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Buch lesen: «Der Klosterjaeger», Seite 2

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„Ja!“ gähnte der Bub.

„Kennst du eine junge Dirn mit Namen Gittli?“

„Wohl. Das ist die Müllerstochter am Seebach drunt, ein festes Weibsbild mit blonden Zöpfen, dick wie mein Arm.“

„Die mein’ ich nit. Eine andere.“

„Halt! Ja! Die Krämerdirn? Haymo, die hat Moos und kriegt ein Haus. Aber schielen tut sie und einen Buckel hat sie auch. Pfui Teufel!“

„Die mein’ ich auch nit. Eine andere.“

„Eine andere? Gittli? Ich weiß keine mehr.“

„Besinn dich!“

„Wie soll sie denn ausschauen?“

Haymo neigte sich über den Herd; seine Augen leuchteten, und von seinen Wangen widerstrahlte die Glut der Kohlen: „Schlank und fein wie ein junges Lärchenstämml, flink wie ein Reh, ein Gesicht, so weiß wie die Schneerosen, und Augen so schön und so tief wie der See.“

Walti glotzte den Jäger an und schüttelte den Kopf. „Nein, die kenn ich nit. So eine gibt’s gar nit bei uns im Dorf. Die müßt man draußen in der Salzburg suchen oder im reichen Hall, in den Herrenhäusern.“ Er ließ sich gähnend zurücksinken in den Winkel, richtete sich aber gleich wieder auf. „Halt! Eine fällt mir noch ein. Ja, die heißt auch Gittli. Aber das ist noch gar keine Dirn. Die ist mit mir in die Klosterschul gegangen. Ein kleberes3 Ding. Hat Augen wie eine Wildkatz und Haar, so schwarz wie des Teufels Großmutter. Die kannst du nit meinen.“

Haymo lächelte. „Nein, die mein’ ich freilich nit! Wer ist denn ihr Vater?“

„Sie hat keinen. Bei ihrem Bruder haust sie. Das ist einer! Dem geh ich aus dem Weg. Neulich, wie die Glock zum Essen läutet, hab ich sein Kindl umgerannt. Da hat er mir die Ohren schier aus dem Kopf gerissen. Der Teufel, der ungute! Ist ein Auswärtiger. Vor zehn Jahren ist er zu uns gekommen, weiß nit, woher. Drunten im Salzhaus ist er Sudmann, und sein Haus ist ein Klosterlehen. Jaaa!“ Laut gähnend drehte sich Walti auf die Seite.

Haymo saß gegen die Blockwand gelehnt, flocht die Hände um das aufgezogene Knie und träumte mit offenen Augen.

Auf dem Herd erlosch die Glut, Frater Severin schnarchte, und draußen stürmte der Föhn um das kleine Balkenhaus, daß es zitterte in allen Fugen.

3

Es war nach den schweren Mühen des Tages keine bequeme Rast, die Haymo auf dem Herdrand hielt. Dennoch schlief er fest. Nach stillen Stunden weckte ihn ein Windstoß, der gegen die Hütte fuhr, als wollte er sie wegtragen in die Lüfte. Auch Walti erwachte; sogar Frater Severin stellte das Schnarchen ein und warf sich auf die Seite.

Haymo verließ die Hütte, um sich an der Quelle zu waschen; der Stand der Sterne zeigte die zweite Morgenstunde. Als er zurückkehrte, hatte Walti ein Feuer entzündet. Frater Severin schnurrte schon wieder im Schlaf wie die Säge in einer dürren Zirbe.

Heute brauchte Haymo kein Frühmahl, denn er mußte nüchtern bleiben für den Tisch des Herrn. Er schnallte das Wehrgehäng um die Hüfte, warf die Armbrust hinter den Rücken und drückte die Kappe über das krause Gelock. Aus dem Schreine nahm er eine ältere Armbrust hervor und einen Bolzenköcher und reichte beides dem Buben, dessen Augen aufblitzten, als er nach der Waffe griff.

„Kannst du schießen?“

„Auf hundert Gäng treff ich wohl einen Baum!“ sprudelte es über Waltis Lippen.

„Gut! Laß den Frater schlafen! Du aber geh, wann der Morgen graut, und übernimm die Hut!“

„Welchen Weg soll ich machen?“

„Hinüber zur Kreuzhöh, dann hinauf durch den Wald bis unter die Wänd und immer an den Wänden fort. Aber nimm dich in acht vor den Lahnen4 und spring nit talwärts, wenn du sie rollen hörst über dir, sondern drück dich an die Wand! Und wenn du einen Steinbock siehst oder ein Rudel Gemsen, dann scheuch mir das Wild nit! Hörst du? Und wenn dir einer begegnet, der nichts hier oben zu schaffen hat, dann zeig, daß du ein richtiger Bub bist, und ruf ihn an! Es ist Klostergut, das du hütest.“

Walti nickte nur; sein Gesicht brannte, und fester schlossen sich seine Hände um die Armbrust.

