen sind in den verfügbaren Schemavorrat nur schwer oder manchmal auch nicht integrierbar. So können schon erreichte Koordinationsstufen, wie die Beziehungskonstanz, regressiv wieder verlassen werden, so dass sich einzelne, in sich gespaltene Teilschemata und Erlebniszustände verselbständigen. Zudem erschwert die traumatische Umwelterfahrung jene Koordination, Überarbeitung und reflexive Umkehr des schematischen Wissensbestands, die für den Übergang zu höheren Stufen der kognitiv-emotionalen Entwicklung notwendig ist.

Schematisiertes, intelligentes Wissen, das der Mensch im Laufe seiner Lebensgeschichte erwirbt, ist hinsichtlich sozialer und gegenstandsbezogener Komponenten zu unterscheiden. Diese Unterscheidung wird oft nicht mit der wünschenswerten Klarheit vorgenommen. Jene Strukturen, die sozial-emotionale Wissensbestände regeln, bezeichnen wir als Beziehungsschemata. Kognitive Schemata, die in erster Linie sachbezogene Wissensbestände koordinieren, hingegen als Gegenstandsschemata. Manchmal wird hier auch die Unterscheidung zwischen kognitiven versus sozialkognitiven Schemata vorgeschlagen, die jedoch in mancher Hinsicht problematisch ist. Beziehungsschemata sind nicht nur kognitiver Art, sie sind vielmehr besonders eng mit Emotionen, Affekten, Triebwünschen und Stimmungslagen verbunden. Sie entsprechen weitgehend dem, was in der Psychoanalyse als Beziehung zwischen Selbst- und Objektrepräsentanzen bezeichnet wird (Fischer 1996, 67 passim). Im Einzelnen umfassen sie Bilder oder Konzepte vom Selbst, dem Anderen oder Beziehungspartner, sowie eine Regel für deren gegenseitiges Beziehungsverhalten in umschriebenen Interaktionssituationen. Beziehungsschemata können situationsspezifisch oder stärker generalisiert sein. In den stärker verallgemeinerten Beziehungsschemata, die wiederum sehr viele situationsspezifische koordinieren, bezeichnen wir das koordinierende Regelsystem als Script (vgl. Abschnitt 2.1; ferner Horowitz 1991; Singer und Salovey 1991; Stinzen und Palmer 1991). „Traumatische Erfahrungen“, die in den Gesamtbestand der Beziehungsschemata und ihre Koordinationsregeln nicht aufgenommen werden können, führen zu aufgespaltenen, dissoziierten Schemata und in sich widersprüchlichen „Koordinationsregeln“ oder Scripts.

Zur Bezeichnung für die regulativen Strukturen unseres Wissensbestandes, die sich auf den sachlich-gegenständlichen Umweltbereich beziehen, schlagen wir den Terminus Sachschemata oder Gegenstandsschemata vor. Der wesentliche interne Unterschied zwischen Sach- und Beziehungsschema ist das Kriterium der sozialen „Wechselseitigkeit“ (Fischer 1981). Beziehungsschemata bauen auf der sozialkognitiven Struktur einer Perspektivenhierarchie auf, auf der Annahme, dass der andere mich und mein Weltverhältnis ebenso antizipieren kann wie ich das seine, was im Umgang mit Sachobjekten natürlich nicht der Fall ist. Die meisten alltäglichen Interaktionssituationen erfordern allerdings den koordinierten Einsatz von Sach- und Beziehungsschemata, das Zusammenspiel von „interpersoneller und gegenständlicher Orientierung in der sozialen Interaktion“ (Fischer 1981). Auch viele entwicklungspsychologische Stadien und Stufenübergänge lassen sich aus der Koordination von gegenständlichen und interpersonellen Schemata begreifen (Fischer, 1981, 1986a). Nach Uexküll und Wesiack differenzieren Sachschemata sich erst allmählich aus dem „symbiotischen Funktionskreis“, den primären sensomotorischen und affektiven Beziehungsschemata heraus (1988). Unsere sachbezogenen Schemata werden nach diesen Autoren vom → pragmatischen Realitätsprinzip reguliert, dem Prinzip des erfolgskontrollierten Handelns, die Beziehungsschemata dagegen vom → kommunikativen Realitätsprinzip, worin der Andere als Kommunikations- und Dialogpartner anerkannt und behandelt wird. In mancher Hinsicht eine Verbindung von beiden stellt das → psychische Realitätsprinzip dar, dessen Kriterium darin besteht, zwischen den Erfordernissen pragmatischer und kommunikativer Realität einerseits, den Bedürfnissen des Individuums und seiner „Selbstgegenwart“ andererseits erfolgreich zu vermitteln – eine Funktion, die im psychoanalytischen Strukturmodell dem „Ich“ zugeschrieben wird.

