Buch lesen: «Lehrbuch der Psychotraumatologie», Seite 5

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Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung nach DSM-5. Die Diagnostik der Posttraumatischen Belastungsstörung im DSM-5 unterscheidet zwischen einem ätiologischen Kriterium (A), vier Symptomgruppe (B–E), einem zeitlichen Kriterium (F), einem Kriterium subjektiver Belastung (G) und einem Kriterium zum Ausschluss der Symptome als Folge anderer Erkrankungen oder von Substanzmissbrauch (H). Darüber hinaus können dissoziatives Erleben und ein verspäteter Symptombeginn spezifiziert werden (siehe Tabelle 2).

Kriterium (A): Ein traumatisches Ereignis – bspw. die Bedrohung mit dem Tod oder schwerer Verletzung und sexuelle Gewalt – muss direkt selbst erlebt oder direkt bezeugt werden. Von einem derartigen Erlebnis zu erfahren, wenn es Familienmitgliedern oder Freunden widerfuhr, kann ebenfalls auslösendes Momentum sein. Neu ist, dass nur ein objektives ätiologisches Kriterium der Traumaexposition gefordert wird. Bislang war für eine Diagnose nach DSM zusätzlich eine intensive emotionale Reaktion in Form von Angst, Hilflosigkeit und Entsetzten notwendig. Dieses subjektive ätiologische Kriterium war bereits Bestandteil des Kriterienkataloges des DSM-III und wurde im DSM-IV gar zur notwendigen Voraussetzung einer Diagnose. Allerdings zeigte sich, dass emotionale Reaktionen wie Ärger und Scham den gleichen prädiktiven Wert eines späteren Auftretens einer PTBS aufweisen (Breslau u. Kessler 2001). Post-hoc-Studien belegen, dass bei gleichbleibender Symptombelastung und Schwere der Erkrankung rund 20 Prozent der Betroffenen das subjektive Kriterium der intensiven emotionalen Reaktion nicht zeigen (O‘Donnell, Creamer, McFarlane, Silove, & Bryant 2010). Das trifft insbesondere auf ausgebildete Fachkräfte wie Rettungsassistenten und Soldaten zu (Friedman et al. 2014, 45), sodass die Notwendigkeit der subjektiven Belastung für eine Diagnose zu einer strukturellen Benachteiligung dieser Gruppen führte.

Die Kriterien der Symptomgruppen wurden auf vier erweitert, nachdem man in faktorenanalytischen Untersuchungen fand, dass neben der im DSM-IV-TR beschriebenen Trias aus traumabezogenem intrusivem Wiedererinnern, Vermeidung und emotionaler Betäubung auch negative Veränderungen von Kognition und Stimmung wesentlich zur Syndromkonstruktion beitragen (Yufik u. Simms 2010). So umfassen die Symptomgruppen nun Intrusionen (B) als wiederkehrende und belastende Erinnerungen, Träume, Flashbacks oder Stressreaktionen auf internale oder externale Reize als Symbole oder Hinweise auf das im Kriterium (A) beschriebene Erleben. Das bisherige Kriterium der Vermeidung und Betäubung (Numbing) wurde unterteilt in eine passive Vermeidung (C) und Dysphorie (D), wobei letzteres um die häufig anzutreffende Selbstzuweisung von Schuld sowie die Gefühle der Unzulänglichkeit, Schwäche und negativen Zukunftsaussicht ergänzt wurde. Somit wurde hier die bereits erwähnte Erweiterung des emotionalen Erlebens um Zustände der Schuld, Scham und Ärger berücksichtigt. Im Symptomkomplex des Hyperarousal (E) steht im DSM-5 die Verhaltenskomponente im Vordergrund und auf eine Bestimmung emotionaler Zuständen wurde verzichtet. Dies trägt auch den Erkenntnissen Rechnung, dass aggressives Verhalten ein bona fide Symptom der Posttraumatischen Belastungsstörung ist (Elbogen et al. 2010). Der Komplex umfasst nun Schlaflosigkeit, Konzentrationsprobleme, Hypervigilanz und Schreckhaftigkeit sowie leichtsinniges und selbstverletzendes Verhalten. Alle Symptome müssen mindestens vier Wochen vorliegen (F), um eine spontane Selbstheilung zunächst zu ermöglichen.

