Buch lesen: «Gabriele Reuter – Gesammelte Werke», Seite 17

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X.

On­kel Gu­stav war ge­stor­ben. Mama hat­te ihn heu­te Mor­gen tot im Bett ge­fun­den – fast in der­sel­ben Stel­lung, in der sie ihn am Abend zum Schlaf zu­recht­ge­legt hat­te. Er war sehr lei­dend ge­we­sen in der letz­ten Zeit, aber der Arzt ver­si­cher­te stets, er kön­ne bei der gu­ten Pfle­ge noch Mo­na­te, ja noch Jah­re le­ben. Mama und Aga­the sa­ßen still zu­sam­men und floch­ten an ei­ner Guir­lan­de. Frau Heid­ling reich­te ih­rer Toch­ter klei­ne Sträu­ße von Grün und Blu­men, aber sie mach­te es oft ganz ver­kehrt. Bei­de sa­hen müde und ab­ge­zehrt aus – be­son­ders Mama konn­te sich kaum noch auf­recht hal­ten. Ihre Kräf­te wa­ren durch die An­for­de­run­gen des Kran­ken bis auf den letz­ten Rest ver­zehrt.

Was sie und Aga­the sich auch aus­dach­ten an gu­ten stär­ken­den Bis­sen – nichts hat­te ihm ge­schmeckt. Ver­drieß­lich schob er den Tel­ler zu­rück und er­zähl­te von die­sem oder je­nem Ho­tel­koch, der ge­ra­de das eine Ge­richt so wun­der­bar schön zu be­rei­ten ver­stand. Be­stän­dig woll­te er un­ter­hal­ten sein und un­ter­brach doch meis­tens die Be­mü­hun­gen sei­ner Nich­te mit der trüb­se­li­gen Be­mer­kung: »Ach, Kind – das in­ter­es­siert mich ja gar nicht!« Für nichts auf der Welt emp­fand er Teil­nah­me. Es war fast noch ein Glück zu nen­nen, dass die Pfle­ge sei­nes Kör­pers vie­le Stun­den des Ta­ges aus­füll­te, denn sau­ber und ap­pe­tit­lich blieb »die Kirsch­blü­te«, wie On­kel Gu­stav bei Aga­thes Freun­din­nen ge­nannt wur­de – bis zu­letzt. Frei­lich sank die arme Mama, die dem al­ten, schwa­chen Herrn al­lein bei der Toi­let­te hel­fen durf­te, im­mer halb ohn­mäch­tig vor Er­mat­tung hin­ter­her aufs Sofa.

Nun war der große Lehn­stuhl am Fens­ter, in dem On­kel Gu­stav, mit ei­nem lan­gen, grau­en Schlaf­rock be­klei­det, ein hal­b­es Jahr hin­durch ge­ses­sen, leer ge­wor­den. Auf dem Tisch lag sei­ne hüb­sche blon­de Per­rücke, ohne die er sich der Nich­te nie­mals ge­zeigt hat­te.

Die An­ge­hö­ri­gen spra­chen weh­mü­tig über das Le­ben, das so still zer­ron­nen. Frau Heid­ling er­zähl­te von der strah­len­den Ju­gend­blü­te ih­res Schwa­gers. Zu der Zeit habe man ge­meint, es kön­ne ihm an Er­folg nicht feh­len. Je­der habe ihm eine rei­che Hei­rat pro­phe­zeit.

Der Re­gie­rungs­rat ging ernst im Zim­mer auf und nie­der.

»Das war sein Un­glück«, be­merk­te er, ste­hen blei­bend. »Gu­stav stell­te sei­ne Hoff­nung und sei­ne Plä­ne auf die Frau­en, statt auf sich selbst. Da­bei konn­te na­tür­lich nur ein ver­fehl­tes, tö­rich­tes Le­ben her­aus­kom­men. Man soll von den To­ten ja nichts Übles re­den – aber was hat die mensch­li­che Ge­sell­schaft, was er selbst von sei­ner Exis­tenz ge­habt? – Kei­ne Pf­lich­ten – kein Be­ruf – kein Stre­ben nach ei­ge­ner Ver­voll­komm­nung … Nur im­mer die Frau­en – die Frau­en! Schließ­lich ha­ben die Frau­en ihn auch nur ge­narrt!«

Der Re­gie­rungs­rat schwieg – vor Aga­the durf­te man den fer­ne­ren Ge­dan­ken­gang nicht gut laut wer­den las­sen.

Aga­the nahm ihre Guir­lan­de und trug sie hin­über in das Ster­be­zim­mer, wo der gute On­kel im Sar­ge lag. Mit lei­sen, vor­sich­ti­gen Be­we­gun­gen schlang sie das Grün um sein wei­ßes Kis­sen. Wie er zu­sam­men­ge­fal­len war, nun man ihm auch die falschen Zäh­ne her­aus­ge­nom­men hat­te. Ein sehr al­ter Mann – und doch hat­te er noch nicht die Sech­zig er­reicht.

Nie­mand gräm­te sich über sei­nen Tod – auf der wei­ten Welt nie­mand – die Frau­en hat­ten ihn nur ge­narrt.