Die Unterscheidung von Sach- und Beziehungsschemata ist psychotraumatologisch u. a. von Bedeutung, wenn wir die Auswirkung jeweils von Naturkatastrophen („natural disasters“) und Katastrophen mit menschlicher Verursachung („man-made-disasters“ oder disasters „of human origin“) miteinander vergleichen wollen. Im einen Fall wird unser pragmatisches, im anderen unser → kommunikatives Realitätsprinzip mehr oder weniger nachhaltig erschüttert oder infrage gestellt.

Problemlösen, Stress und Coping. Wenn wir mit Situationen konfrontiert sind, die einerseits biologisch, psychisch und/oder sozial bedeutsam sind, andererseits aber keine einfache Lösung zulassen, geraten wir in einen Zustand, den wir mit Selye als „Stress“ bezeichnen können. Selye (1936) unterscheidet negativen „Dis-stress“ oder „strain“ und positiven Stress oder „Eu-stress“. Letzterer ist ein psychophysischer Aktivationszustand des Individuums, der produktive Problemlösungen erleichtern, ja fördern kann. Bei Dis-Stress hingegen findet die Suche nach Problemlösungen, das → Coping-Verhalten unter überstarken, für die Lösung oft ungünstigen physiologischen Aktivationsbedingungen statt. Mit verschiedenen Formen von Coping beschäftigt sich inzwischen eine entwickelte Forschungsrichtung, die u. a. gezeigt hat, dass jedes Individuum über einen begrenzten Satz von Strategien und Schemata verfügt, mit Stresssituationen erfolgreich umgehen zu können (vgl. Abschnitt 2.1 und 2.2.2 zur Phänomenologie und Psychobiologie der traumatischen Situation).

Biologisch bedeutsame Stresssituationen versetzen den Organismus in der Regel in einen Aktivationszustand, in dem Kampf- und Fluchttendenzen einander abwechseln oder auch simultan einander widerstreiten (fight-flight reaction. nach Cannon in von Uexküll 1988). Kampf-/Fluchttendenzen und Coping Verhalten zielen darauf ab, die äußere Problemsituation zu bewältigen. Man kann diese Mechanismen, die im Situationskreis sowohl die rezeptorische wie die effektorische Sphäre maximal aktivieren und belasten können, als Anpassungsmechanismen bezeichnen. Mit ihnen passt sich der Organismus so weit den problematischen Umweltverhältnissen an, wie es die Situation erfordert. Dauert die bedrohliche Situation länger an, so arbeitet das psychophysische System in einem permanenten Alarmzustand, was seine Kapazität auf Dauer überfordert und erschöpft. So kann es bei dauerhaftem Dis-Stress zu einem psychophysischen Erschöpfungszustand kommen, den Cannon als das „General Adaptation Syndrome“ beschrieben hat mit zahlreichen psychophysischen Störungen wie Verlust der Immunkompetenz, Störung der Wundheilung, Erschöpfung der Energievorräte und Auftreten von organischen Beeinträchtigungen, wie z. B. Magengeschwüren.

