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Buch lesen: «Der Müller von Angibault», Seite 10

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»Liebe Rose«, entgegnete Marcelle, »Ihre zuletzt vorgebrachten Einwürfe scheinen mir von weit geringerer Bedeutung zu sein, als die früheren, und dennoch sehe ich, dass Sie weit unlieber der öffentlichen Meinung als dem Widerstand Ihrer Eltern trotzen wollen. Wir müssen, das Für und Wider genau erwägen, und da Sie mir Ihre Geschichte erzählt haben, so will ich Ihnen auch die meinige erzählen. Sie sollte zwar noch ein Geheimnis bleiben und ist das einzige Geheimnis meines Lebens, aber dieses ist so rein, dass es ein Mädchen ohne Gefahr hören darf. Überdies wird es binnen einiger Zeit für niemand mehr ein Geheimnis sein und bis dahin, dessen bin ich gewiss, werden Sie es treulich bewahren.«

»O, gnädige Frau«, rief Rose aus, sich an Marcellens Brust werfend, »wie gütig sind Sie! Man hat mir niemals Geheimnisse anvertraut, und doch war ich immer so begierig, eines zu erfahren, um zu zeigen, dass ich es wohl bewahren könne. Urteilen Sie also, ob das Ihrige bei mir nicht sicher sein werde! Gewiss wird es mich auch vieles lehren, was ich noch nicht weiß, denn es kommt mir vor, dass es, wie in allem, so auch in der Liebe eine Moral geben müsse, und doch wollte mir niemand davon sprechen, unter dem Vorwand, dass es damit nichts sei. Dennoch aber scheint es mir … aber reden Sie, reden Sie, teure gnädige Frau Marcelle! Ich bilde mir ein, so ich Ihr Vertrauen hätte, müsste ich auch ihre Freundschaft haben.«

»Warum nicht, wenn ich hoffen dürfte, dafür die Ihrige einzutauschen?« entgegnete Marcelle, die Liebkosungen des Mädchens erwidernd.

»O, mein Gott!« versetzte Rose, deren Augen sich mit Tränen füllten, »sehen Sie denn nicht, dass ich Sie liebe? Dass Ihnen mein Herz beim ersten Anblick entgegenschlug und dass es Ihnen diesen Tag über ganz zu Eigen geworden ist? Wie kam dies? Ich weiß es nicht. Aber ich habe nie jemand gesehen, der mir so sehr gefallen, wie Sie. Nur in Büchern habe ich solche Personen kennengelernt und in Ihnen stehen alle Heldinnen der Romane, welche ich gelesen, leibhaftig vor mir.«

»Liebes Kind, Ihr edles Herz fühlt eben das Bedürfnis, zu lieben, und ich will versuchen, der günstigen Gelegenheit zur Befriedigung dieses Bedürfnisses nicht unwert zu sein.«

Die kleine Fanchon war bereits in dem anstoßenden Kabinett eingerichtet und schnarchte laut genug, um das Gekrächze der Eulen und anderen Nachtgevögels zu übertönen, welche in den alten Türmen lebendig zu werden anfingen. Marcelle setzte sich an das offene Fenster, durch welches man die Sterne an dem prachtvollen Nachthimmel heiter blinken sah, und begann, Roses Hand in der ihrigen haltend, zu erzählen, wie folgt.