Wer wird sich ein­mal um sie grä­men? Nie­mand – auf der wei­ten Welt nie­mand. Die Lie­be hat­te sie auch nur ge­narrt.

*

Bei On­kel Gu­stavs Be­gräb­nis hol­te Mama sich eine Er­käl­tung, und nun brach sie vollends zu­sam­men.

Das war eine an­de­re Pfle­ge, als die von On­kel Gu­stav. Schlaflo­se Näch­te – wo­chen­lang in tät­li­cher Auf­re­gung, ein zit­tern­des Ban­gen und Er­war­ten … O Gott – o mein Gott – muss­te sie von hin­nen?

Aga­the ver­zwei­fel­te fast bei der Vor­stel­lung.

Nein – dann war das Le­ben län­ger nicht zu er­tra­gen – dann mach­te auch sie ein Ende! Si­cher­lich! Papa konn­te zu Eu­ge­nie und Wal­ter ge­hen.

»O Herr­gott – o barm­her­zi­ger Hei­land – stra­fe mich nicht um mei­nes Un­glau­bens wil­len! Lass mir doch mein lie­bes Müt­ter­chen noch! Ich habe ja wei­ter nichts – wei­ter nichts!«

Sie woll­te auch, gar kein Ver­ständ­nis, kei­ne geis­ti­ge Ge­mein­schaft – nur das biss­chen Lie­be und Zärt­lich­keit nicht ver­lie­ren.

Der glei­che Kampf, Tag und Nacht Aga­the war es oft, als rin­ge sie Kör­per an Kör­per mit dem Tode und als müs­se sie sie­gen, wenn sie alle Kräf­te bis aufs äu­ßers­te an­spann­te – kei­ne Se­kun­de nachließ – im­mer­fort auf der Wacht blieb …

»Wie Aga­the das aus­hält, ist mir un­be­greif­lich«, sag­te Eu­ge­nie. »Ich hät­te dem Mäd­chen so viel Stär­ke gar nicht zu­ge­traut.«

»In der Not sieht man erst, was in dem Men­schen steckt«, be­merk­te Wal­ter ach­tungs­voll.

Sie soll­te eine Dia­ko­nis­sin zur Hil­fe neh­men.

Ja – schon gut! Aber was wuss­te die Kran­ken­schwes­ter von dem heim­li­chen Kampf? Wür­de sie mit­ten in der To­des­angst sich das Hirn zer­mar­tern, wel­che Lis­ten nun an­ge­wen­det wer­den muss­ten, um das Furcht­ba­re zu ver­trei­ben, das da un­sicht­bar und war­tend im Zim­mer stand – dicht ne­ben Aga­the – sie fühl­te es – sie roch es – sie spür­te sei­ne Ge­gen­wart un­greif­bar in ih­rer Nähe – ent­setz­te sich mit kal­ten Schau­ern, die durchs in­ners­te Mark dran­gen … Und doch fand sie da­bei ein lie­bes und trös­ten­des Wort für die Kran­ke.

Nein – das wür­de die frem­de Pfle­ge­rin nicht tun – das konn­te sie ein­fach nicht. Sie wuss­te ja doch nicht, was da­von ab­hing, dass die alte, müde, trau­ri­ge Frau nicht starb! Und dar­um half ihre Ge­gen­wart Aga­the auch nichts. Al­lein muss­te es durch­ge­schafft wer­den.

In der letz­ten Zeit be­te­te Aga­the nicht mehr. Ihr Herz war ge­fühl­los ge­wor­den, wie in al­len Kri­sen ih­res Le­bens, sie glaub­te auch nicht, dass sie ihre Mut­ter wie­der­se­hen wer­de. Sie ver­moch­te sich das ge­dul­di­ge Ant­litz, den al­ten, schmer­zens­vol­len Leib, wel­chen sie mit tau­send Zärt­lich­kei­ten pfleg­te, nicht in ver­klär­ter Ge­stalt zu den­ken. Das wür­de ja doch nicht ihre Mut­ter mehr sein.

Die Kran­ke sprach oft vom Him­mel und von ih­ren ge­stor­be­nen Kin­der­chen, die sie dort er­war­te­ten. Dann nah­men ihre Au­gen einen so sehn­süch­ti­gen Aus­druck an, dass man ah­nen konn­te, wie viel von ih­rem Her­zens­le­ben die Frau mit ih­nen ins Grab ge­legt hat­te. Sie war mit dem le­ben­den Sohn und der Toch­ter nicht ge­wach­sen – sie war im­mer die Mut­ter der klei­nen Kin­der ge­blie­ben. In lich­ten, schmerz­frei­en Au­gen­bli­cken er­zähl­te sie Aga­the Ge­schicht­chen aus de­ren Säug­lings­al­ter und flüs­ter­te ihr die Ko­sen­a­men zu, in de­nen sie einst mit dem un­be­wuss­ten, zap­peln­den klei­nen Tier­chen auf ih­rem Scho­ße ge­spielt hat­te.

Un­zäh­li­ge Male muss­te Aga­the ihr ver­spre­chen, für den Papa zu sor­gen, dass er al­les ge­nau so be­käme, wie er es ge­wohnt sei, im­mer bei ihm zu blei­ben, ihn zu pfle­gen und lieb zu ha­ben. Und Aga­the ver­sprach al­les – wie soll­te sie auch nicht? Sie war ja nun mit ih­rem Va­ter ver­ei­nigt in ei­nem Kum­mer.