Durch dauerhafte Coping- und Anpassungsbemühungen gerät der Organismus in einen Zustand, der wiederum seine Existenz gefährdet und das Ziel der Anpassungsbemühungen hintertreibt. Daher setzt das psychophysische System seiner Veränderung durch Anpassungsbemühungen normalerweise systemerhaltende → Abwehrmechanismen entgegen. Hier werden bestimmte störende Bedingungen der Umwelt oder auch der „Innenwelt“: der enteroceptiven und proprioceptiven Körperempfindungen aus der rezeptorischen Sphäre ausgeblendet. Der biologische Sinn von Abwehrvorgängen besteht darin, der Informationsüberflutung des Systems und übersteigertem Anpassungsdruck entgegenzusteuern. Führt aber weder Coping noch Abwehr zu einer Kontrolle der biologisch und/oder psychosozial bedrohlichen Problemsituation, so gerät das psychophysische Individuum aus dem Bereich der Stressbelastung in eine potenziell traumatische Erfahrungssituation hinein. Die regulativen Schemata versagen. In einer extrem bedeutsamen Situation kommt es so zu einer systematischen Diskrepanz zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten.

Definition der traumatischen Erfahrung. Von diesen Überlegungen aus können wir psychisches Trauma jetzt näher definieren, und zwar als ein

vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.

In der traumatischen Situation sind einige Regeln der normalen Erlebnisverarbeitung gewöhnlich außer Kraft gesetzt. Es kommt zu Veränderungen der rezeptorischen Sphäre (Veränderungen des Zeit-, Raum- und Selbsterlebens). Mit Bezug auf die effektorische Sphäre können wir Trauma als unterbrochene Handlung in einer vital bedeutsamen Problemsituation definieren. Aktuell tritt entweder eine (katatonoide) Lähmung und Erstarrung ein oder es kommt zu einem panikartigen Bewegungssturm. Langfristig setzt sich die aus der experimentellen Psychologie bekannte Tendenz zur Wiederaufnahme unterbrochener Handlungen durch. Dieses als „Zeigarnik-Effekt“ bekannte Phänomen tritt bei einer vital bedeutsamen unterbrochenen Handlung natürlich verstärkt in Erscheinung und kann zur Erklärung der verschiedenen Wiederholungstendenzen (Wiederholungszwang, → Traumatophilie, Traumasucht) herangezogen werden. Werden Traumabetroffene postexpositorisch über ihr Erleben befragt, so schildern sie vor allem Symptome des völligen Absorbiert- und Gefangenseins in der Situation, von Depersonalisierung (z. B. neben sich stehen) und Derealisierung (es ist nicht Wirklichkeit, Phantasie, nur ein Traum) sowie amnestische Erfahrungen des Vergessens entscheidender Vorkommnisse. Die Schemata unserer Wahrnehmungsverarbeitung werden durch traumatische Erlebnisse anscheinend strukturell verändert bzw. außer Kraft gesetzt. Bernstein und Putnam (1986) haben einen Fragebogen entwickelt, das „Peritraumatic Dissociative Experience Questionnaire“ (PDEQ), der wichtige dissoziative Erfahrungen erfasst. Der Fragebogen wurde u. a. Soldaten nach Kampfeinsätzen vorgelegt. Hohe Werte im PDEQ erwiesen sich in Untersuchungen als ein relativ zuverlässiger prognostischer Indikator für die spätere Ausbildung eines PTBS. Auch im Kölner Opferhilfe Modell zeigte sich diese Tendenz (Fischer et al. 1998). Um einen Eindruck zu vermitteln, führen wir im Folgenden einige Statements aus dem Fragebogen in Kurzform an.

„Ich wußte nicht mehr, was vor sich ging und war an den Ereignissen nicht mehr beteiligt; ich handelte automatisch und bemerkte erst später, daß ich Dinge tat, zu denen ich mich gar nicht bewußt entschlossen hatte; alles schien wie im Zeitlupentempo zu passieren; es schien mir unwirklich, als ob ich träume, oder einen Film bzw. ein Theaterstück sehe; ich fühlte mich wie ein Zuschauer, als ob ich das Geschehen wie ein Außenstehender betrachten und darüber schweben würde; ich fühlte mich abgetrennt von meinem Körper oder so, als ob mein Körper außergewöhnlich groß oder klein wäre; ich fühlte mich von Dingen, die anderen geschahen, unmittelbar selbst betroffen; später fand ich heraus, daß vieles passiert war, was ich nicht mitbekommen hatte, vor allem Dinge, die ich normalerweise bemerken würde; es gab Augenblicke, in denen mir nicht klar war, was um mich herum vor sich ging, ich war verwirrt; ich war desorientiert; es gab Momente, in denen ich mir unsicher war, wo ich war und welche Zeit es gerade war“.