Wie bei anderen Symptomklassen des DSM-5 wurde für die Posttraumatische Belastungsstörung das Kriterium der subjektiven Belastung und Beeinträchtigung aufgenommen, so dass eine Posttraumatische Belastungsstörung nur diagnostiziert werden sollte, wenn auch eine subjektive Belastung des Patienten vorliegt (G). Des Weiteren dürfen die Symptome nicht auf den Gebrauch von Substanzen oder andere somatische Ursachen zurückgeführt werden können (H). Im ICD-10 (Internationale Klassifikation psychischer Störungen, Kapitel V, Forschungskriterien) der Weltgesundheitsorganisation findet sich unter F43.1 eine analoge Klassifikation.

In der Verlaufsbetrachtung der traumatischen Reaktion, erst recht aber im traumatischen Prozess können die Phasen von Verleugnung und Intrusion zeitlich alternieren. Manche Patienten sind vorübergehend sogar symptomfrei und entwickeln Symptome erst bei einer situativen Neuauflage der traumatischen Erfahrung.

In deutscher Übersetzung schlagen wir für die im PTSD anvisierte Symptomkonstellation die Bezeichnung → basales psychotraumatisches Belastungssyndrom (bPTBS) vor. Diese Übersetzung ist der englischen Abkürzung relativ ähnlich, in der Terminologie aber aus verschiedenen Gründen nicht völlig identisch. Wir halten zunächst die Vorsilbe posttraumatisch für zweifelhaft, da sie eine Gleichsetzung von Trauma und traumatischem Ereignis suggeriert, während Trauma nach unserem Verständnis und auch im üblichen Sprachgebrauch eher einen prozessualen Verlauf nahelegt. Das „Trauma“ ist nicht vorbei, wenn die traumatische Situation oder das traumatische Ereignis vorüber ist. Weiterhin halten wir die Wortverbindung von Trauma und Stress für problematisch. In deutschen KZ-Gutachterverfahren der Nachkriegszeit wurde der Stressbegriff beispielsweise dazu verwendet, ein Trauma auszuschließen. Einige Gutachter gestanden zwar zu, dass der Aufenthalt in einem Konzentrationslager für die Betroffenen „Stress“ bedeutet habe. Jetzt noch anhaltende Symptome seien auf konstitutionelle biologische Faktoren zurückzuführen. Tatsächlich sah die klassische Stresstheorie keine irreversiblen Symptome und Langzeitschäden vor. Auch besteht Grund zur Annahme, dass sich die Physiologie der → Stressreaktion von der der → traumatischen Reaktion qualitativ unterscheidet. Der Ausdruck „psycho-traumatisch“ erscheint uns dagegen klarer als die Wortkombination von Trauma und Stress und speziell in Deutschland historisch weniger belastet. Unter Stressreaktion verstehen wir demgegenüber die Antwort des Organismus auf eine kritische Belastungssituation und kritische Ereignisse, wobei es in der Regel nicht zu der für die Traumareaktion charakteristischen qualitativen Veränderung von psychischen und/oder organischen Systemen kommt.

Die vorgeschlagene Wortwahl schließt Übergänge zwischen Trauma und Stress nicht aus, ohne jedoch beide Termini in einem Ausdruck zusammenzufügen. Zudem hat unser terminologischer Vorschlag den Vorteil, das im „PTSD“ (nach DSM und ICD) benannte Symptombild in ein breites Spektrum psychotraumatischer Syndrome einzufügen und führt damit fort von der Vorstellung, es gäbe auf der phänomenalen Ebene ein einziges Syndrom, die PTSD.