„Und nun behüt dich Gott! Und grüß mir den Frater Severin!“

Draußen lag noch die Nacht mit ihrem Sturm und ihren Sternen. Rüstigen Ganges folgte Haymo durch das rauhe Steinfeld dem talwärts führenden Jägersteig. Nach einer Stunde erreichte er den rauschenden Almenwald. Durch die Finsternis, die ihn zwischen den Bäumen umgab, wanderte er so sicher dahin, als wär’ es heller Tag. Manchmal hörte er flüchtendes Hochwild brechen.

Nun teilte sich der Weg; der eine Pfad führte über die bewaldeten Wände steil hinunter zum See, der andere quer durch den Wald, auf einem Umweg bei den Sennhütten vorüber und dann nach weiten Windungen beim Seedorf in das Klostertal.

Bei den Sennhütten vorüber? Haymo fühlte, wie es ihn zog und zog. Er hätte gerne gewußt, ob Gittli die stürmische Nacht auch fahrlos überstanden. Um sich loszureißen, mußte er des Zweckes denken, der ihn heute hinunter rief ins Kloster.

In doppelter Eile folgte er dem immer abschüssiger werdenden Pfad. Die Sterne erblaßten, immer lichter wurde der Himmel, und über den Spitzen der Berge erwachte das Frührot. Ein rosiger Schimmer erfüllte den weiten Felsenkessel, in dessen Tiefe der See mit weißen Wellen schwankte. Als Haymo das steile Ufer erreichte, wurde drüben über dem See, in der Bartholomäusklause, der Morgensegen geläutet. Er zog die Kappe und sprach ein Gebet. Dann stieß er den Einbaum, der zwischen wirrem Gestrüpp an das Ufer gezogen lag, in das Wasser, sprang mit raschem Satz in das schwankende Fahrzeug und griff zum Ruder. Wohl hatte der wehende Föhn zwischen den tief gesenkten Felswänden nur halbe Macht, Haymo mußte aber doch seine ganze Kraft zusammennehmen, um bei den häufigen Wirbelwinden, die ihn überfielen, den plumpen Kahn in gerader Fahrt zu halten.

Es war heller Tag geworden, als er nahe dem Seedorf in einer vor dem Sturme geschützten Bucht den Einbaum wieder ans Land zog. Zwischen den rauschenden Fichten stieg er den sanft geneigten Waldweg empor. Nun verhielt er betroffen den Schritt. Vor ihm auf einem moosigen Steine saß ein Mönch. Netzwerk und Angelschnüre lagen zu seinen Füßen; er hielt die Arme auf die Knie gestützt und das Antlitz in den Händen vergraben. Die weiße Kapuze war zurückgesunken und enthüllte ein edel geformtes Haupt mit kurzgeschorenem, tiefschwarzem Haar; dicht und lang quoll der schwarze Bart unter den Händen hervor bis auf die Brust.

In Haymo erwachte die Erinnerung. Dieser Mönch vor ihm, das war wohl der ‚Schwarze‘, von welchem Walti geplaudert hatte, der neue ‚Pater Fischmeister‘, den ‚sie von Passau hergeschickt‘, und von welchem Frater Severin erzählt hatte, daß er ganze Tage lang stumm und einsam im beschneiten Klostergarten auf und nieder gewandert wäre ‚wie ein Gespenst‘?

Einen Schritt trat Haymo näher, sein eisenbeschlagener Schuh streifte an eine Felsplatte, und da richtete der Mönch sich auf. Diese stolze, edle Gestalt hätte eher in den Harnisch gepaßt als in die Kutte; das Gesicht aber, das der schwarze Bart umrahmte, war bleich wie Schnee; Gram und Seelenpein hatten die Züge verschärft und tiefe Furchen in die weiße Stirn gegraben; um die schmalen Lippen zuckte der Schmerz, und die tiefliegenden Augen brannten wie Feuer – das waren Augen, die lange die Wohltat der Tränen nicht mehr kannten. Haymo fühlte sein Herz berührt vom Anblick dieses Priesters; er zog verwirrt die Kappe und stammelte: „Hochwürdiger Vater! Was fehlt Euch? Seid Ihr krank?“

Der Mönch wandte sich wortlos ab, hob die Fischnetze und Angelschnüre auf seinen Arm und wollte gehen.