14. Kapitel.
Marcelle

»Meine Geschichte, liebe Rose, gleicht in der Tat einem Roman; aber es ist ein so einfacher und so wenig neuer, dass er allen Romanen ähnlich ist. Da haben Sie ihn in möglichster Kürze: Als mein Sohn zwei Jahre alt war, war er so übel auf, dass ich an seinem Davonkommen zweifelte. Meine Unruhe, meine Traurigkeit, die beständigen Sorgen, welche ich niemand überlassen wollte, gaben mir eine ganz natürliche Gelegenheit, mich aus der Gesellschaft zurückzuziehen, in welcher ich eine nur vorübergebende Erscheinung gewesen und der ich niemals hatte Geschmack abgewinnen können. Die Ärzte rieten mir, meinen Sohn aufs Land zu bringen. Mein Mann besaß, wie Sie wissen, ein hübsches Gut etwa fünf Meilen von hier, allein das lärmende und ausgelassene Leben, welches er mit seinen Kameraden, seinen Pferden, Hunden und Maitressen dort führte, konnte mich nicht veranlassen, mich dorthin zurückzuziehen, selbst nicht zu Zeiten, wo er in Paris lebte. Die Unordnung dieses Hauswesens, die Unverschämtheit der Dienstboten, von welchen man sich plündern ließ, weil man ihnen ihren Lohn nicht regelmäßig bezahlen konnte, sowie auch übelberufene Nachbarn, das alles wurde mir von meinem alten Lapierre, der eine Zeit lang dort gewesen, so abschreckend geschildert, dass ich darauf verzichtete, mich dort niederzulassen. Herr von Blanchemont, dem es nicht erwünscht gewesen wäre, wenn ich hieher gegangen, weil ich hier die Zerrüttung seiner Vermögensumstände hätte müssen kennen lernen, schilderte mir den hiesigen Ort als einen abscheulichen und das alte Schloss als unbewohnbar, in welch’ letzterer Beziehung er nicht sehr übertrieben hat. Er sprach davon, in der Umgebung von Paris ein Landhaus für mich anzukaufen, allein woher hätte er das Geld hiezu nehmen sollen, da er ja damals ohne mein Vorwissen schon beinahe völlig zugrunde gerichtet war? Einsehend, dass seine Versprechungen eitel und mein Sohn inzwischen hinsterbe, eilte ich zu Montmorency, einem in der Nähe von Paris wundervoll gelegenen Dorfe, welches die Nähe von Hügeln und Wäldern sehr gesund macht, die Hälfte des ersten besten und in diesem Augenblick auch des einzigen Hauses, welches zu haben war, zu mieten. Diese Wohnungen sind sehr gesucht bei den Parisern, weil selbst reiche Leute die schöne Jahreszeit hier in bescheidener Zurückgezogenheit zubringen wollen. Meine Verwandten und Bekannten besuchten mich anfangs ziemlich häufig, dann kamen sie seltener und immer seltener, wie es immer geht, wenn die Person, welche man besucht, weder durch Luxus, noch durch Koketterie anzieht. Gegen das Ende des Sommers vergingen oft vierzehn Tage, ohne dass ein Besuch aus Paris kam, und mit den Notabilitäten des Ortes selbst hatte ich keine Verbindung angeknüpft. Eduard befand sich wohl, ich war ruhig und zufrieden, las viel und machte lange Spaziergänge in den Wäldern, nur von Eduard, einer Bäuerin, welche den Esel führte, auf welchem der Kleine ritt, und von einem großen Hund begleitet, welcher uns eifersüchtig bewachte. Diese Lebensweise gefiel mir außerordentlich. Herr von Blanchemont seinerseits war entzückt, dass er sich gar nicht mehr mit mir zu beschäftigen brauchte, und besuchte mich nie. Er sandte bloß von Zeit zu Zeit einen Diener, um sich nach Eduards Befinden und nach meinen Geldbedürfnissen erkundigen zu lassen. Letztere waren glücklicherweise sehr bescheiden, denn sonst hätte er sie nicht befriedigen können.«

»Sehen Sie«, unterbrach hier Rose die Erzählerin, »hier sagte er, Ihr Aufwand verschlinge seine und Ihre Einkünfte. Sie brauchten Pferde und Wagen, und inzwischen gingen Sie vielleicht gerade zu Fuß durch die Wälder, um die Miete eines Esels zu ersparen.«

»Sie haben es erraten, liebe Rose. So oft ich von meinem Manne einiges Geld verlangte, erzählte er mir so lange und seltsame Geschichten von der Armut seiner Pächter, von der Strenge des Winters, von den Hagelwettern des Sommers, durch welche sie ruiniert worden wären, dass ich, nur um diese Geschichten nicht zu hören und auch wohl von dem Mitleid getäuscht, welches er für Euch erheuchelte, auf die Nutznießung meiner Einkünfte verzichtete. Das alte Haus, welches ich zu Montmorency bewohnte, war reinlich, aber beinahe ärmlich und erregte durchaus kein Aufsehen. Es enthielt zwei Stockwerke, deren ersteres ich innehatte. Im Rez-de-chaussée5 wohnten zwei junge Leute, von denen der eine krank war. Ein kleiner, sehr schattenreicher und von hohen Mauern umgebener Garten, wo Eduard, während ich am Fenster saß, unter meinen Augen mit seiner Bonne spielte, war den zwei Mietern, Herrn Heinrich Lemor und mir, gemeinschaftlich.