Als Mama ge­stor­ben war, klam­mer­ten sie sich an­ein­an­der und wein­ten zu­sam­men, we­nigs­tens in den ers­ten Stun­den nach ih­rem Tode. Spä­ter fand Papa sei­ne ru­hi­ge, wür­di­ge Hal­tung wie­der, und Aga­the ver­barg ihre Trä­nen, um ihn nicht noch mehr zu be­trü­ben.

Ihr gan­zes täg­li­ches Da­sein, ihre ge­rings­ten Hand­lun­gen wa­ren nun gleich­sam über­schat­tet von dem An­den­ken der To­ten. Un­sicht­ba­re Geis­ter­hän­de re­gier­ten im Hau­se und lei­te­ten nach wie vor al­les dem Wil­len und den Ei­gen­tüm­lich­kei­ten der Da­hin­ge­schie­de­nen ge­mäß.

Wie zu ih­ren Leb­zei­ten bürs­te­te Aga­the je­den Abend den Tep­pich im Wohn­zim­mer ab und roll­te ihn zu­sam­men, und jetzt fie­len Trä­nen der Sehn­sucht nach der Ver­gan­gen­heit dar­aus nie­der.

Sie hät­te nun den Haus­halt füh­ren kön­nen, wie sie woll­te. Aber sie fand kei­ne Freu­de mehr an die­sem Ge­dan­ken. Sie lei­te­te ihn auch nicht für sich, son­dern be­trach­te­te ihn als ein ehr­wür­di­ges Ver­mächt­nis der To­ten. Die Verant­wor­tung, wel­che sie über­nom­men hat­te, pei­nig­te sie, und sie hetz­te sich ab in ei­ner fie­ber­haf­ten Tä­tig­keit, da­mit nie­mand ihr vor­wer­fen kön­ne, sie zei­ge sich ih­rer hei­li­gen Auf­ga­be nicht ge­wach­sen.

XI.

Aga­the stieg auf den Bo­den. Sie hat­te be­gon­nen, eine In­ven­tur all der Din­ge auf­zu­neh­men, die nun ih­rer Ob­hut un­ter­stellt wa­ren. Zu dem Zweck soll­ten auch die Kis­ten und Kas­ten dort oben un­ter­sucht wer­den. Bei die­ser Ge­le­gen­heit bat Eu­ge­nie, die im Win­ter das von Wal­ter lan­ger­sehn­te Töch­ter­chen zu den zwei Jun­gen be­kom­men hat­te, ihr von den klei­nen Kin­der­sa­chen zu ge­ben, die Mama noch im­mer auf­be­wahr­te. Mama war so ei­gen­sin­nig ge­we­sen in der Be­zie­hung – sie gab nicht ein Stück­chen her­aus. Aber Aga­the nütz­ten die Sa­chen ja doch nichts mehr.

In­dem Aga­the die letz­te stei­le Trep­pe er­klomm, fühl­te sie plötz­lich, das­sel­be Lei­den, von dem ihre Mut­ter lan­ge Jah­re hin­durch heim­ge­sucht war; thaler­große Stel­len an ih­rem Kör­per, in de­nen ein Schmerz tob­te, als habe ein wü­ten­des Tier sich dort mit sei­nen Zäh­nen fest­ge­bis­sen.

Ihre Mut­ter wuss­te, warum sie die­se Qua­len litt. Sie – die zar­te Frau – hat­te sechs Kin­der ge­bo­ren, und vier von ih­nen hat­te sie ster­ben se­hen müs­sen. Da war es ja ver­ständ­lich, dass ihre Kräf­te er­schöpft wa­ren und die miss­han­del­te Na­tur sich, räch­te. In ge­wis­ser Wei­se war Mama im­mer stolz auf ihr Lei­den ge­we­sen. Sie trug es wie einen Teil ih­res Le­bens, als die Dor­nen­kro­ne des Wei­bes – ihr von Ewig­keit her vor­be­stimmt.

Wie kam Aga­the als jun­ges Mäd­chen, das ge­schont und ge­hü­tet war und nie­mals für das Men­schen­ge­schlecht auch nur das Ge­rings­te ge­leis­tet hat­te, zu die­sem schreck­li­chen Erbe? Das war ja ge­ra­de­zu un­na­tür­lich, war wie ein bos­haf­ter Hohn des Schick­sals! Der Gram um ihre Mut­ter?

War es nicht auch un­na­tür­lich, wenn sie der Tod ei­ner mü­den, al­ten Frau, die ihre Auf­ga­be er­füllt hat­te, mit ei­ner so maß­lo­sen Verzweif­lung er­griff, dass sie in je­dem Au­gen­blick des Al­lein­seins wein­te und wein­te und sich nicht zu fas­sen ver­moch­te?

So ging es nicht wei­ter! – Sie rich­te­te sich ja zu Grun­de!

Sie sah es ja – sie fühl­te es!