Die Bezeichnung basal im Terminus basales PTBS ist nicht im Sinne eines umfassenden Katalogs aller psychotraumatischen Symptome zu verstehen, sondern im Sinne von basalen oder Grunddimensionen der traumatischen Reaktion, die auch dann wirksam sind, wenn phänomenal noch andere Merkmale in Erscheinung treten. Bei der Untersuchung der traumatischen Reaktion in Abschnitt 2.3 werden wir zeigen, dass der Wechsel von Verleugnung und möglichst dosiertem Wiederzulassen der traumatischen Erinnerungsbilder ein Grundmuster in der Psychophysiologie der Traumaverarbeitung darstellt. Everly (1995) schlägt ein zwei Faktoren-Modell der Traumafolgen vor, das sich aus dem Zusammenwirken einer im wesentlichen physiologisch gesteuerten Erregungsdimension und der psychischen Dimension des Diskrepanzerlebnisses ergibt, welches mit der traumatischen Erfahrung verbunden ist (Everly u. Lating 1995, 27-48). Erregungsdimension und psychologisches Trauma können nach Everly grundsätzlich unabhängig voneinander variieren. Extreme Erregungszustände des ZNS, die in Abhängigkeit von extremen Stressoren auftreten und im Übrigen einer Bahnung im limbischen System unterliegen können, führen wiederum zu körperlichen Störungen wie Koronarerkrankung oder Magenulcera, die bei geringerem zentralnervösem Aktivationsniveau nicht zu erwarten sind. Grundsätzlich kann dem „2-Faktoren-Modell“ zufolge extreme psychische Belastung auch mit vergleichsweise geringem Aktivierungsniveau einhergehen, eine Konstellation, die physiologisch gesehen dann weniger gravierende Folgen erwarten lässt. Wenn wir nun den zweiphasigen Prozess von Intrusion vs. Verleugnung/Vermeidung als basales Merkmal der psychischen Traumaverarbeitung verstehen, repräsentieren die drei Dimensionen des bPTBS – intrusive Erinnerungsbilder, Verleugnung/Vermeidung und das physiologische Erregungsniveau in der Tat die basalen Dimensionen von Traumaverarbeitung und Symptomproduktion. Das bPTBS umfasst demnach drei grundlegende Dimensionen, die bei jeder Traumatisierung angesprochen sind.

Abhängig von der Natur der jeweiligen traumatischen Situation und der Disposition des Individuums können die drei Dimensionen des bPTBS recht unterschiedlich ausgeprägt sein. Daraus ergeben sich phänomenal wiederum unterschiedliche Symptombilder. Bei extremer Ausprägung der Verleugnungs-/Vermeidungsdimension sind die sog. „frozen states“ (nach Mardi Horowitz 1976) beobachtbar, apathisch-depressive Erstarrungszustände mit emotionaler Anästhesie und einem katatonieähnlichen Verhaltensbild, ev. auch psychosomatischen Begleiterkrankungen. Die Extremform der Intrusionskomponente führt dagegen zu einem agitierten Erregungszustand und hilfloser Überflutung durch traumatische Reize bzw. Erinnerungen. Extremvarianten der physiologischen Erregungskomponente gehen mit einem langanhaltenden Erregungszustand einher, der ebenfalls eine Reihe körperlicher Erkrankungen nach sich ziehen kann.

Als Beispiele solcher „Erregungskrankheiten“ führt Everly (1995, 44) auf: Bluthochdruck, Kammerflimmern im Zusammenhang mit psychischen Belastungen, kardiale nichtischämische Muskeldegeneration, koronare Herzerkrankungen, Migräne, Raynaudsche Krankheit, Spannungskopfschmerz, funktionelle Störungen des muskulären Apparates, Magengeschwüre und Colon irritabile (chronische nicht primär organische Durchfallerkrankung).

Diese Erkrankungen können sich im Gefolge extremer und langanhaltender Aktivationsperioden des autonomen Nervensystems einstellen. Viele von ihnen wurden beispielsweise als Komponenten des KZ-Syndroms bei ehemaligen KZ-Häftlingen festgestellt, jedoch erst nach langer Auseinandersetzung mit den deutschen Gutachtern auch rechtlich als Haftschaden anerkannt. Sie zählen nicht zum Algorithmus des bPTBS (im Sinne der PTSD), auch nicht die katatonieähnlichen „frozen states“ oder die extremen Erregungszustände.

Versteht man das Syndrom jedoch verlaufstheoretisch als Momentaufnahme von Prozessen traumatischer Erlebnisverarbeitung, so werden auch diese Symptome als Extremvariante der drei Komponenten (Erinnerung, Verleugnung und Erregung) erkennbar, die an der Traumareaktion generell beteiligt sind. Im Sinne eines dynamisierten Verständnisses der bPTBS halten wir es für nützlich, auch die zuvor aufgeführte Extremausprägung der einzelnen Dimensionen und ihre Folgeerscheinungen in den Syndromalgorithmus einzubeziehen auf Kosten der Forderung, dass für die Diagnose alle drei Dimensionen mit Symptomen besetzt sein müssen, wie es das jetzige PTSD vorsieht.