Eine oft berichtete peritraumatische Erlebnisveränderung ist die so genannte „Tunnelsicht“. Das Blickfeld ist seitlich extrem eingeengt, so dass das Geschehen sich wie in einem Tunnel abspielt. Vom Situationskreismodell her könnte man eine spezifische Beeinflussung der rezeptorischen durch die motorische Sphäre vermuten. Der Betroffene kann zwar nicht fliehen, nimmt aber die Umgebung wie aus wachsender Entfernung wahr. Die Fluchtbewegung in der Wahrnehmung manifestiert sich auch in einigen anderen Phänomenen, wie über den Dingen schweben, aus dem eigenen Körper heraustreten, ein außenstehender Beobachter sein oder träumen, statt die Wirklichkeit zu erleben. Bedenkt man die gegenseitige Durchdringung von effektorischer und rezeptorischer Sphäre, von Motorik und Sensorik, die das Kreismodell impliziert, so kann der psychobiologische Sinn des peritraumatischen Erlebens darin gesehen werden, wenigstens eine Wahrnehmungsdistanzierung zu erreichen, wo die reale Flucht nicht möglich ist und/oder aktives Kampfverhalten sich als wirkungslos erweist. Die amnestischen Phänomene kann man zum Teil als Abwehr verstehen, die der Selbsterhaltung des psychobiologischen Systems dienen soll.

Depersonalisationserlebnisse, die wir auch als „Selbstverdopplung“ des Subjekts betrachten können, stellen ebenfalls einen solchen → Selbstschutzmechanismus dar. Das personale Erlebniszentrum trennt sich vom empirischen Selbst und schaut der bedrohlichen Szene von außen, oft schwebenderweise von oben zu. Folteropfer z. B., die über solche dissoziativen Fähigkeiten verfügen, sind gegenüber der unerträglichen traumatischen Situation möglicherweise besser geschützt als andere, denen diese Fähigkeit nicht zur Verfügung steht.

Bislang ist nicht eindeutig geklärt, ob dissoziative Fähigkeiten angeboren sind oder frühkindlich erworben werden. Die erwähnte positive Korrelation zwischen hohen Werten im PDEQ und späterem PTBS muss nicht dahin interpretiert werden, dass Personen mit hohen dissoziativen Fähigkeiten einem stärkeren PTBS-Risiko ausgesetzt sind. Es kann auch ein gemeinsamer Situationsfaktor zugrunde liegen, der sowohl peritraumatische → Dissoziation fördert wie auch das Folgesyndrom. Für die Verwandlung von Erinnerungen an die traumatische Situation in schematisiertes Wissen allerdings stellen dissoziative Tendenzen vermutlich ein besonderes Problem dar. Hier kann es leicht zur Bildung dissoziierter, fragmentierter Schemata kommen, die ein abgespaltenes Dasein im Gedächtnis führen und sich den Koordinationsregeln entziehen, die sonst den verfügbaren Wissensbestand der Persönlichkeit leiten.