Heinrich war zweiundzwanzig Jahre alt, sein Bruder erst fünfzehn. Der arme Knabe war schwindsüchtig und sein älterer Bruder pflegte ihn mit bewunderungswürdiger Sorgfalt. Sie waren Waisen. Heinrich vertrat in Wahrheit Mutterstelle bei dem armen Auszehrenden. Er verließ ihn nie, las ihm vor, ging mit ihm spazieren, indem er ihn mit seinem Arme stützte, legte ihn zu Bette und hob ihn auf, wie ein Kind, und da der unglückliche Ernst nicht mehr Schlaf finden konnte, so sah Heinrich, bleich, abgemagert, von Nachtwachen erschöpft, zuletzt ebenfalls krank aus.

Die Eigentümerin des Hauses, welche ein Teil des Rez-de-chaussée bewohnte, und eine treffliche alte Frau war, erwies den unglücklichen jungen Leuten viele Gefälligkeiten und Dienstleistungen, allein ihre Kräfte reichten nicht aus und ich musste sie unterstützen. Ich tat dies mit Eifer und ohne mich zu schonen, wie Sie an meiner Stelle es ebenfalls getan hätten, Rose, und während Ernsts letzten Lebenstagen verließ ich sein Lager nicht mehr. Er bezeigte mir die rührendste Zuneigung und Dankbarkeit. Die Bedeutung seines Übels weder kennend, noch fühlend, starb er, ohne es innezuwerden und fast mitten in der Rede. Er sagte mir, dass ich ihn bald gesund sehen würde, als sein Atem plötzlich stockte und seine Hand in der meinigen erkaltete.

Heinrichs Schmerz war so tief, dass er nun seinerseits krank wurde und man bei ihm wachen und ihn pflegen musste. Die alte Hausbesitzerin, Frau Joly, war mit ihren Kräften zu Ende, Eduard befand sich glücklicherweise wohl und so konnte ich meine Sorgfalt zwischen ihm und Heinrich teilen. Die Pflicht, den armen Heinrich zu warten und zu trösten, fiel mir allein zu und bevor der Herbst zu Ende ging, hatte ich die Freude, ihm dem Leben wiedergegeben zu sehen.

Sie begreifen leicht, Rose, dass sich inmitten dieser Schmerzen und Gefahren eine innige, unwandelbare Freundschaft zwischen uns knüpfte, und als der Winter und der Wunsch meiner Schwiegereltern mich zur Rückkehr nach Paris nötigten, waren wir schon so gewohnt, miteinander zu lesen, zu plaudern und in dem kleinen Garten zu spazieren, dass die Trennung in der Tat eine herzzerreißende für uns wurde. Dennoch wagten wir es nicht, uns für das folgende Jahr ein Wiedersehen in Montmorency zu versprechen. Wir waren noch so schüchtern einander gegenüber, dass wir davor zurückgebebt wären, unserer Zuneigung den Namen der Liebe zu geben.

Heinrich hatte nie daran gedacht, nach meinen Verhältnissen zu forschen, und ich meinerseits hatte nicht nach den seinigen gefragt; wir machten ungefähr dieselben Ausgaben. Er bat mich um die Erlaubnis, mich in Paris besuchen zu dürfen. Als ich ihm die Adresse meiner Schwiegermutter, Hôtel von Blanchemont gab, schien er überrascht und erschreckt, und als ich Montmorency in der wappenbemalten Karosse verließ, welche meine Verwandten, um mich abzuholen, gesandt hatten, wurde seine Miene bestürzt. Sobald er sah, dass ich reich sei (ich glaubte es damals noch zu sein und galt dafür), betrachtete er uns als geschieden. Der Winter verging, ohne dass ich ihn wiedersah oder von ihm sprechen hörte.

Lemor war indessen damals in Wahrheit reicher als ich. Sein Vater, welcher ein Jahr zuvor gestorben, war ein Mann aus dem Volk, ein Arbeiter, gewesen, welchen ein kleiner Handel und große Gewandtheit reich gemacht hatten. Die Kinder dieses Mannes hatten eine sehr gute Erziehung erhalten und der Tod Ernsts setzte Heinrich in den Besitz eines jährlichen Einkommens von acht bis zehntausend Francs. Aber die habsüchtigen, unzarten, entsetzlich gefühllosen und durchaus egoistischen Vorstellungen seines krämerischen Vaters hatten die enthusiastische und großmütige Seele Heinrichs schon frühe empört und deshalb beeilte er sich, in dem Winter, welcher Ernsts Tod folgte, seine Handelsgüter beinahe um nichts einem Manne abzutreten, welchen Lemor, der Vater, durch die gewinnsüchtigen und unloyalen Manöver einer unbarmherzigen Konkurrenz zugrunde gerichtet hatte. Auch verteilte Heinrich den Ertrag dieses Verkaufs an alle die Arbeiter, welche sein Vater lange Zeit ausgesogen hatte, und entzog sich der Dankbarkeit dieser Leute mit einer Art von Widerwillen, denn sie waren, wie er mir oft sagte, durch das Beispiel ihres Meisters ebenfalls verderbt und schlecht geworden, indem er seine Wohnung änderte und sich darauf vorbereitete, selber Arbeiter zu werden, zu welchem Ende er schon im vorhergehenden Jahre, bevor die Krankheit seines Bruders ihn genötigt, auf dem Lande zu leben, angefangen hatte, die Mechanik zu erlernen.