Verzögertes PTBS. Das basale psychotraumatische Belastungssyndrom kann auch nach Monaten, manchmal erst nach Jahren in Erscheinung treten. Auch diese Beobachtung spricht u. E. dafür, psychische Traumatisierung als einen Verlaufsprozess zu verstehen. Hier kann das Erlebnismoment der Nachträglichkeit beteiligt sein, wenn dem früheren Erlebnis erst im Nachhinein eine existenziell bedrohliche Bedeutung verliehen wird. Bedingt durch eine Wiederholung von Komponenten der traumatischen Situation, durch Lebenskrisen oder „Passagen“ im Lebenszyklus (wie Adoleszenz, Elternschaft, Altern) kann ein bis dahin latentes → Traumaschema stimuliert werden und zur Symptomproduktion beitragen.

Victimisierungssyndrom. Frank Ochberg, ein Traumaforscher aus Michigan, der sich vor allem mit Therapie für Opfer von Gewaltverbrechen befasst, hat für die traumatische Auswirkung von Gewalterfahrungen eine Symptomliste vorgeschlagen (1988), die er später zu einem Syndrom zusammenfasste mit einem eigenen Kalkül für die Diagnose analog zum bPTBS (1993). Das Syndrom besteht aus drei Kriterien (A, B, C) und 10 Symptomen (siehe Tabelle 3).

Tabelle 3: Victimisierungssyndrom nach Ochberg (1993, 782, Übers. G. F. und P. R.)

A. Die Erfahrung einer oder mehrerer Episoden von physischer Gewalt oder psychischem Missbrauch oder Nötigung zu sexueller Aktivität, dies entweder als Opfer oder als Zeuge.

B. Die Entwicklung von mindestens x (Anzahl muss noch festgelegt werden) der folgenden Symptome (nicht vorhanden vor der Victimisierungserfahrung):

1)Ein Gefühl, den täglichen Aufgaben und Verpflichtungen nicht mehr gewachsen zu sein, welches über das Erlebnis von Ohnmacht in der speziellen traumatischen Situation hinausgeht (z. B. allgemeine Passivität, mangelnde Selbstbehauptung, oder fehlendes Vertrauen in die eigene Urteilsfähigkeit).

2)Die Überzeugung, dass man durch die Victimisierungserfahrung dauerhaft beschädigt ist (z. B. wenn ein missbrauchtes Kind oder ein Opfer von Vergewaltigung der Überzeugung ist, dass es für andere nie mehr attraktiv sein kann).

3)Gefühle von Isolation, Unfähigkeit, anderen zu vertrauen oder mit ihnen Intimität herzustellen.

4)Übermäßige Unterdrückung oder exzessiver Ausdruck von Ärger.

5)Unangemessene Bagatellisierung von zugefügten (psychischen oder physischen) Verletzungen.

6)Amnesie des traumatischen Erlebnisses.

7)Die Überzeugung des Opfers, an dem Vorfall eher die Schuld zu tragen als der Täter.

8)Eine Neigung, sich der traumatischen Erfahrung erneut auszusetzen.

9)Übernahme des verzerrten Weltbildes des Täters in der Einschätzung von sozial angemessenem Verhalten (z. B. die Annahme, dass es in Ordnung ist, wenn Eltern sexuelle Beziehungen zu ihren Kindern unterhalten oder dass es in Ordnung ist, wenn ein Ehemann seine Frau schlägt, damit sie gehorcht).

10)Idealisierung des Täters.

C. Dauer des Syndroms von mindestens einem Monat.

Ochberg bringt mit diesem Vorschlag u. E. einige der symptomatischen Besonderheiten zum Ausdruck, die durch eine traumatische Erschütterung des → kommunikativen Realitätsprinzips entstehen. Insofern erscheint es uns angebracht, das Victimisierungssyndrom (VS) zu den Syndromen der allgemeinen Psychotraumatologie zu rechnen mit spezieller Relevanz für soziale Gewalterfahrungen. Es überschneidet sich in einigen Punkten mit dem basalen psychotraumatischen Belastungssyndrom, benennt aber zusätzlich Aspekte einer Erschütterung und Verzerrung von Prämissen unserer sozialen Welterfahrung, die im bPTBS noch nicht erfasst sind. Für die → Diagnostik der Folgen von Gewalterfahrung sollte das Victimisierungssyndrom (VS) ergänzend zum bPTBS berücksichtigt werden.

Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom. In mancher Hinsicht eine Verbindung zwischen bPTBS und VS stellt das → komplexe psychotraumatische Belastungssyndrom nach Judith Herman und Bessel van der Kolk dar („complex PTSD“, im Folgenden abgekürzt als kPTBS). Die Folgen vor allem von schwerster, langanhaltender und wiederholter Traumatisierung wie etwa nach Folter, Lagerhaft und fortgesetzter Misshandlung sucht das kPTBS zu beschreiben. DESNOS ( = Diagnosis of Extreme Stress Not Otherwise Specified) hat als Arbeitsgruppe wesentliche Kriterien erarbeitet, die als Grundlage der erweiterten Trauma-Kriterien im DSM-5 angenommen werden können, auch wenn es hier nach wie vor keine eigene Definition für das komplexe PTBS gibt. Auch die Arbeitsgruppe um das Manual der Weltgesundheitsorganisation, die ICD, bereitet derzeit eine diagnostische Kategorie zum „Persönlichkeitswandel nach katastrophischen Erfahrungen“ vor. Der Vorschlag von Herman u. van der Kolk umfasst 7 Kriterien bzw. Symptomgruppen (Tabelle 4). Diese ausführlicheren Formulierungen finden sich in der aktuell (Stand: Mai 2018) in der Finalisierung begriffenen ICD-11 wieder (Tabelle 5).

Tabelle 4: Komplexes psychotraumatisches Belastungssyndrom (Herman 1992, 121, Übers. G. F. u. P.R.)

1.Unterworfensein unter totalitäre Kontrolle über einen längeren Zeitraum (Monate bis Jahre) mit Beispielen wie Geiselhaft, Kriegsgefangenschaft, Überleben von Konzentrationslagern und einiger religiöser Kulte. Weitere Beispiele sind die Opfer totalitärer Systeme im sexuellen und familiären Bereich, wie Überlebende von familiärer Gewalt, Kindesmisshandlung, sexuellem Kindesmissbrauch und organisierter sexueller Ausbeutung.

2.Veränderungen der Affektregulierung mit anhaltenden dysphorischen Verstimmungen, chronischer Beschäftigung mit Suizidideen, Neigung zu Selbstverletzungen, explosiver oder extrem unterdrückter Wut (ev. im Wechsel), zwanghafter oder extrem gehemmter Sexualität (ev. im Wechsel).

3.Veränderungen des Bewusstseins, wie Amnesie oder Hypermnesie für traumatische Ereignisse, dissoziative Episoden, Depersonalisation/Derealisation, Wiedererleben der traumatischen Erfahrungen entweder in Form intrusiver Symptome oder in Form von ständigem Grübeln.

4.Veränderungen des Selbstbildes mit Gefühlen von Hilflosigkeit und Initiativverlust; Scham, Schuldgefühlen und Selbstanklage; eigener Wertlosigkeit oder Stigmatisierung; Gefühl, völlig verschieden von anderen zu sein (etwas Besonderes beispielsweise, Erleben äußerster Einsamkeit, die Überzeugung, von niemandem verstanden werden zu können oder nicht menschlich zu sein).

5.Veränderungen in der Wahrnehmung des Täters, wie ständige Beschäftigung mit ihm (z. B. auch in Form von Rachegedanken); eine unrealistische Sichtweise des Täters als übermächtig (Vorsicht! Das Opfer kann die Macht des Täters unter Umständen realistischer einschätzen als der Therapeut); Idealisierung des Täters oder paradoxe Dankbarkeit ihm gegenüber; das Gefühl einer besonderen oder übernatürlichen Beziehung zum Täter; Übernahme von Weltanschauung oder Rechtfertigungen des Täters.

6.Veränderung der sozialen Beziehungen mit Isolation und Rückzug, Abbruch von intimen Beziehungen, fortgesetzte Suche nach einem Retter (kann wechseln mit Isolation und Rückzug), ständigem Misstrauen, wiederholtem Versagen beim Schutz der eigenen Person.

7.Veränderung von Stimmungslagen und Einstellungen wie Verlust von Zuversicht, Gefühle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.

Tabelle 5: Vorläufige ICD-11 Kriterien für die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (Übers. A. G. F.)

Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (komplexe PTBS) ist ein Störungsbild, das sich nach dem Erleben eines einzelnen Ereignisses oder einer wiederholten Serie von Ereign issen, die extreme, dauerhafte oder repetitive Charakteristika zeigen und als besonders bedrohlich und erschreckend erlebt werden und vor denen eine Flucht schwierig oder unmöglich ist (z. B. Folter, Versklavung, Genozid, dauerhafte häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder physischer Kindesmissbrauch) entwickeln kann. Das Störungsbild ist charakterisiert durch die Kernsymptome der Posttraumatischen Belastungsstörung; dies bedeutet alle diagnostischen Voraussetzungen der Posttraumatischen Belastungsstörung lagen zu mindestens einem Zeitpunkt im Verlauf der Erkrankung vor. Zusätzlich ist die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung durch folgende Merkmale bestimmt:

1)schwerwiegende und weitreichende Störung der Affektregulation;

2)andauernde Selbstüberzeugungen, minderwertig, unterlegen oder wertlos zu sein, die mit tiefen und weitreichenden Gefühlen von Scham, Schuld und Versagen gegenüber dem traumatischen Ereignis / dem Täter einhergehen;

3)dauerhafte Schwierigkeiten im Aufrechterhalten von Beziehungen und Nähegefühlen zu anderen.

Die Störung verursacht erhebliche Einschränkungen auf persönlicher, familiärer, sozialer oder beruflicher Ebene oder in anderen wichtigen Lebensbereichen.

Mit dem komplexen PTBS kommt die Psychotraumatologie dem Ziel näher, Klassifikationssysteme für ein weites Spektrum von Folgeerscheinungen zu entwickeln, das von Stressreaktionen über die Folgen einmaliger traumatischer Ereignisse (Typ-I-Trauma) bis hin zu langdauernder Extremtraumatisierung reicht. Brett (1991) hat in diesem Sinne dafür plädiert, von einem „Traumaspektrum“ auszugehen, in dem die psychotraumatologischen Folgeerscheinungen anzusiedeln sind.

Dissoziative Identitätsstörung. Die Dissoziativen Störungen folgen im DSM-5 den Trauma- und Stressbezogenen Störungen, wobei das DSM-5 nun die zahlreichen Belege berücksichtigt, denen zufolge die Dissoziativen Störungen zum Traumaspektrum gerechnet werden müssen (wie bereits in früheren Auflagen dieses Lehrbuches hier beschrieben). Insbesondere die Kriterien der Dissoziativen Identitätsstörung (als Extremvariante einer „multiplen Persönlichkeitsorganisation“) wurden angepasst, um aufzuzeigen, dass die Symptome der Identitätsstörung durch den Patienten selbst mitgeteilt, aber auch nur beobachtbar sein können. Vorhandene Erinnerungslücken müssen sich nicht länger auf traumarelevante Inhalte beziehen und können auch alltägliche Ereignisse umfassen. Zu den mindestens zwei unterschiedlichen Identitäten oder Persönlichkeitszuständen wird ergänzt, dass diese in manchen Kulturen als pathogene Besessenheit beschrieben werden. Das DSM-5 führt die in Tabelle 6 genannten Kriterien an.

Tabelle 6: Dissoziative Identitätsstörung nach DSM-5

A. Das Vorhandensein von zwei oder mehreren unterscheidbaren Identitäten oder Persönlichkeitszuständen, die in manchem kulturellen Kontext als spirituelle Besessenheit beschrieben werden können. Die Unterbrechung der Identität beinhaltet eine deutliche Diskontinuität der Selbstwahrnehmung, begleitet von ähnlichen Veränderungen in Affekterleben, Verhalten, Bewusstsein, Gedächtnis, Wahrnehmung, Denken, und / oder sensomotorischen Funktionen. Diese Merkmale und Symptome können entweder von anderen beobachtet oder selbst wahrgenommen werden.

B. Wiederkehrende Lücken im Erinnern alltäglicher Ereignisse, wichtiger persönlicher Informationen und / oder traumatischer Ereignisse, die über gewöhnliche Vergesslichkeit hinausgehen.

C. Das Störungsbild verursacht klinisch bedeutsames Leiden oder eine Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen bedeutsamen Funktionsbereichen.