Und sie fass­te plötz­lich den Ent­schluss, alle die Schmer­zen des Lei­bes und der See­le durch die Kraft ih­res Wil­lens zu be­zwin­gen. Sie sam­mel­te alle Ener­gie in sich und sta­chel­te sie zum Kampf, rich­te­te sie auf ein Ziel. –

Sie be­gann zu lä­cheln und sich selbst ein­zu­bil­den, nichts tue ihr weh. Sie raff­te sich auf und ging mit leich­ten, elas­ti­schen Schrit­ten, wie ein glück­li­cher, von Ta­ten­lust über­strö­men­der Mensch an ihre Ar­beit.

War­me, dump­fe Luft er­füll­te die Bo­den­kam­mer. Aga­the stieß eine Dach­lu­ke auf. Ein Strom von Son­nen­licht schoss her­ein und ver­brei­te­te sich un­ter dem Bal­ken­ge­wirr, zwi­schen all den ver­staub­ten Ge­gen­stän­den, die im Lau­fe der Jah­re hier her­auf­ge­wan­dert wa­ren. Sie blick­te durch das klei­ne Fens­ter­chen. Die Schie­fer­dä­cher der Stadt um­gab ein leich­ter, bläu­lich-gol­de­ner Duft – von Fer­ne leuch­te­te die grü­ne Ebe­ne des frei­en Lan­des mit ih­ren gel­ben Raps­fel­dern und den Blü­ten­bäu­men an den Chaus­seen freund­lich her­über.

Aga­the be­gann vor sich hin­zu­sum­men:

Es blüht das ferns­te, tiefs­te Tal –

Nun, ar­mes Herz, ver­giss die Qual,

Es muss sich al­les, al­les wen­den …

Da­bei zog sie eine Kis­te her­vor, schloss auf und knie­te da­vor nie­der. Oben­auf la­gen ihre Pup­pen. Als sie die ver­bli­che­nen, zer­zaus­ten Wachs­köpf­chen wie­der­sah, wur­de sie mit ei­ner ge­walt­sa­men Deut­lich­keit in je­nen Tag zu­rück­ver­setzt, an dem sie sie ein­ge­packt hat­te.

War es auch eine an­de­re Bo­den­kam­mer, der Son­nen­strahl tanz­te eben­so lus­tig in dem grau­en Staub­wust um­her, und nie­mand hat­te seit­dem die Kis­te ge­öff­net. Un­ter der ro­sen­ro­ten De­cke fand sie, zer­knit­tert und ver­drückt, wie sie es in der glück­se­li­gen Auf­re­gung ih­rer sieb­zehn Jah­re ei­lig hin­ein­ge­steckt hat­te, das fei­ne, spit­zen­be­setz­te Hemd­chen.

Sie woll­te tap­fer sein – sie woll­te kei­ne Trä­ne wei­nen … Und er­blei­chend in der An­stren­gung, die es sie kos­te­te, pack­te sie has­tig alle die hüb­schen klei­nen Din­ge in ihre Schür­ze, um sie Eu­ge­nie zu brin­gen, wäh­rend sie ganz sinn­los noch im­mer vor sich hin­summ­te:

Es blüht das ferns­te, tiefs­te Tal –

Nun, ar­mes Herz, ver­giss die Qual,

Es muss sich al­les, al­les wen­den …

Als sie sich auf­rich­te­te, stieß sie an eine an­de­re klei­ne Kis­te. Es klirr­te dar­in wie Glas­scher­ben. Sie war an­ge­füllt mit lee­ren Fläsch­chen, alle von der glei­chen Grö­ße. Da­zwi­schen la­gen Bün­del be­staub­ter Eti­quet­ten. Aga­the nahm eine Hand­voll her­aus – sie tru­gen alle die glei­che In­schrift:

Heid­lings Ju­gend­born. –

Das war al­les, was von On­kel Gu­stav auf Er­den ge­blie­ben war.

Aga­the biss die Zäh­ne in die Lip­pe. Nur nicht die lee­ren Hül­sen ge­schei­ter­ter Hoff­nun­gen so hin­ter sich zu­rück­las­sen!

Nur tap­fer sein, zu rech­ter Zeit einen Ab­schluss ma­chen!

Im Ess­zim­mer war­te­te Eu­ge­nie.

Als sie an­fing, die lie­ben Sä­chel­chen ge­gen das Licht zu hal­ten, schad­haf­te Stel­len mit dem Na­gel zu prü­fen, und ihr vie­les nicht mehr gut ge­nug war, als sie weg­wer­fend be­merk­te: »Müt­zen trägt jetzt kein Kind mehr, die kannst Du Dir pie­tät­voll ein­bal­sa­mie­ren«, hät­te Aga­the sie ins Ge­sicht schla­gen mö­gen. Aber die­se dump­fe Wut war tö­richt – sie muss­te auch über­wun­den wer­den.

Aga­the leg­te ihr freund­lich bei­sei­te, was sie ge­wählt hat­te. Die Schwä­ge­rin­nen küss­ten ein­an­der, und Frau Heid­ling ju­nior ent­fern­te sich in ih­rer ele­gan­ten Trau­er­toi­let­te mit dem Krepp­schlei­er, der ihr lang und fei­er­lich über den schlan­ken, ge­schmei­di­gen Rücken wall­te. Sie wür­de den Bur­schen schi­cken, um den Korb zu ho­len.