Haymo vertrat ihm den Weg. „Ich bitt Euch, redet ein Wort zu mir! Vielleicht kann ich Euch was zulieb tun? Sagt mir, was bedrückt Euch?“

„Das Leben!“ glitt es leise von den Lippen des Mönches, als hätte er dieses Wort für sich allein gesprochen, nicht aber als Antwort auf die herzliche Frage des Jägers. Dann neigte er das Haupt – es war ein Gruß und eine Abweisung zugleich – und ging zu dem Pfade hinüber, der von den Bergen herunterführte gegen das Seedorf.

Betroffen blickte Haymo ihm nach; nun hob er lauschend den Kopf; eine klingende Stimme tönte von einer höheren Stelle des Pfades durch den Wald. Haymo erkannte die Stimme, und heiß schoß ihm das Blut in die Wangen. Jetzt sah er auch zwischen den Bäumen schon das rote Röckl schimmern. Gittli war es. Und sie sang:

 
„Auf steiler Höh,
Tief unterm Schnee,
Da blüht ein Blüml grün und weiß.
Es gräbt in Stein
Die Wurzen ein
Und streckt sein Köpfl aus dem Eis,
Schneeweiß!
 
 
Die Winterszeit,
Wenn’s eist und schneit,
Das ist sein Lenz auf weißer Hald.
Doch bringt der Föhn
Den Frühling schön,
Dann siecht es hin und welket bald,
Schneekalt!
 
 
Im Herzen tief
Ein Blüml schlief,
Gar lieblich und an Schönheit reich;
Es blühte rot,
Da kam der Tod
Und trug’s hinunter in sein Reich,
Schneebleich!“
 

Wie Lerchengesang hob Gittlis Stimme sich über den wehenden Sturm und das dumpfe Rauschen des Waldes. Und als sie die letzte Strophe gesungen hatte, sah Haymo, wie Gittli auf dem schmalen Pfad erschrocken stehen blieb, den scheuen Blick auf den Pater Fischmeister gerichtet. Dieser stand vor ihr, mit erstarrtem Gesicht und mit Augen so voll Entsetzen, als wäre das Mädchen vor ihm nicht das lieblichste Bild des Lebens, sondern ein dem dunkelsten Schoß der Erde entstiegenes Gespenst. Die Knie drohten ihm zu brechen, Netze und Schnüre fielen von seinem Arm, taumelnd griff er nach einer Stütze, und von seinen zuckenden Lippen klang es mit heiserem Laut: „Wer bist du?“

„Ich bin die Gittli,“ stammelte das Mädchen mit versagender Stimme.

„Wer ist dein Vater?“

„Mein Vater ist tot, und meine Mutter auch. Ich hause bei meinem Bruder, der heißt Wolfrat und ist Sudmann im Salzhaus des Klosters.“

Das hatte Gittli scheu hervorgestottert, wie ein Kind die Litanei in der Schule stammelt, wenn der Kaplan die Haselrute schwingt. Nun stand sie schweigend, das Körbchen mit den Schneerosen an ihren jungen Busen drückend, ein Bild, so hold, daß Haymo von diesem Anblick sein Herz zum Springen schwellen fühlte. Es zuckte in seinen Fäusten, und es war ihm, als müßt’ er auf den unheimlichen Wegelagerer losstürzen und ihm zuschreien: Was willst du von dem Kind? Laß das Kind in Ruh! Oder du hast es mit mir zu tun!

In wachsender Verstörtheit war der Blick des Mönches auf das Mädchen gerichtet. Röte und Blässe wechselten auf seinen Zügen, seine Augen waren wie zwei Flammen, heiß und verzehrend. „Wer gab dir dieses Gesicht?“ so brach es fast wie ein Schrei von seinen Lippen; nun streckte er die Arme, als wollte er das Mädchen umschlingen – und da wich Gittli erbleichend vor ihm zurück; einen Augenblick stand sie ratlos, dann schwang sie sich mit einem herzhaften Sprung über den steilen Rand des Pfades auf den moosigen Waldboden und flog mit flatterndem Rock an Haymo vorüber, um zwischen den Bäumen zu verschwinden.

Wie man lange nach der dunklen Stelle des Himmels starrt, an der ein fallender Stern erloschen ist, so starrte Haymo in den Waldschatten, in dem die Gestalt des Mädchens sich verloren hatte. Langsam wandte er das Gesicht und blickte wieder zum Pfad hinauf. Dort oben stand noch immer der Mönch mit gestreckten Armen, als wollte er die Luft umschlingen, in der das Mädchen geatmet. Jetzt kam ein Zittern über ihn, seine Arme fielen, stöhnend sank er auf einen Stein und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Haymo wußte nicht, wie ihm geschah. Er hätte gern diesem Priester gezürnt, und dennoch fühlte er, wie das Mitleid sein Herz gefangen nahm. Eine Weile noch stand er wie gebannt; dann schlich er davon, und je weiter er sich entfernte, desto rascher wurde sein Schritt.