Ich erfuhr diese Einzelnheiten alle von der alten Frau zu Montmorency, welche ich gegen das Ende des Winters zu einige Mal besuchte, ebenso sehr, ich gestehe es, in der Absicht, etwas von Heinrich zu erfahren, als in der, dieser Frau meine Freundschaft zu bezeugen, welcher sie durchaus würdig war. Frau Joly verehrte Lemor aus Herzensgrund, sie hatte den armen Ernst wie ihren eigenen Sohn gepflegt und sprach von Heinrich nie anders, als mit gefalteten Händen und Tränen in den Augen. Als ich sie fragte, warum er mich nicht besucht hätte, erwiderte sie, mein Reichtum und mein Rang in der Gesellschaft gestatteten keine Annäherung zwischen einer Frau, wie ich, und einem Manne, der freiwillig dem Reichtum entsagt hätte.

Bei dieser Gelegenheit erzählte sie mir alles, was sie von Heinrich wusste, und was ich Ihnen soeben mitgeteilt habe.

Sie werden begreifen, liebe Rose, wie mich das Betragen dieses jungen Mannes überraschen musste, der sich mir gegenüber so einfach, so bescheiden, seiner moralischen Größe so unbewusst benommen halte. Ich vermochte nicht, an etwas anderes zu denken; in Gesellschaft, wie in meinem einsamen Zimmer, im Theater, wie in der Kirche, schwebte sein Bild, die Erinnerung an ihn fortwährend meinem Herzen und meinem Geiste vor. Ich verglich ihn mit allen Männern meiner Umgebung und diese Vergleichung ließ mir ihn so groß erscheinen!

Gegen den Ausgang des März kehrte ich nach Montmorency zurück, ohne hoffen zu dürfen, dass ich meinen interessanten Nachbar wieder dort treffen würde. Ich empfand einen Augenblick heißen Schmerz darüber, als ich, mit einer Verwandten, die mich wider meinen Willen begleitet hatte, um mich mein Landleben wieder antreten zu sehen, in den Garten niedersteigend, bemerkte, dass das Rez-de-chaussée an eine alte Dame vermietet sei. Als sich aber meine Begleiterin ein paar Schritte von mir entfernte, flüsterte mir die gute Frau Joly ins Ohr, sie habe diese kleine Lüge angebracht, weil meine Verwandte neugierig und plaudersüchtig zu sein scheine. Lemor aber sei hier und halte sich verborgen, um sich mir erst zu zeigen, wenn ich allein sein werde.

Ich meinte vor Freude ohnmächtig zu werden und ertrug die Zuvorkommenheiten meiner armen Base mit unbeschreiblicher Ungeduld.

Endlich ging sie weg und ich sah Lemor wieder, sah ihn nicht nur diesen Tag, sondern alle Tage und beinahe zu jeder Stunde des Tages vom Beginn des Frühlings bis zu Ende des Herbstes. Besuche, welche immer selten und kurz waren, und unausweichliche Fahrten nach Paris raubten, alles zusammengerechnet, kaum zwei Wochen von unserem köstlichen Zusammensein.

Ich überlasse es Ihnen, sich auszumalen, wie glücklich dieses Leben war und wie das Gefühl der Liebe allmählich über das der Freundschaft den Sieg davon trug. Aber diese Liebe war vor den Augen Gottes und meines Sohnes nicht minder rein, wie die Freundschaft, welche wir am Sterbebette von Heinrichs Bruder geschlossen haben. Man flüsterte vielleicht dennoch ein wenig davon unter der Einwohnerschaft von Montmorency, allein der gute Ruf unserer Wirtin, die Zartheit, womit sie unsere Gefühle behandelte, die sie wohl erriet, ihr Eifer, womit sie unsere Ausführung in Schutz nahm, das eingezogene Leben, welches wir führten und die Klugheit, welcher zufolge wir uns hüteten, uns mitsammen außerhalb des Hauses zu zeigen, kurz die Abwesenheit jedes Skandals verhinderten die Bosheit, sich in die Sache zu mischen. Nie ist meinem Mann oder meinen Verwandten auch nur ein Wort zu Ohren gekommen.