Nun noch das Spiel­zeug. Cou­si­ne Mimi Bär war vor­ste­hen­de Schwes­ter der Kin­der­sta­ti­on im Kran­ken­hau­se, die konn­te der­glei­chen im­mer brau­chen. Mimi war er­freut, als Aga­the an­kam, und for­der­te sie auf, ihre Ga­ben selbst un­ter die Klei­nen zu ver­tei­len. Wenn’s nun auch nicht die ei­ge­nen sein konn­ten – es kam doch so je­den­falls Kin­dern zu gute. In dem großen, ge­weiß­ten Saal sa­ßen oder la­gen sie rei­hen­wei­se in ih­ren ei­ser­nen Git­ter­bett­chen, arm­se­li­ge Ge­schöp­fe, man­che mit Ga­ze­ver­bän­den um die klei­nen Köp­fe, von Skro­pheln und Aus­schlag ent­stellt oder von Fie­ber ver­zehrt, mit ge­reif­tem, lei­den­dem Aus­druck in den blas­sen Ge­sicht­chen. Aber al­les war hell und sau­ber, die Bett­chen so schne­eig – es mach­te doch einen trau­li­chen Ein­druck. Als Schwes­ter Mimi ein­trat, wen­de­ten sich alle die Köpf­chen ihr zu. Un­ge­dul­di­ge Stimm­chen rie­fen ih­ren Na­men. Sie ging von Rei­he zu Rei­he, mit ei­nem be­hag­li­chen Froh­sinn aus ih­ren großen Zü­gen un­ter der steif­ge­stärk­ten Hau­be. Sie scherz­te hier, straf­te lus­tig dort – Aga­the be­nei­de­te sie als fried­li­che Herr­sche­rin hier in die­sem Reich der Krank­heit und des To­des.

Sich über­win­den – glück­lich sein mit an­de­ren – bis zur Selbst­ver­ges­sen­heit – bis zur Selbst­ver­nich­tung – das ist das Ein­zi­ge – das Wah­re!

Und sie ver­teil­te alle ihre lie­ben An­den­ken un­ter die ar­men, ge­plag­ten Kin­der des Vol­kes, sie spaß­te und spiel­te mit ih­nen. Da war ein klei­nes Mäd­chen – häss­lich wie ein brau­nes Äff­chen, aber vol­ler Le­ben­dig­keit, wie das die arme ver­blass­te Prin­zes­sin Hol­de­wi­na in ih­rem Bett­chen Pur­zel­bäu­me schla­gen ließ – nein, das war zu ko­misch! Aga­the ver­fiel in ein lau­tes La­chen – sie lach­te und lach­te …

»Aber Aga­the, rege mei­ne Kin­der nicht auf«, mahn­te die ru­hi­ge Mimi. Aga­the woll­te sich zu­sam­men­neh­men – die Trä­nen quol­len ihr aus den Au­gen – das La­chen tat ihr weh, es schüt­tel­te sie wie ein Krampf – die Klei­nen blick­ten furcht­sam nach ihr, die Töne, die sie aus­stieß, wa­ren fern von Fröh­lich­keit.

Mimi nahm sie am Arm und trug sie fast hin­aus. Sie öff­ne­te ein Fens­ter und pfleg­te Aga­the sorg­sam und mit Be­dacht, bis die­se sich end­lich be­ru­hig­te und zu Tode er­schöpft auf Mi­mis La­ger ruh­te.

»Ar­mes Kind«, sag­te Mimi mit ih­rer über­le­ge­nen Güte, »Du musst et­was für Dich tun. Du bist sehr über­reizt.«

XII.

Der Re­gie­rungs­rat Heid­ling hör­te von al­len Sei­ten, dass sei­ne Toch­ter sich durch­aus eine Er­ho­lung gön­nen müs­se. Er selbst hat­te nichts der­glei­chen be­merkt, sie war ja doch nicht krank und tat ihre Pf­licht. Aber da der Haus­arzt es auch mein­te, so soll­te na­tür­lich et­was ge­sche­hen. Ihm wür­de ein we­nig Zer­streu­ung auch wohl­tä­tig sein. Er ver­miss­te sei­ne arme Frau mit je­dem Tage mehr. Aga­the gab sich ja alle Mühe – aber die Frau konn­te ihm so ein jun­ges Mäd­chen ja doch nicht er­set­zen. Sei­ne Ge­wohn­hei­ten wa­ren trost­los ge­stört.

So reis­te er denn mit Aga­the nach der Schweiz.