Vielleicht gelang es ihm noch, das Mädchen einzuholen? In seinem Geleit wäre Gittli sicher und hätte einen gefahrlosen Heimweg. Er begann zu laufen. Was war das? Diese zornige Stimme, die von der offenen Seelände durch die Lichtung der Bäume klang? War das nicht Gittlis Stimme? Ja! Und nun verstand er auch ihre Worte: „So laßt mich doch! Was wollt ihr von mir? Was hab ich euch denn getan? So laßt mich doch in Ruh!“

Haymo hatte den Waldsaum erreicht; draußen lag eine breite Wiese, halb überspült von dem weißen Sand, den der schäumende See über das Ufer warf; an Stangen hingen Fischnetze zum Trocknen aufgespannt; unter weitästigen, im Föhnwind rauschenden Ulmen, zu Füßen eines Hügels, standen die beiden Hütten der dem Kloster hörigen Fischerknechte. Zwei der struppigen, an Gesicht und Kleidung derb verwitterten Gesellen hatten inmitten der Wiese das Mädchen mit einem Stück Netz umfangen, und der eine lachte: „Hilft dir nichts! Wer so ein feines Fischl im Garn hat, der hält es fest.“

„Aber so laßt mich doch, laßt mich!“ flehte Gittli und suchte sich dem Netz zu entwinden.

„Zappel nur!“ lachte der andere. „Weißt du, was einem Ferch geschieht, wenn er ins Netz gegangen ist? Wir geben ihm eins auf den Schnabel!“

Gittli kreischte, und während sie mit dem einen Arm ihr Körbchen in die Höhe hielt, schlug sie mit dem andern zornig um sich.

„Geh, hab keine Sorg!“ tröstete der jüngere der beiden Knechte. „Wir machen’s bei dir nit gar zu grob! Komm her, wirst sehen, es tut nit weh!“ Er faßte mit derber Hand ihr Kinn und wollte sie küssen. Da flog er unsanft zur Seite. Haymo hatte ihn beim Kragen gepackt, und der Griff hatte ausgegeben. Ein Dutzend Schritte von der Stelle saß der Bursch im Gras und machte ein dummes Gesicht. Dem anderen versetzte Haymo mit dem Bergstock eins über die Hand, daß er das Netz gutwillig fallen ließ. Gittli, die sich so plötzlich befreit sah, warf dem Jäger einen dankbaren Blick zu, streifte hurtig das Netz von den Füßen und huschte kichernd davon.

Der ins Gras Gesetzte hatte sich inzwischen erhoben. Mit kirschrotem Gesicht kam er auf den Jäger zugestürmt.

Haymo machte eine Faust und hob sie ein wenig. „Komm nur!“ sagte er lächelnd.

Da war der Zorn des Burschen verraucht. Und der andere, der noch immer seine Hand rieb, brummte: „So ein Wildling! Gleich zuhauen! Da schau, ganz blau sind alle Finger!“ Und scheltend ging er dem Ufer zu und steckte die Hand ins kalte Wasser.

Lachend schulterte Haymo den Bergstock und folgte der Straße. Er wäre gern rascher gegangen; aber das wollte er den beiden Gesellen nicht zuliebe tun; die hätten ihm sonst wohl nachgerufen: „Schau, wie er sich tummelt, daß er davon kommt!“ Als er um die Ecke lenkte und den Blicken der beiden entschwand, beschleunigte er seinen Gang; aber von Gittli war nichts mehr zu sehen und zu hören.

Auf schmaler, von den Rädern der Bauernkarren übel zerrissener Straße schritt Haymo durch das frühlingsblühende Tal. Wenn auch droben auf den Bergen der Lenz noch eine harte, zähe Schlacht gegen den Winter schlug, so hatte doch im Tal der Frühling sich schon häuslich eingerichtet. Auf den Wiesen lag es schon wie grüner Sammet, in dem sich die zahllos blühenden Primeln ausnahmen wie goldene Stickerei. Veilchenduft wehte aus den Hecken, in denen die kleinen Meisen zwitscherten. Aus den Zweigen der Fichten spitzten schon die jungen Triebe, und über den Buchen und Ahornbäumen lag’s von den sprossenden Blättchen wie lichtgrüner Schimmer. Die wilde Kraft des Föhns, der droben auf den Bergen allen Grund der Felsen zittern machte und die donnernden Lawinen löste, war hier im Tal verwandelt in ein frisches Wehen, das in alle Büsche griff, in alle Wipfel der Bäume, als wollt’ es ihnen sagen: Nur frisch, nur munter! Jetzt nach dem Winterschlaf kein Gähnen mehr! Jetzt heißt es wachsen, treiben, blühen, Früchte tragen und für Samen sorgen! Die schöne Zeit ist kurz. Und eh ihr euch’s verseht, ist wieder der Winter da. Munter! Munter!