D. Das Störungsbild ist kein normaler Bestandteil weithin akzeptierter kultureller oder religiöser Praktiken. Zu beachten: Bei Kindern sind diese Symptome nicht zurückführbar auf Spielgefährten in der Phantasie oder anderes Phantasiespiel.

E. Die Störung ist keine physiologische Auswirkung einer chemischen Substanz (z. B. Blackouts oder chaotisches Verhalten während Alkoholintoxikation) oder ein allgemeiner Krankheitszustand (z. B. fokale epileptische Anfälle).

Zu beachten: Die dissoziative Identitätsstörung geht auf zwei Dispositionen zurück, einerseits eine Neigung zu dissoziativen Reaktionen wie Geistesabwesenheit, starke Vergesslichkeit usf. Der zweite ätiologische Faktor sind extreme traumatische Erfahrungen in der Kindheit durch physische Misshandlung und / oder andere Formen extremer Traumatisierung.

Akute Belastungsstörung (acute stress disorder). Dieses Symptombild wurde erstmals in der 4. Auflage des Diagnostisch Statistischen Manuals (DSM) aufgenommen. Das DSM-5 umfasst die in Tabelle 7 genannten Kriterien.

Tabelle 7: Akute Belastungsstörung nach DSM-5

A. Kriterium erlebter traumatischer Situation wie bei Posttraumatischer Belastungsstörung.

B. Das Vorhandensein von neun (oder mehr) Symptomen aus den folgenden fünf Kategorien: Wiedererleben, negative Stimmung, Dissoziation, Vermeidung und Arousal. Die Symptome beginnen oder verschlechtern sich nach dem traumatischen Ereignis:

Wiedererleben

1)Wiederkehrende, unwillkürlich sich aufdrängende belastende Erinnerungen (Intrusionen) an das oder die traumatischen Ereignisse. Beachte: Bei Kindern können traumabezogene Themen oder Aspekte des oder der traumatischen Ereignisse wiederholt im Spielverhalten zum Ausdruck kommen.

2)Wiederkehrende belastende Träume, deren Inhalte und / oder Affekte sich auf das oder die traumatischen Ereignisse beziehen. Beachte: Bei Kindern können stark beängstigende Träume ohne wiedererkennbaren Inhalt auftreten.

3)Dissoziative Reaktionen (z. B. Flashbacks), bei denen die Person fühlt oder handelt, als ob das oder die traumatischen Ereignisse sich wieder ereignen. (Diese Reaktionen können in einem Kontinuum auftreten, bei dem der völlige Wahrnehmungsverlust der Umgebung die extremste Ausdrucksform darstellt.) Beachte: Bei Kindern können Aspekte des Traumas im Spiel nachgestellt werden.

4)Intensive oder anhaltende psychische Belastung bei der Konfrontation mit inneren oder äußeren Hinweisreizen, die einen Aspekt des oder der traumatischen Ereignisse symbolisieren oder an Aspekte desselben / derselben erinnern.

Negative Affektivität

5)Anhaltende Unfähigkeit, positive Gefühle zu empfinden (z. B. Glück, Zufriedenheit, Gefühle der Zuneigung).

Dissoziative Symptome

6)Veränderte Wahrnehmung der Umwelt oder der eigenen Person als Realität (z. B. die Person sieht sich aus der Perspektive eines anderen, fühlt sich wie betäubt, nimmt alles in Zeitlupe wahr).

7)Unfähigkeit, sich an einen wichtigen Aspekt des oder der traumatischen Ereignisse zu erinnern (typischerweise durch Dissoziative Amnesie und nicht durch andere Faktoren wie Kopfverletzungen, Alkohol oder Drogen bedingt).

Vermeidung

8)Bemühungen, belastende Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle, die sich auf das oder die Ereignisse beziehen oder eng mit diesem / diesen verbunden sind, zu vermeiden.

9)Bemühungen, Dinge in der Umwelt (Personen, Orte, Gespräche, Aktivitäten, Gegenstände, Situationen) zu vermeiden, die belastende Erinnerungen, Gedanken oder Gefühle hervorrufen, die sich auf das oder die Ereignisse beziehen oder eng mit diesem bzw. diesen verbunden sind.

Erhöhtes Arousal

10)Schlafstörungen (z. B. Ein- und Durchschlafstörungen, unruhiger Schlaf).

11)Reizbarkeit und Wutausbrüche (ohne oder mit geringfügigem Anlass), welche typischerweise durch verbale oder körperliche Aggression gegenüber Personen oder Gegenständen ausgedrückt werden.