Auf dem Wege be­such­ten sie Wo­szens­kis für ein paar Stun­den. Sie la­gen noch, im­mer in har­tem Kampf mit der Tücke, der Häss­lich­keit und Dumm­heit ih­rer le­ben­den und to­ten Um­ge­bung. Noch im­mer hin­der­ten bos­haf­te, mit selt­sa­men Ge­bre­chen des Lei­bes und Geis­tes Be­haf­te­te Kö­chin­nen Frau von Wo­szen­ski am Ar­bei­ten. Noch im­mer wur­den auf dem Kunst­markt la­chen­de Ne­ger und gut fri­sier­te Jä­ger mehr be­gehrt als nacken­de Anacho­re­ten und ek­sta­ti­sche Non­nen. Noch im­mer war es ein Lei­den, dass Mi­chel nichts es­sen moch­te. Der Blöd­sinn sei­ner frü­he­ren Gym­na­si­al­leh­rer wur­de aber noch über­trof­fen von dem Stumpf­sinn der Aka­de­mie­pro­fes­so­ren, un­ter de­nen er jetzt stu­dier­te. Noch im­mer hat­te Herr von Wo­szen­ski die ba­rocks­ten Plä­ne und Ein­fäl­le, und noch im­mer fehlt es ihm an Stim­mung zu ih­rer Aus­füh­rung.

Sein lan­ger Bart und das wir­re Haar wa­ren er­graut, die Ad­ler­na­se trat noch schär­fer her­vor, die blau­en Au­gen sa­hen aus tie­fen Höh­len schwer­mü­tig in die när­ri­sche Welt. Mehr als je glich er sei­nen von wun­der­li­chen Vi­sio­nen heim­ge­such­ten Anacho­re­ten.

Als Aga­the auf dem mit ei­nem ver­schos­se­nen per­si­schen Tep­pich be­deck­ten Di­van saß, ihre Bli­cke über die bunt­be­mal­ten, stei­fen Kir­chen­hei­li­gen, die dunklen Ra­die­run­gen an den Wän­den und die gel­ben Ein­bän­de fran­zö­si­scher Ro­ma­ne auf den ge­schnitz­ten Stüh­len glit­ten, als sie den schar­fen des Ter­pen­tin und der ägyp­ti­schen Zi­ga­ret­ten in der Woh­nung spür­te, war es ihr zu Mut, als keh­re sie aus ei­ner sehr lan­gen, öden und ge­halt­lo­sen Ver­ban­nungs­zeit in ihre Hei­mat zu­rück.

Aber es war Tor­heit, sich dem hin­zu­ge­ben. Sie muss­te noch an dem­sel­ben Abend wie­der Ab­schied neh­men. Und sie konn­te so tie­fe Emp­fin­dun­gen, wie sie sie einst in die­sem Hau­se durch­lebt, jetzt kaum noch in der Erin­ne­rung ver­tra­gen.

Sie hör­te, dass Adri­an Lutz sich ver­hei­ra­tet habe mit ih­rer al­ten Pen­si­ons­ge­fähr­tin Klo­til­de, der Toch­ter des Ber­li­ner Schrift­stel­lers. Die Ehe war nicht glück­lich, – man sprach be­reits von Schei­dung. In Aga­the reg­te sich Ver­ach­tung und Wi­der­wil­len der wohl­er­zo­ge­nen Bür­ger­s­toch­ter ge­gen das Un­si­che­re, Schwei­fen­de sol­cher Künst­ler­exis­ten­zen. Eine ge­schie­de­ne Frau – hät­te es so ge­en­det, wenn sie die Sei­ne ge­wor­den wäre?

Als Ma­ler habe Lutz bei wei­tem nicht er­reicht, was er einst ver­spro­chen. Sei­ne Schü­le­rin, Fräu­lein von Hen­ning, habe ihn förm­lich über­holt. »Das heißt – von Geist und Gra­zie hat die Per­son ja kei­nen Schim­mer«, sag­te Frau von Wo­szen­ski. »Aber die Ener­gie! Da­mit macht sie mehr, als hät­te sie Ta­lent! Stellt in Pa­ris im Sa­lon aus …«

»Nun, Ta­lent hat sie doch auch«, mein­te Wo­szen­ski gü­tig.

»Ach, mein Mann nimm­t’s mit den Da­men nicht so ge­nau«, rief Ma­rie­chen und lach­te scharf und laut.

Aga­the be­merk­te wohl, dass ih­rem Va­ter die Art von Wo­szens­kis nicht sym­pa­thisch war. Wie soll­te sie auch.

Sie frag­te, was aus dem Bil­de ge­wor­den sei, an dem Herr von Wo­szen­ski da­mals ar­bei­te­te – die Ek­sta­se der No­vi­ze. Ob er es ver­kauft habe.

»Ach, ver­kauft! Ich ar­bei­te noch dar­an.«

Er blick­te über die Bril­le nach­denk­lich auf Aga­the.

»Wa­rum habe ich Sie nur da­mals nicht als Mo­dell ge­nom­men?«

Er brach­te eine Far­benskiz­ze zu dem neu­en Ent­wurf. Es war im Lau­fe der Zeit ein völ­lig an­de­res Bild ge­wor­den.