Jetzt stieg die Morgensonne hinter den Bergen empor, Wald und Feld überspinnend mit ihrem Gold. Ein Funkeln und Leuchten überall. Sogar der Schatten, den Haymo auf die Straße warf, war Schimmer und Farbe.

Blaue Rauchsäulen stiegen aus den hölzernen Bauernhäusern, die zerstreut lagen zwischen kleinen Gehölzen, zwischen Wiesen und brachen Feldern; in den umhegten Gärten weidete das Vieh mit läutenden Glocken, und in steinigem Bette rauschte die dem See entströmende Ache ihr eintöniges Lied.

Die Straße begann zu steigen; nun trat sie unter den Bäumen hervor, und Haymo sah zu oberst auf der sonnigen Höhe des Weges das Mädchen schreiten.

„Gittli! Gittli!“ rief er mit hallender Stimme.

Sie hörte ihn, blieb stehen, wandte das Gesicht, schwang wie zum Gruß ihr Körbchen und lief davon, in der Senkung der Straße verschwindend.

Haymo seufzte zuerst, dann lachte er und wanderte weiter. Eine halbe Stunde noch, und er hatte das Klosterdorf erreicht. An beiden Ufern der Ache reihte sich Haus an Haus, und von der Höhe nieder winkte der schlanke Münsterturm und der mächtige, weit ausgedehnte Bau des Stiftes, mit hundert funkelnden Fenstern. Haymo überschritt auf hölzerner Brücke die Ache und gelangte zu einem riesigen Holzgebäude. Es war das Salzhaus, die Goldschmiede des Klosters, welche die Dukaten in so schöner Menge lieferte, daß in kaum zweihundert Jahren die arme Martinsklause zu Berchtesgaden das reichste Kloster weit und breit geworden war. Alle Fürsten zankten sich um die Hoheitsrechte über die reiche Propstei, und die Erzbischöfe von Salzburg machten scheele Augen.

In langer Reihe standen die Frachtwagen und Saumpferde aus aller Herren Länder vor dem Salzhaus, und ein Frater in geschürzter Kutte verzeichnete auf einem Täfelchen jeden Sack, der von den Knechten zum Verladen herbeigetragen wurde. Auf einem Seilzug, der über die Ache gespannt war, kamen die in Rollen laufenden Kufen mit dem Rohsalz knarrend einhergezogen. Dort drüben lag der Salzberg Tuval, in dessen Schachten das Steinsalz von den Klosterknappen gefördert wurde. Dann kam es in die Pochmühle, aus der Mühle in die Solwannen, und aus der gesättigten Sole wurde das reine Salz in mächtigen Pfannen wieder ausgekocht. Sogar in der Karwoche durften die Feuer nicht erlöschen. Wie fleißig der Sud betrieben wurde, das verriet der weiße Dampf, der in dichten Wolken aus allen Luken des Daches, aus jedem Tor und allen Fenstern des Sudhauses qualmte.

Da drinnen in der brütenden Hitze mochte kein gutes Weilen sein; das meinte Haymo dem Sudmann anzusehen, der triefend von Schweiß aus einem der Tore trat, um frische Luft zu schöpfen; er war nur mit einer blauen Leinenhose bekleidet, Oberkörper und Arme waren nackt und von der Hitze gerötet wie ein Krebs, der aus dem siedenden Wasser auf die Tafel kommt. Eine schwere Gestalt, Muskeln und Arme wie aus Kupfer gegossen, ein Stiernacken, ein klobiger Schädel mit kurzgeschnittenem, rötlichbraunem Haar; der struppige Bart hatte die Wangen fast bis zu den Augen überwachsen; dadurch bekam das Gesicht einen finsteren Ausdruck, der durch den verdrossenen Blick der grauen Augen noch verschärft wurde.

„Wolfrat!“ rief eine herrische Stimme im Innern des Salzhauses, und der Sudmann verschwand im Tor.