Abbildung 4 zeigt das peritraumatische Erleben im Modell des Situationskreises. Bei den traumatisch bedingten Veränderungen der effektorischen Sphäre sind Leerlaufhandeln und Pseudohandeln zu erwähnen, Handlungstendenzen, die zwar nicht mehr effektiv eine Problemlösung herbeiführen können, dennoch aber für die psychische Befindlichkeit des Individuums von großer Bedeutung sind. Wir kommen auf diesen Punkt zurück. Ein zweiter Handlungszyklus setzt sich nun gewissermaßen durch den Realitätsfaktor hindurch in der Phantasie fort, im Diagramm durch die gestrichelte Fortführung des Kreissegmentes angedeutet. Hier haben wir jene Veränderungen des Selbst- und Realitätserlebens angeführt, die in der Selbstverdopplung des Subjekts (dargestellt in S2) zu einer phantasierten Existenz als außenstehender Beobachter führen. Depersonalisierung und Derealisierung betreffen das Merken des Merkens und das Merken des Wirkens. Auf dieser metakognitiven Ebene des Situationskreises greifen Depersonalisierung und Derealisierung an, indem sie die sensorische Reafferenz zur effektorischen bzw. rezeptorischen Sphäre unterbrechen. Reafferente sensorische Bahnen informieren das Gehirn über den Zustand der effektorischen Sphäre. Wird in der Derealisierung die motorische Reafferenz unterbrochen und das pragmatische Realitätsprinzip außer Kraft gesetzt, so unterbricht in der Depersonalisierungstendenz das Merken des Merkens und mündet ein in eine Selbstverdopplung des Subjekts im Sinne eines Selbstrettungsversuches.

Im Außenbereich des Diagramms sind rechts die traumatogenen Umgebungsfaktoren eingetragen, die sich ungehindert in das innere Zentrum des Situationskreises fortsetzen können und die Integrität des Selbst bedrohen. Hier ist der Ort der objektiven Situationsfaktoren, während auf der linken Seite der Subjektpol, die Innenperspektive des traumatisch verzerrten Situationskreises angegeben ist.


Erklärung zu Abb. 4: Das Schaubild stellt die wichtigsten Abwandlungen des Situationskreismodells dar, wie sie durch die psychotraumatische Erfahrung hervorgerufen werden. Das Diagramm ist vom inneren Zirkel her nach außen hin zu lesen. Zwischen U1 und S1 (für Subjekt 1 und Umgebungsfaktor 1) spielt sich der erste Zyklus ab. Die bedrohlichen Umgebungsfaktoren kommen auf das Subjekt zu in einer Weise, die dessen Deutungsschemata und Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt. Im Inneren des Zirkels ist das Versagen der Bedeutungserteilung angedeutet. Die erste effektorische Handlungsbereitschaft dürfte das Kampfverhalten sein als Versuch, sich zur Wehr zu setzen und die bedrohliche Umweltkonstellation fernzuhalten. Das „Versagen“ der effektorischen Sphäre haben wir im Diagramm dadurch angedeutet, dass der Pfeil am Umgebungsfaktor gewissermaßen ins Leere zielt. So kann ungehindert der traumatogene Umgebungseinfluss mit U2 fortgesetzt werden. Hier wirkt sich nun die Fähigkeit zum Probehandeln in der Phantasie dahin aus, dass es zu den beschriebenen Veränderungen der Wahrnehmung kommt, wie z. B. zur Tunnelsicht, die wir hypothetisch als Ausdruck der Fluchttendenz in der Wahrnehmung verstanden hatten. Ein zweiter effektorischer „Durchgang“ durch den Situationskreis nach der gescheiterten Kampftendenz dürfte zunächst Flucht, dann ev. Erstarrung sein. Die Handlungstendenz scheitert an der Realität und wird auf sich zurückgeworfen, was wir über den in sich rückläufigen Handlungspfeil symbolisieren.

Abbildung 4: Traumatische Erfahrung im Modell des Situationskreises

Ausgangspunkt ist unsere Definition des Traumas als eines vitalen Diskrepanzerlebnisses zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten. Nach den vergeblichen Aktivierungszyklen im Situationskreislauf stellt sich als erstes Resultat die Erfahrung von Wirkungslosigkeit ein und das Gefühl, den bedrohlichen Umständen hilflos ausgeliefert zu sein. Wird die punktuelle traumatische Situationserfahrung nun weiter ausgearbeitet, in schematisiertes soziales Wissen oder entsprechende Sachschemata eingearbeitet, so kann es zu einer Haltung von generalisierter → Hilflosigkeit kommen, die wir auch als erlernte Hilflosigkeit bezeichnen können unter Bedingungen, die in Abschnitt 3.1.2. näher beschrieben werden. Auch die Erschütterung unseres Selbst- und Weltverständnisses, welche die traumatische Erfahrung bewirkt, kann mehr oder weniger stark verallgemeinert sein. Wird die traumatische Erfahrung als „repräsentativ“ für das kommunikative oder pragmatische Realitätsprinzip interpretiert (vgl. 2.2), so verwandelt sich die Stimmung der Hilflosigkeit in die einer generellen Hoffnungslosigkeit und Depression.