Statt des himm­li­schen Son­nen­sturm­win­des, der die üp­pi­ge rot und gol­de­ne Pracht des Hochal­tars wir­belnd be­weg­te und in dem Tau­sen­de von En­gels­köp­fen die nie­der­ge­sun­ke­ne Got­tes­braut se­lig-toll um­flat­ter­ten, glitt nun ein lei­chen­haf­tes, blau­es Mond­licht durch den Säu­len­gang ei­nes Klos­ters. In dem stil­len Geis­ter­schein schweb­te ein blei­ches Kind mit ei­ner Dor­nen­kro­ne zu ihr her­nie­der. Die Non­ne war nicht mehr das ro­si­ge Ge­schöpf, wel­ches den klei­nen Er­lö­ser in ih­ren Ar­men emp­fing und mit un­schul­dig strah­len­dem Lä­cheln an ihr Herz drück­te. Im Starr­krampf lag sie am Bo­den, die Arme steif aus­ge­streckt, als sei sie ans Kreuz ge­schla­gen – die ro­ten Wun­den­ma­le an der blas­sen Stirn und den wäch­ser­nen Hän­den.

»Man ver­sucht eben auf man­cher­lei Wei­se aus­zu­drücken, was man meint«, sag­te Wo­szen­ski lei­se: »Mit den Jah­ren ver­än­dern sich da­bei die Ide­e­en.«

Er seufz­te tief und stell­te die Lein­wand, die Aga­the schwei­gend und lan­ge be­trach­tet hat­te, bei­sei­te.

»Mein Freund Ham­let« nann­te Lutz ein­mal den grüb­le­ri­schen Künst­ler. Und der Tag, an dem sie Lutz zum ers­ten Male ge­se­hen, stand wie­der vor Aga­the. Zwi­schen da­mals und heu­te lag ihr Le­ben. Und nun nichts mehr? Ein lang­sa­mes Er­star­ren in Käl­te und Ent­sa­gung?

Sie blick­te nie­der auf ihre wäch­ser­nen Hän­de, und fast mein­te sie, das blu­ti­ge Stig­ma müs­se dort sicht­bar wer­den …

Was ihr für wun­der­li­che, sinn­lo­se Ge­dan­ken bis­wei­len ka­men …

*

Acht Tage spä­ter saß Aga­the auf der Ve­ran­da ei­ner Schwei­zer-Pen­si­on und sah über Gera­ni­en- und Nel­ken­töp­fe nach den ho­hen Ber­gen. Vom schwin­den­den Abend­licht wur­den sie in braun­vio­let­te Tin­ten ge­taucht und stan­den mit ih­ren ge­wal­ti­gen Li­ni­en ge­gen den süd­lich war­men blau­en Him­mel.

Gott – war das schön! – Auf alle erns­ten, tie­fen Men­schen wirkt die große Na­tur be­ru­hi­gend, er­he­bend, hei­lend. Sol muss­te denn auch Aga­the be­ru­higt, er­ho­ben, ge­heilt wer­den. Es war das letz­te Mit­tel. Es muss­te hel­fen!

War es um­sonst – dann – Ja dann? –

Sie woll­te nicht dar­an den­ken, an die schreck­li­che Angst, die im­mer in ih­rer Nähe lau­er­te, be­reit, über sie her­zu­stür­zen …

Nur die Näch­te …

Durch die lan­ge Zeit des Wa­chens am Kran­ken­la­ger ih­rer Mut­ter hat­te sie das ru­hi­ge Schla­fen ver­lernt. Zwar nach den wei­ten Spa­zier­gän­gen mit Va­ter sank sie, trun­ken von der Ge­birgs­luft, über­mü­det in ihre Kis­sen und ver­lor so­fort das Be­wusst­sein. Doch nach kur­z­em fuhr sie mit jä­hem Schre­cken em­por – es war, als hät­te sie einen Schlag emp­fan­gen. – Et­was Furcht­ba­res war ge­sche­hen …! Sie konn­te sich nicht be­sin­nen, was es ge­we­sen … Der Schweiß rie­sel­te an ihr nie­der, das Herz klopf­te ihr … O Gott, was war es denn nur?

Je­mand war im Zim­mer – dicht in ih­rer Nähe! – Es soll­te ihr et­was Bö­ses ge­sche­hen – sie fühl­te es deut­lich.

Mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen starr­te sie in die Dun­kel­heit.

Sie muss­te sich ge­wal­tig zu­sam­men­neh­men, dass sie nicht laut auf­schrie in Furcht und Grau­en.

Dann re­de­te sie sich Ver­nunft ein. Ihr Va­ter war ja ne­ben­an. Sie horch­te, es drang kein Laut zu ihr. Papa schlief ganz fried­lich.

Die­be …? In dem frem­den Ho­tel. Es konn­te ja sein – es war so­gar wahr­schein­lich.

Wie­der horch­te sie an­ge­strengt.

Aber vo­ri­ge Nacht hat­te sie das­sel­be durch­ge­macht und die vo­ri­ge auch. Ein­bil­dung – al­les war nur Ein­bil­dung.

Kaum leg­te sie sich auf ih­rem La­ger zu­recht – da war es auch schon wie­der … Das Frem­de – Geis­ter­haf­te – Un­be­greif­li­che … Was konn­te es nur sein?

»O Gott, lie­ber, lie­ber Gott, hilf mir doch«, be­te­te sie schau­dernd und kroch mit dem Kopf un­ter die De­cke. »O Gott, lie­ber Gott, lass mich end­lich wie­der ein­schla­fen!«

Aber kein Ge­dan­ke an Schla­fen. Und sie lag und lausch­te auf das har­te Plät­schern des Spring­brun­nens vor ih­rem Fens­ter.