Nie war eine Liebe religiöser und für die beiden Seelen, welche sie erfüllte, heilsamer. Die Ansichten Heinrichs, sehr wunderlich in den Augen der Welt, aber gewiss die einzig wahren, die einzig christlichen wenigstens, erhoben meinen Geist in eine neue Sphäre. Ich lernte die Begeisterung des Glaubens und der Tugend zugleich mit der Begeisterung der Liebe kennen. Diese zwei Empfindungen verschmolzen sich in meiner Seele und waren fortan unzertrennlich. Überdies betete Heinrich meinen Sohn an, meinen Sohn, welchen sein Vater vernachlässigte, vergaß und kaum kannte, und Eduard empfand für Lemor seinerseits alle die Zärtlichkeit, das Zutrauen und die Achtung, welche sein Vater ihm hätte einflößen sollen.

Der Winter vertrieb uns abermals aus unserem irdischen Paradies, aber diesmal trennte er uns nicht. Lemor besuchte mich von Zeit zu Zeit insgeheim und wir schrieben uns alle Tage. Er besaß einen Schlüssel zum Garten des Hôtels, und wenn wir uns nachts nicht dort treffen konnten, so benutzten wir eine Ritze in dem Fußgestell einer alten Statue, um unsere Briefe aufzubewahren.

Es ist, wie Sie wissen, noch nicht lange her, dass Herr von Blanchemont ein tragisches Ende genommen hat in einem Duell auf Leben und Tod mit einem seiner Freunde um einer albernen Maitresse willen, welche ihn verraten hatte. Einen Monat darauf sah ich Heinrich, und von dieser Zusammenkunft schreiben sich meine Schmerzen her. Ich hielt es für eine so natürliche Sache, mich nun für das ganze Leben mit ihm zu verbinden! Ich wollte ihn einen Augenblick sehen, um mit ihm gemeinschaftlich den Zeitpunkt festzustellen, wo die von meiner Lage mir auferlegten Pflichten es gestatteten, dass ich ihm meine Hand und meine Person gäbe, wie er mein Herz und meinen Geist schon besaß. Aber, können Sie es glauben, Rose? – Seine erste Bewegung war eine schreckhafte und verzweiflungsvolle Weigerung. Die Furcht, reich zu sein, ja, der Schrecken vor dem Reichtum trug bei ihm über die Liebe den Sieg davon und er floh von mir mit Entsetzen.

Ich war beleidigt, bestürzt, ich wusste nicht, wie ich ihn besiegen sollte, ich wollte ihn nicht zurückhalten. Und dann fand ich bei ruhigerem Nachdenken, dass er Recht habe, dass er nur konsequent und seinen Grundsätzen getreu handle. Ich musste ihn deshalb noch mehr achten und lieben und entschloss mich, mein Leben auf eine Weise einzurichten, welche ihn nicht mehr beleidigen konnte. Die Gesellschaft gänzlich zu verlassen, mich weit von Paris tief im Lande zu verbergen, kurz alle meine Verbindungen mit den Vornehmen und Reichen abzubrechen, welche Lemor als die ebenso wilden, als unfreiwilligen und blinden Feinde der Menschheit betrachtet.