12)Hypervigilanz (übermäßige Wachsamkeit).

13)Konzentrationsschwierigkeiten.

14)Übertriebene Schreckreaktionen.

C. Die Dauer des Störungsbildes (der Symptome in Kriterium B) beträgt 3 Tage bis 1 Monat nach dem traumatischen Ereignis. Beachte: Die Symptome beginnen meist direkt nach dem Trauma, müssen aber mindestens 3 Tage und höchstens 1 Monat andauern, um das Kriterium zu erfüllen.

D / E wie G / H bei Posttraumatischer Belastungsstörung.

Die akute Belastungsstörung füllt im DSM eine Lücke, welche die frühere Definition der PTSD, der basalen psychotraumatischen Belastungsstörung hinterlassen hatte. Bei der akuten Belastungsstörung handelt es sich um eine vorübergehende massive Stressreaktion, die jedoch nicht in das basale psychotraumatische Belastungssyndrom übergehen muss.

Anpassungsstörung (adjustment disorder). Hier liegt eine chronifizierte Belastungsreaktion vor als Antwort auf persönliche Verluste und/oder eine geforderte Umstellung der Lebensweise. Die in Tabelle 8 ausgeführten Kriterien werden im DSM-5 genannt.

Tabelle 8: Anpassungsstörung nach DSM-5

A. Die Entwicklung von emotionalen oder behavioralen Symptomen als Reaktion auf einen identifizierbaren Belastungsfaktor, die innerhalb von 3 Monaten nach Beginn der Belastung auftreten.

B. Die Symptome oder Verhaltensweisen sind von klinischer Bedeutung, wie aus den folgenden beiden Merkmalen ersichtlich:

1)Deutliches Leiden, welches unverhältnismäßig zum Schweregrad und zur Intensität des Belastungsfaktors ist, nach Berücksichtigung des externen Umfelds und kultureller Faktoren, die den Schweregrad und das Beschwerdebild der Symptome beeinflussen können.

2)Bedeutsame Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

C. Das belastungsabhängige Störungsbild erfüllt nicht die Kriterien für eine andere psychische Störung und stellt nicht nur eine Verschlechterung einer vorbestehenden psychischen Störung dar.

D. Die Symptome sind nicht Ausdruck einer gewöhnlichen Trauerreaktion.

E. Wenn die äußere Belastung oder deren Folgen beendet sind, bestehen die Symptome nicht länger fort als weitere sechs Monate.

Bestimme ob: Akut: Wenn das Störungsbild weniger als 6 Monate anhält.

Andauernd (Chronisch): Wenn das Störungsbild 6 Monate oder länger anhält.

Es wird unterschieden zwischen akuter Anpassungsstörung und chronischer. Bei ersterer dauert die Störung weniger als sechs Monate, bei letzterer sechs Monate oder länger. Die Anpassungsstörung kann einhergehen entweder mit einer depressiven Stimmungslage oder einer ängstlichen, ferner mit einer Mischung aus Angst und Depression, mit Verhaltensstörungen oder einer Mischung von Verhaltens- und emotionalen Störungen. Tauerreaktionen, beispielsweise in Folge des Verlustes einer nahestehenden Person, bilden eine Ausnahme, wenn die Reaktion eine erwartbare Antwort darstellt, etwa auf den Tod einer geliebten Person. Geht die Reaktion über das erwartbare Maß an Trauer und Bedrückung hinaus, so kann eine Anpassungsstörung im Sinne einer pathologischen Trauerreaktion diagnostiziert werden.

Differentialdiagnostisch zum bPTBS ist der Zeitraum bedeutsam, in dem sich die Störung manifestiert. Während das bPTBS Monate oder auch Jahre nach dem belastenden Ereignis auftreten kann, tritt die Anpassungsstörung innerhalb von drei Monaten im Anschluss daran auf und dauert nicht länger als sechs Monate an, gerechnet ab dem Zeitpunkt der traumatischen Erfahrung. Nach diesem Kriterium können sich beide Störungsbilder zeitlich überschneiden. So kann es sein, dass eine gegenwärtige Anpassungsstörung in Wirklichkeit die Reaktion auf eine längere Zeit zurückliegende traumatische Erfahrung darstellt und so den Kriterien des bPTBS entspricht.