Wolfrat? – Dieser Mensch sollte Gittlis Bruder sein? Haymo schüttelte den Kopf; er stellte die beiden im Geiste nebeneinander. Das waren zwei Geschwister, von denen eins zum andern paßte, wie der Eichbaum zur Heckenrose, wie der Bär zum Reh, oder – der Volksmund pflegt zu sagen: wie die Faust aufs Auge!

4

Als Haymo durch die Pforte des Klostergartens trat, scholl vom Kirchplatz herab ein lautes Knattern und Gepolter. Das waren die hölzernen ‚Ratschen‘, die zur Messe riefen; während der Passionstage dürfen die Glocken nicht geläutet werden; ihre klingenden Seelen, so geht die Sage, ziehen nach Rom, um vom heiligen Vater gesegnet zu werden, und erst in der Osternacht kehren sie zurück in ihre ehernen Leiber, um schwebenden Schalles die Auferstehung des Erlösers zu verkünden.

Über Felsstufen und gewundene Wege stieg Haymo den Hang des Hügels empor, auf dessen Kuppe das Kloster stand; das ganze Gehänge, einst mit Felsklötzen besät und von wirrem Gestrüpp überwuchert, war in einen freundlichen Garten verwandelt, mit zahlreichen Blumenbeeten, Baumgruppen und säuberlich gehaltenen Pfaden. Wohl war der Garten um diese frühe Jahreszeit noch arm an Grün und Blüten. Aber was mußte das im Sommer für eine Pracht und Freude sein! Frater Severin, der Gärtner, verstand seine Kunst; das mußte auch der Neid bekennen.

Auf schwankendem Steg überschritt Haymo den tiefen Hirschgraben, in dem ein Rudel Hochwild friedlich äste. Die Tiere sahen elend und verkümmert aus; ein Hirsch, auf dessen Haupt schon das neue Geweih zu sprossen begann, war bis zum Rande des Grabens emporgestiegen und drückte die Stirn gegen das hölzerne Gitter; er sah durch die Lücken der Stäbe in der Ferne den freien Bergwald blauen; Haymo wandte sich ab, bewegt von Erbarmen; es dünkte ihn ein hartes Unrecht, solch ein edles Tier gefangen zu halten in traurigem Kerker, nur zu müßiger Augenweide.

Als der Jäger an der Klosterpforte den Hammer rührte, sagte ihm der Pförtner, daß Haymo nach der Messe in der Amtsstube des Klostervogtes sich einzufinden hätte; doch sollte er neben Dienst und Pflicht auch seines irdischen Leibes gedenken und den Umweg über die Küche nicht scheuen. „Freu dich, Junge, heut ist großer Fasttag!“ flüsterte der Pförtner und schmunzelte.

Haymo gab die Armbrust und den Bergstock in Verwahrung und schritt über den weiten Klosterhof dem Münster zu, durch dessen offenes Tor der Weihrauch duftete und die brennenden Kerzen flimmerten. Stehend, die Kappe zwischen den verschlungenen Händen, hörte er die Messe. Im Beichtstuhl hatte er ein schweres Viertelstündchen; er besann und besann sich, aber es fiel ihm keine Sünde ein, die er begangen hätte. Das ganze Jahr hindurch mit sich allein auf den Bergen und im Wald, nichts anderes im Herzen als die stille Freude an der schönen Gotteswelt, nichts anderes im Sinn als die Jägersorgen, die der Morgen weckte und der Schlaf vergessen machte, wie soll man da zu einer Sünde kommen? Kein Gebet, kein Glaube macht die Menschen frömmer als die Einsamkeit des rauschenden Waldes, als die freie Himmelsnähe auf den Gipfeln der Berge. Aber sündigen muß doch der Mensch! Wozu wäre sonst die Beichte da? Haymo sann und sann. Der Pater im Beichtstuhl wurde ungeduldig. Und Haymo, dem der Angstschweiß auf die Stirne trat, stotterte: „Hochwürdiger Vater, ich bitt Euch, habt nur ein Weilchen Geduld, es wird mir gewiß noch eine Sünd einfallen!“ Und richtig – der heiße Zorn, der ihm über die Lippen fuhr, so oft er droben in seinem Revier die verdächtige Spur eines Menschen fand – das war doch Sünde! Und der Wunsch, daß er Flügel haben möchte, um die entflohenen Raubschützen verfolgen und fassen zu können? Wieder eine Sünde! Denn dieser Wunsch war so viel wie ein versteckter Zweifel an der Weisheit Gottes, der die Menschen nun einmal ohne Flügel erschaffen hatte. Haymo atmete erleichtert auf; der Anfang war gemacht, und da ging es prächtig weiter, so daß er schließlich ein ganz gewichtiges Päckl Sünden zusammenbrachte. Der Pater lächelte, als er diesem schwer beladenen Beichtkind die Absolution erteilte; Haymo aber war völlig zerknirscht und hielt die kleine Buße, die er zu beten bekam, für unverdiente Milde. In tiefer Andacht genoß er den Leib des Herrn und verließ die Kirche.