Aber diesen Vorsatz, welcher in meinen Gedanken nur ein untergeordneter war, verband ich mit einem andern, welcher das Übel in der Wurzel treffen und alle Skrupel meines Geliebten, meines künftigen Gatten mit einmal austilgen sollte. Ich wollte sein Beispiel nachahmen, wollte mein persönliches Vermögen verteilen zufolge jener Pflicht, welche wir im Kloster die guten Werke nennen, die aber Lemor ein Werk der Wiedererstattung heißt und die unter den Menschen gerecht und vor Gott angenehm ist in allen Religionen und zu allen Zeiten. Ich hatte die Freiheit, dieses Opfer zu bringen, ohne dem, was die Reichen das künftige Glück meines Sohnes nennen, zu schaden, da ich damals noch glaubte, er sei ein reicher Erbe, und zudem hätte ich, indem ich für meine Person auf den Genuss seiner Revenuen während seiner Minderjährigkeit verzichtete und seine Renten anwachsen und gut anlegen ließ, ja auch für sein Glück gesorgt, d. h. ich hätte ihm, indem ich ihn zu einer mäßigen und einfachen Lebensweise erzog und ihm die Begeisterung meiner Menschenliebe einflößte, eines Tages Gelegenheit gegeben, ein beträchtliches Vermögen, welches durch meine Sparsamkeit und mein Verzichtleisten auf die Interessen desselben, deren Genuss mir das Gesetz sicherte, noch vermehrt worden wäre, auch seinerseits zu guten Werken zu verwenden. Es schien mir, dass die so naive und zärtliche Seele meines Kindes meinen Enthusiasmus werde verstehen können und dass ich diese irdischen Reichtümer um seines künftigen Heiles willen anhäufen würde. Lachen Sie immerhin ein wenig, wenn Sie wollen, liebe Rose, dass ich auch jetzt noch, wenn auch unter beschränkteren Umständen, reüssieren und meinem Eduard die Dinge unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten lehren werde. Er hat jetzt zwar von seinem Vater kein Erbe mehr zu erwarten, aber das, was mir bleibt, soll dem nämlichen Zwecke geweiht werden. Ich glaube, jetzt nicht mehr das Recht zu haben, mich dessen, was uns beiden noch verbleibt, zu entschlagen, denn ich bilde mir ein, dass, da mein Sohn nur noch von mir etwas Bestimmtes zu erwarten hat, nichts mehr mir eigen angehöre. Diese Armut, aus welcher ich mir hätte ein Gelübde machen können, ist eine neue Taufe, welche meinem Sohne ebenfalls zu geben, bevor er in dem Alter ist, wo er sie freiwillig empfangen oder verwerfen kann, mir Gott vielleicht nicht gestattet. Dürfen wir, wir, die wir in diesem Jahrhundert geboren sind und Wesen das Leben gegeben haben, welche in der Gesellschaft zu Genuss und Vermögen bestimmt sind, dieselben gewaltsam und ohne sie zu fragen, dessen berauben, was die Gesellschaft als so große Vorteile und als so geheiligte Rechte betrachtet? Wenn ich in diesem allgemeinen: ›Rette sich, wer kann!‹ wo die Verderbnis des Geldes alle Menschen durchgiftet hat, sterben und meinen Sohn im Elend zurücklassen würde, bevor ich die notwendige Zeit gefunden, ihm die Liebe zur Arbeit einzuflößen, welchen Lastern, welcher Verworfenheit müsste ich nicht seine guten, aber noch unerstarkten Triebe auszusetzen befürchten?

Man spricht von einer Religion der Brüderschaft und Gleichheit, wo die Menschen dadurch glücklich würden, dass sie sich liebten, und reich durch Entsagung, man sagt, dass dies ein Problem sei, welches zu lösen die größten Heiligen des Christentums, wie die größten Weisen des Altertums im Begriffe gewesen; man sagt ferner, dass diese Religion bereit sei, in die Herzen der Menschen herabzusteigen, obgleich in der Wirklichkeit sich noch alles gegen sie verschwört, weil ein unermesslicher, furchtbarer Zusammenstoß aller selbstsüchtigen Interessen die Notwendigkeit, alles zu ändern, die Entkräftung des Bösen, das Bedürfnis des Wahren und die Liebe zum Guten gebären müssen, und ich, Rose, glaube fest daran. Allein, wie ich Ihnen schon vorhin gesagt, ich weiß nicht, was für eine Zeit Gott zur Erfüllung seiner Ratschlüsse festgesetzt hat. Ich verstehe nichts von der Politik, ich sehe nur einen hellen Schimmer meines Ideals und, zurückgezogen in die Arche, wie der Vogel während der Sündflut, harre, bete, dulde und hoffe ich, ohne mich um die Spöttereien zu bekümmern, welche die Welt an alle die verschwendet, welche ihre Ungerechtigkeiten nicht billigen und sich über die Leiden der Zeit nicht freuen wollen.