Das Situationskreismodell kann uns dem psychobiologischen Sinn, der „Teleologie“ der peritraumatischen Erfahrung näherbringen und eröffnet der Forschung so fruchtbare Wege. Dabei sind in der effektorischen Sphäre die angedeuteten Leerlaufhandlungen von besonderem Interesse. Wenn der Situationskreis unser psychophysisches Weltverhältnis korrekt beschreibt, dann können wir davon ausgehen, dass das Grundprinzip „Problemlösung durch Koordination von Sensorik und Motorik“ auch unter extremen psychotraumatischen Belastungen erhalten bleibt. Phantasmatisches Abwehrverhalten, Pseudohandeln oder Leerlaufhandlungen lassen sich unter diesen Bedingungen als biologisch sinnvoll verstehen. Tiere, die unter extrem beengten Verhältnissen gehalten werden, entwickeln stereotype Verhaltensabläufe, die an Leerlaufhandlungen oder an Rituale erinnern.

Kognitive Schemata sind über die motorische Komponente mit bestimmten organspezifischen Funktionskreisen gekoppelt. Gespaltene, in sich widersprüchliche Schemata gehen mit einer dysfunktionalen Aktivierung der zugeordneten biologischen Funktionskreise einher. So ließe sich hypothetisch etwa die gleichzeitige und gleichstarke Aktivierung von Kampf- und Fluchttendenzen als gegenseitige Blockierung verstehen, die wiederum zur katatonoiden Bewegungsstarre führt, wie sie Max Stern (1988) neben dem blinden Bewegungssturm als eine der beiden basalen Traumareaktionen beschreibt.

Das Situationskreismodell, das wiederum eine Vielzahl biologischer, teilweise organspezifischer Funktionskreise berücksichtigt, bietet einen Überblick über das komplexe psychosoziale und biologische Geschehen im peritraumatischen Erleben, also in der Expositionsphase der psychischen Traumatisierung. Hier ist das Individuum den traumatischen Situationsfaktoren unmittelbar exponiert. Neben ihrer Selbstschutz- und Selbstrettungsfunktion lassen sich die peritraumatischen Erlebnisphänomene auch als Beginn einer möglicherweise dauerhaften Schädigung der psychischen Selbstregulierung verstehen. Wie in der somatischen Krankheitslehre stellt sich auch hier die Frage nach den pathogenetischen Mechanismen.

2.2.1 Pathogenese des psychischen Traumas

Als „pathogenetisch“ verstehen wir solche Mechanismen und Rückkopplungskreise, die ein Störungsbild verfestigen bzw. aufrechterhalten. Diese Vorgänge sind zu unterscheiden von der Ätiologie als der Lehre von den Krankheitsursachen (von gr. aitia = Ursache oder auch „Schuld“). Während die Ätiologien in der Psychotraumatologie, zumindest was die äußeren Bedingungen des Traumas angeht, ungewöhnlich klar sind, bedarf die pathogenetische Frage eingehender Untersuchungen und begrifflicher Klärung. Aussichtsreich erscheint hier ein Mehr-Ebenen-Zugang nach dem Modell der „Hierarchie von Systemebenen“ (Abb. 2). Trauma kann vorwiegend oder auch ausschließlich auf der physiko-chemischen, der biologischen oder der psychosozialen Ebene verstanden werden. Ist vorzugsweise eine einzelne Ebene angesprochen, so sind die „Aufwärts- und Abwärtseffekte“ zu berücksichtigen. Unsere oben vorgeschlagene Definition spricht verschiedene pathogenetische Momente an, die sich unterschiedlichen Ebenen zuordnen lassen. Das Moment der Hilflosigkeit ist eine phänomenale Beschreibung des Taumaerlebens auf der psychologischen Ebene. In Seligmans Theorie der „erlernten Hilflosigkeit“ wurde dieses Konzept ausgearbeitet, allerdings nur mit Bezug auf Depression als eine der häufigsten Folgeerscheinungen. Das Stichwort „Trauma“ taucht seltsamerweise bei Seligman noch nicht einmal im Sachregister auf. Allerdings erwähnt Seligman verschiedene „Abwärtseffekte“ erlernter Hilflosigkeit wie den plötzlichen Tod im Zustand vollkommener Hilflosigkeit, der bei einigen KZ-Opfern zu beobachten war (Kap. 6). Wir gehen im Abschnitt 3.1.2 auf diese vor allem im Tierexperiment gewonnenen Befunde näher ein.