Der Pförtner, der ihm das Tor des Stiftes öffnete, zwinkerte ihm freundlich zu und sagte: „Geh nur! In der Küch wissen sie schon, daß du kommst!“

Haymos eisenbeschlagene Schuhe klapperten auf den Steinfliesen des langen Korridors, den er zu durchschreiten hatte. Durch die hohen Bogenfenster fiel das goldene Sonnenlicht und machte die Farben der frommen Bildnisse leuchten, mit denen die weißen Wände geziert waren. Aus einer Türe hörte er summende Stimmen, dazu ein lautes Klappern und Klirren. Er öffnete und betrat die Klosterküche. Feuchte Hitze umfing ihn, und angenehme Düfte quollen ihm entgegen. Ein großmächtiger Raum mit sechs hohen und breiten Fenstern; die Wände schneeweiß getüncht, der Boden mit roten, spiegelblanken Marmorplatten belegt. Überall weißgescheuerte Tische, Kasten, Schreine und Truhen; alle Wände funkelten von kupfernen Pfannen und zinnernen Schüsseln; an den Fensterpfeilern hingen die aus Blech getriebenen Kuchenformen in Gestalt von Sternen, Herzen, Blumen und allerlei Getier. In der Mitte des Raumes stand der riesige Herd, dessen Inneres, nach den vielen Kupfertüren zu schließen, ein wahres Labyrinth von Feuerhöhlen und Bratröhren enthalten mußte; die Platte des Herdes war dicht bestellt mit dampfenden Pfannen und Kesseln, und über offenem Kohlenfeuer wurde an langem Spieß ein Seeferch gebraten, der wohl an die dreißig Pfund wiegen mochte.

Und welch ein emsiges Leben in diesem Dampf und Duft! Rings um den Herd und um die Zurichttische standen und gingen die Küchenbrüder, mit nackten Armen, mit blauen Schürzen über den Kutten, jeder betraut mit einem hochwichtigen Amt. Hier wurden Hechte, Forellen und Saiblinge gereinigt, dort walkte einer mit derben Fäusten an einer ellenlangen Teigstulle, hier wurden Zwiebeln geschnitten und Zitronenschalen gewürfelt, hier schlug einer mit langer Birkenrute einen ganzen See von Eiweiß zu schneeigem Schaum, dort wurde Mehl abgewogen und Gewürz sortiert, und zwischen den Brüdern tummelten sich die Laufbuben, Holz tragend, das Feuer schürend, die gebrauchten Kessel scheuernd und das zinnerne Geschirr spülend. Hohe Stöße von Tellern wurden durch einen Schalter hinausgeschoben, durch den man das weite Refektorium mit seinen blütenweiß gedeckten Tischen gewahrte. Und in diesem Klappern, Klirren, Zischen und Brodeln ein ununterbrochenes Rufen, Plaudern und Lachen. Und alle Gesichter rotbrennend vor Hitze.

Die Fäuste in die Hüften gestemmt, mit gebieterischer Ruhe, wie ein Feldherr, schritt Frater Friedrich, der Küchenmeister, auf und nieder, alles überblickend, alles überwachend. Breit lag ihm das Doppelkinn auf der Brust, die kleinen Augen versanken fast in den Fettpolstern der Backen, und bei seinem Umfang mochten fünfzehn Ellen Tuch nicht ausreichen für die Kutte. Ja, das Fasten! Das Fasten!

Als Haymo die Küche betrat, weckte sein Erscheinen einen lauten Aufruhr. „Der Jäger! Der Jäger!“ rief es auf allen Seiten, die Brüder kamen auf ihn zu, die Laufbuben ließen fallen, was sie in den Händen hatten, und rannten ihm entgegen. Mit glotzender Neugier umstanden sie ihn; der eine griff nach Haymos Weidmesser, der andere streichelte die Armbrust, der dritte griff in den Köcher und prüfte die Schärfe einer Bolzenspitze am Finger. Und so viele Fragen gab es auf einmal, daß der Jäger sie in einer Stunde nicht hätte beantworten können. Haymo wurde verlegen, ihm war zumut wie der Wildtaube im Hühnersteig. Da kam der Frater Küchenmeister – herbeigegangen? – nein, herbeigerollt wie eine Tonne. „So? Bist du da? Hast du deine Seel gestärkt? Brav, mein Sohn, brav! Das ist Christenpflicht. Jetzt aber komm und stärke deinen Leib!“

Er nahm den Jäger unter den Arm und führte ihn in eine kleine Stube, die neben der Küche lag und halb einer Mönchszelle, halb einer Speisekammer glich. Im Erker war säuberlich ein kleiner Tisch gedeckt, und neben dem Zinnteller stand eine Holzbitsche, bis zum Rande gefüllt mit schäumender ‚Güte Gottes‘.