Und in dieser Unkenntnis des Kommenden, in diesem Sturme, der alle menschlichen Leidenschaften gegeneinander loslässt, muss ich wohl meinen Sohn fest in meine Arme schließen und ihm das Fahrzeug besteigen helfen, welches uns vielleicht an die Ufer einer besseren Welt trägt. Ach, gute Rose, in einer Zeit, wo das Geld alles in allem ist, kauft und verkauft sich alles. Kunst, Wissenschaft, alle Erleuchtung und folglich auch alle Tugend, ja die Religion selbst sind dem untersagt, der nicht bezahlen kann, bevor er aus diesen göttlichen Quellen seinen Durst löscht, und wie sich die Kirche ihre Sakramente mit Geld bezahlen lässt, so erwirbt man auch nur mit Geld das Recht, ein Mensch zu sein, lesen, denken, das Gute vom Bösen unterscheiden zu lernen. Der Arme, sofern er nicht mit außerordentlichem Genie begabt ist, wird verdammt, ohne Unterricht und Erziehung eine tierische Existenz dahinzuschleppen, und das arme bettelnde Kind, welches statt jeder Ausbildung bloß die Kunst erlangt, die Hand auszustrecken und seine Stimme kläglich zu erheben, in welche falsche und abscheuliche Geleise muss es seine schwache und unmächtige Einsicht zwingen?

Es ist ein entsetzlicher Gedanke, dass der Aberglaube die einzige Religion, für welche der Bauer empfänglich ist, dass seine ganze Gottesverehrung sich auf Gebräuche beschränkt, die er nicht versteht und deren Sinn und Ursprung er nie erfährt, dass Gott für ihn nichts denn ein Götze, welcher der Ernte oder der Herde dessen gnädig, der ihm eine Kerze oder ein Bild weiht. Bei meinem Hieherkommen traf ich heute früh auf eine Prozession, welche sich um eine Quelle versammelt hatte und um Aufhören der Trockenheit betete. Ich fragte, warum man gerade an dieser Stelle und nicht anderswo die Gebete verrichte, und da antwortete mir eine Frau, indem sie auf ein kleines Gipsbild wies, welches in der Nische eines sogenannten Bildstocks angebracht und wie die Götter des Heidentums6 mit Kränzen geschmückt war: ›Das kommt daher, dass die Muttergottes da die Beste von allen ist, was das Regnen angeht.‹

Soll denn mein Sohn, so er arm ist, auch zugleich wahngläubig sein im Gegensatz zu den ersten Christen, welche die wahre Religion mit heiliger Armut erfassten? Ich weiß wohl, dass der Arme das Recht hat, mich zu fragen: Warum soll dein Sohn in höherem Grade als der meinige Gott und die Wahrheit erkennen? Ach, ich habe keine Antwort darauf, außer dass ich nur mit Aufopferung des Meinigen meinen Sohn rette. Und was ist das für ihn für eine unmenschliche Antwort! O, die Zeiten des Schiffbruchs sind entsetzlich: Jeder will retten, was ihm das Teuerste, und überlässt die andern ihrem Schicksal. Aber noch einmal, Rose, was können wir tun, wir Frauen, die wir alles das nur zu beweinen wissen?

So stehen denn die Pflichten, welche uns die Familie auferlegt, in direktem Widerspruch mit denen, deren Erfüllung die Menschheit von uns fordert. Wir vermögen aber doch noch etwas für die Familie, während wir betreffs der Menschheit, wofern wir nicht sehr reich sind, nichts mehr vermögen. Denn zur jetzigen Zeit, wo die größten Reichtümer die kleineren so rasch verschlingen, ist ein bescheidenes Vermögen nur Qual und Unmacht.

Das ist es«, fuhr Marcelle fort, indem sie sich eine Träne trocknete, »warum ich mich genötigt sehe, die schönen Träume, welche ich hegte, als ich vor zwei Tagen Paris verließ, einer Modifikation zu unterwerfen. Allein ich will dennoch mein Möglichstes tun, Rose, und mich nicht auf Kosten anderer mit unnützem Luxus umgeben. Ich will mich auf das Nötigste beschränken, mir ein Bauernhaus kaufen, so mäßig leben, als es meine Gesundheit immer nur gestattet (denn diese kommt dabei in Betracht, weil ich mein Leben meinem Sohne schuldig bin), Ordnung in mein kleines Kapital bringen, um es ihm eines Tages zu übergeben, nachdem ich ihn in dem nützlichen und frommen Gebrauch desselben unterwiesen, welchen Gott derzeit von uns fordert, und, in Erwartung der Zukunft, den möglich kleinsten Teil meines Einkommens auf meine Bedürfnisse und auf die Erziehung meines Sohnes verwenden, um immer eine Gabe für die Armen zu haben, welche an meine Türe klopfen werden. Dies ist, wie ich glaube, alles, was ich tun kann, im Falle sich nicht in Bälde eine wahrhaft heilige Gemeinde bildet, eine Art neuer Kirche, in welcher einige begeisterte Gläubige ihre Brüder zu sich rufen, um mit ihnen gemeinschaftlich zu leben, unter den Gesetzen einer Religion und Moral, welche den edlen Forderungen der Seele entsprechen, sowie den Geboten einer wahrhaftigen Gleichheit. Fragen Sie mich nicht nach der bestimmten Form dieser Gesetze! Ich habe nicht den Beruf, sie zu geben, weil mir Gott nicht das Genie, sie zu entdecken, gegeben. Meine ganze Einsicht beschränkt sich darauf, sie zu verstehen, wenn Sie entdeckt werden, und meine guten Instinkte nötigen mich, die Systeme zu verwerfen, welche sich dermalen allzu zuversichtlich unter verschiedenen Namen auftun. Ich finde noch in keinem derselben die geistige Freiheit geachtet, sondern in ihnen vielmehr den Ehrgeiz und die Gottesleugnung vielfach hervortreten. Sie haben vielleicht von den Simonisten und Fourieristen sprechen hören. Das sind erst Systeme ohne Religion und Liebe, philosophische Fehlgeburten, grobe Entwürfe, in denen der Geist des Bösen sich unter dem äußerlichen Schein von Philosophie zu verstecken scheint. Ich verdamme sie nicht schlechthin, allein ich wurde von ihnen zurückgeschreckt, wie durch das Vorgefühl einer neuen Schlinge, welche man der menschlichen Einfalt legen wolle.