Das pathogenetische Moment der schutzlosen Preisgabe an bedrohliche Umweltfaktoren entspricht einem extremen Kontrollverlust in der traumatischen Situation. Seine Folgen und auch die Prinzipien, nach denen Traumaopfer ihr Kontrollbewusstsein wiedererlangen können, lassen sich nach der Kontrolltheorie von Rotter (1966) und anderen Autoren näher untersuchen.

Trauma als ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten zu beschreiben, ist ein relationaler Definitonsversuch, der zuvor auch als „ökologisch-dialektisch“ gekennzeichnet wurde. Diese Relation impliziert einen quantitativen und einen qualitativen Gesichtspunkt. Je stärker die traumatischen Situationsfaktoren, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Individuum über hinreichend Ressourcen verfügt, um die Erfahrung bewältigen zu können. Bei Extremtraumatisierung durch Folter oder andere Situationen fortwährender Lebensbedrohung dürfte so gut wie kein Mensch der psychischen Traumatisierung entgehen. Das qualitative Moment der Subjekt-Umwelt-Relation versuchen wir durch ein Konzept wie das → ZTST näher zu erfassen. Das kritische pathogenetische Moment besteht hier weniger in der objektiven Intensität der traumatischen Faktoren als in deren qualitativer Eigenheit, die sich entweder an ein schon bestehendes → Traumaschema anschließt oder zentrale Momente eines Lebensentwurfes oder auch erworbene traumakompensatorische Strategien jäh in Frage stellt. Ein vital bedeutsames Diskrepanzerlebnis liegt vor, wenn Bedeutungen oder „Bedeutungszuschreibungen“ von direkter oder mittelbarer biologischer Relevanz betroffen sind. Das ist bei lebensbedrohlichen Erlebnissen der Fall. Dazu gehört aber sicher auch ein Orientierungsbedürfnis, das wir wegen seiner basalen Bedeutung für das Überleben ebenfalls zu den biologisch verankerten „Trieben“ rechnen dürfen. Kaus (1995) schlägt eine entsprechende Erweiterung des psychoanalytischen Triebkonzeptes vor. Ein → Orientierungstrauma tritt ein, wenn dieses vitale Triebbedürfnis auf systematische und subjektiv ausweglose Diskrepanzen trifft, wie beispielsweise in → Double-bind-Situationen. Auch das → Beziehungstrauma beruht auf Paradoxien und Diskrepanzen im menschlichen Bindungssystem, welches ebenfalls erbgenetisch-biologisch verankert ist. Die menschliche Sexualität schließlich entwickelt sich in einem komplexen Spannungsfeld biologischer und sozialer Faktoren, was sie für traumatische Einflüsse besonders empfindlich macht.

Ein übergreifendes pathogenetisches Moment des Traumas aus der Sicht dieser Traumadefinition ist die dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses. Mit dieser absichtlich weit gefassten Formulierung wollen wir zum einen den Verlust von Selbstvertrauen ansprechen, den viele Traumaopfer beklagen, zum anderen den Vertrauensverlust in die soziale oder pragmatische Realität, der sich als Traumafolge einstellt. Die Erschütterung kann mehr oder weniger umfassend sein. In radikalen Erfahrungen dehnt sie sich aus auf das Realitätsprinzip als solches, das Korrelat der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.