Die beiden setzten sich, und ein Laufbube trug auf; Schüssel um Schüssel kam, und Haymo machte immer größere Augen. Er hatte noch nie im Leben so herrenmäßig – nein, das will zu wenig sagen – so klosterwürdig getafelt! Der Frater Küchenmeister schien den schmucken Jäger ins Herz geschlossen zu haben; er hatte die Arme breit über den Tisch gelegt und schaute dem Schmausenden mit zufriedenem Lächeln zu.

Da gab es zuerst eine Erbsensuppe mit gerösteten Schnitten, dann kamen Pastetchen, mit Forellenbacken gefüllt; es folgte ein gesottener Hecht, der sich, wie der Frater scherzte, aus Freude darüber, daß er gar so schön blau geraten, in den eigenen Schwanz biß; er trug zwei grüne Rosmarinzweiglein in den Nasenlöchern und hatte absonderliche Augen: aus gelber Zitronenschale geschnitten und in der Mitte ein Pfefferkorn; und rings um den Rand des Tellers lag ein Kranz von Zwiebelscheiben, darin der geputzte Fisch so prächtig anzusehen war, daß Haymo erst nach langem Zureden das Herz hatte, diese Pracht zu zerstören. Dann folgten gedünstete Froschschenkel in köstlicher Tunke mit gebackenen Krapfen. Und nun kam ein richtiger Braten. Ein Braten am Fasttag? Haymo blickte verlegen auf den Frater. „Darf ich denn das essen?“

Der Küchenmeister tätschelte die Hand des Jägers. „Iß nur, Bub! Glaubst du denn, ich möcht deine frischgescheuerte Seel mit einer Sünd beflecken? Iß nur! Das ist Fastenspeis, wie Fisch und Frosch!“

Zögernd kostete Haymo; aber gleich wieder legte er die Gabel nieder und schob den Teller kopfschüttelnd von sich. „Nein, Herr, das ist Fleisch!“

„Freilich Fleisch,“ lachte der Frater, „aber Fleisch von einem Biber!“

„Biber? Das ist doch ein Tier mit Haar und Füßen?“

„Frißt aber Fische! Verstehst du? Das ist Philosophie der Klosterküche: Biber, Otter und Wildente, ob Pelz oder Federn, was Fische frißt, wird wieder als Fisch gegessen. Und ganz mit Recht! Denn die Nahrung macht das Wachstum und bildet aus ihrem Stoff den Körper. Somit verzehrst du in diesem Braten kein richtig Fleisch, sondern ein Teilchen von jedem Hecht und Karpfen, von jeder Grundel und Schleie, die der Biber schmauste.“

„So?“ lächelte Haymo. „Dann aber, Frater Küchenmeister, wundert mich eines.“

„Was, mein Junge?“

„Daß Ihr am Fasttag nit auch eine Hirschkeule auf die Tafel setzt.“

In Entsetzen klatschte der Frater die Hände zusammen. „Haymo! Du gottverlorener Mensch!“

„Warum? Die Hirsche äsen Gras und Kräuter. Also muß ihr Fleisch ein Gemüse sein, wie Kohl und Rüben. Und das ist doch Fastenspeis.“

Der Küchenmeister machte ein verdutztes Gesicht; dann schlug er lachend die Hand auf den Tisch. „Schade, schade, Haymo, daß du kein Klerikus geworden! In dir steckt ein Kirchenlicht. Und das soll nit umsonst geleuchtet haben! Im nächsten Kapitel mache ich den Vorschlag, daß man alles Wildbret als Fastenspeis erklären soll.“ Nachdenklich schwieg er und schüttelte den Kopf. „Nein! Ich tu’s doch lieber nit. Am Ende drehen sie den Spieß um und sagen: wie der Hirschbraten kein Gemüse ist, so ist der Biberschwanz kein Fisch, obgleich er Schuppen hat. Und Biberschwanz ess’ ich für mein Leben gern. Gib her ein Bröckl!“ Und aus dem ‚Bröckl‘ wurde mit Kosten und Kosten der halbe Braten. „Gelt, du? Das rutscht wie Butter.“

„Ja, Frater, ein feiner Braten! Der kommt wohl von weither?“

3.Schwächlich, unscheinbar.
4.Lawinen.