Aber es ist spät geworden, Rose, und Ihre glänzenden Augen kämpfen mit der Ermüdung. Ich habe all dem Gesagten nichts beizufügen, wenn nicht, dass wir beide von armen Männern geliebt werden, und dass die eine von uns darauf hinstrebt, alle ihre Verbindungen mit den Reichen zu lösen, während die andere zaudert und die Meinung der Reichen fürchtet.«

»O, gnädige Frau«, sagte Rose, welche Marcelle mit religiöser Aufmerksamkeit zugehört hatte, »wie sind Sie groß und gut! Wie wissen Sie zu lieben, und wie klar ist es mir nun, warum ich Sie liebe! Es kommt mir vor, als ob Ihre Geschichte und die Auseinandersetzung Ihres Betragens mich um einen halben Kopf größer gemacht hätte. Welches traurige und elende Leben führen wir, im Vergleich mit dem, welches Sie sich träumen! Mein Gott, mein Gott, ich glaube, der Tag Ihrer Abreise von hier wird mein Todestag werden!«

»Ohne Sie, liebe Rose, würde ich, wie ich offen gestehe, allerdings sehr eilen, meine Hütte in der Nachbarschaft von weniger reichen Leuten zu erbauen, aber Sie machen mich Ihren Pachthof und selbst dieses alte Schloss lieben .... Aha, ich höre, wie Ihre Mutter Ihnen ruft. Umarmen Sie mich noch einmal und verzeihen Sie mir, dass ich Ihnen einige harte Worte gesagt. Ich mache mir selbe zum Vorwurf, weil ich sehe, wie Sie so wohlwollend und gefühlvoll sind.«

Rose umarmte die junge Baronin mit Rührung und ging dann weg. Einer Gewohnheit, wie sie verzogene Kinder haben, nachgebend, machte sie sich den kleinen Spaß, ihre Mutter immerfort schreien zu lassen, während sie langsam ihrem Rufe folgte. Dann fing sie an, zu laufen, konnte sich aber nicht entschließen, ihr ein Wort zu sagen, bevor sie hart vor ihr stand; diese kreischende Stimme kam ihr nach der sanften Harmonie der Sprache Marcelles wie ein falscher Ton vor.

Noch von den Nachwehen ihrer Reise ermüdet, glitt Frau von Blanchemont in das Bett, wo ihr Söhnchen schlummerte, und die orangefarbenen, mit Laubwerk durchwirkten Vorhänge vorziehend, war sie, ohne irgendwie der von einem alten Schloss unzertrennlichen Gespenster zu denken, eben im Begriff, einzuschlafen, als ein unerklärliches Geräusch sie nötigte, aufzuhorchen und sich etwas beunruhigt zu erheben.

5.Erdgeschoss, d. Bearb.
6.Die Väter der ursprünglichen Kirche verdammten mit bittern Worten den heidnischen Gebrauch, die Bildsäulen der Götter zu schmücken. Minutius Felix spricht sich hierüber mit bewunderungswürdiger Klarheit aus. Die Kirche des Mittelalters hat die Bräuche des Götzendienstes wiederhergestellt und die Kirche von heutzutage behält diese einträgliche Spekulation bei.