Er hat­te eine Spra­che – aber sie ver­stand sie nicht. Er sang einen Rhyth­mus – sie muss­te ihn doch end­lich her­aus­hö­ren … Ver­ge­bens. Im­mer das glei­che har­te Plät­schern. Wenn es doch ein­mal en­den woll­te – nur für eine Se­kun­de … Es war ihr, als läge sie dort im Brun­nen und das Was­ser plät­scher­te auf ihre Stirn – im­mer­fort – wie weh es tat.

Heut Mit­tag – der Herr ihr ge­gen­über an der Ta­ble d’hôte … Son­der­bar sah er sie an … Wenn er ihr auf ei­nem ein­sa­men Spa­zier­we­ge be­geg­ne­te.

Und der Schif­fer, der sie über­ge­fah­ren, hat­te sie auch mit dem Blick ver­folgt. Er war ei­gent­lich ein schö­ner Kerl …

Mein Gott, mein Gott – was er­griff sie denn?

War sie so tief ge­sun­ken, sich mit ei­nem Schif­fer­knecht zu be­schäf­ti­gen?

Straf­te Gott sie für ihr Ab­fal­len vom Glau­ben, in­dem er sie der Ge­walt des Teu­fels über­ließ? Wenn es nun doch eine Höl­le gab? Ewi­ge Ver­damm­nis – ewi­ge … Ewi­ges Be­wusst­sein sei­ner Qual … Schon fühl­te sie ihre Schre­cken in die­ser Ver­las­sen­heit – die­sem Ekel an sich selbst.

Adri­an … Adri­an Lutz … Ja, den al­lein hat­te sie ge­liebt. O du Ein­zi­ger, Schö­ner – Sü­ßer …

Nein – es war ja gar nicht Adri­an, an den sie eben dach­te – es war Rai­ken­dorf. Und Rai­ken­dorf auch nicht … Mar­tin – Mar­tin Gref­fin­ger! Da­mals in Bor­nau hat­te er sie doch lieb ge­habt! Hät­te sie ihm den Kuss ge­ge­ben, um den er sie bat … Sich dann mit ihm ver­lobt! So vie­le Mäd­chen ver­lo­ben sich mit Schü­lern … Mar­tin hät­te sie mit sich hin­aus­ge­nom­men in sein frem­des, aben­teu­er­li­ches Le­ben … Sie hät­ten für eine große Sa­che ge­kämpft, und sie wä­ren selbst groß und frei und stark da­bei ge­wor­den. O ja – sie hät­te schon eine ganz tüch­ti­ge So­zia­lis­tin ab­ge­ge­ben!

Wie konn­te sie nur von sei­ner war­men, schö­nen jun­gen Lie­be da­mals so un­ge­rührt blei­ben?

Wenn Adri­an sie ver­führt hät­te – wie die Da­niel?

O mein Gott!

Sie rich­te­te sich auf und zün­de­te Licht an. Die end­lo­se Nacht war nicht zu er­tra­gen! Mit blo­ßen Fü­ßen lief sie zum Fens­ter, lehn­te sich hin­aus und at­me­te die fri­sche, düf­te­ge­tränk­te Ber­g­luft.

Wie müde – wie müde …

In der Mor­gen­däm­me­rung schlief sie zu­wei­len noch ein.

Un­glück­li­cher­wei­se hat­te Papa die Lei­den­schaft der frü­hen Aus­flü­ge. So wur­de sie oft nach ei­ner hal­b­en Stun­de schon wie­der ge­weckt. Und sie wag­te ihm nicht zu sa­gen, dass sie schlecht schlief. Es wür­de ihm die Som­mer­fri­sche ver­dor­ben ha­ben.

Der Be­ginn des Ta­ges war ja auch köst­lich. Aber um zehn Uhr be­fand sich das Mäd­chen schon in ei­nem Zu­stand von Ab­span­nung und ner­vö­ser Un­ru­he, der nur durch eine krampf­haf­te An­stren­gung al­ler Selbst­be­herr­schung ver­bor­gen wer­den konn­te.

Es war auch so schwül. Früh brann­te und stach die Son­ne in das wei­te, schat­ten­lo­se, von den ho­hen Fel­sen­ge­bir­gen um­schlos­se­ne Tal. Abends ent­lu­den sich schwe­re Ge­wit­ter. Sie kühl­ten die Luft kaum. Nur ein feuch­ter Dampf quoll von den Mat­ten, aus den Obst­gär­ten, schweb­te über dem wil­den rau­schen­den Berg­was­ser, das den Ort durch­ström­te, und der war­me Dunst senk­te sich er­mat­tend auf die nach Er­qui­ckung schmach­ten­den Men­schen nie­der.

Da­bei ver­ging dem Re­gie­rungs­rat die Lust, wei­te­re Par­ti­en zu un­ter­neh­men. Man saß auf der Ve­ran­da oder un­ter ei­ner Edel­kas­ta­nie des Ho­tel­gärt­chens – Aga­the mit ih­rer Hand­ar­beit, Papa mit ei­ner Zi­gar­re und der Zei­tung – so ziem­lich, wie man da­heim im Har­mo­nie­gar­ten auch ge­ses­sen hat­te.

War das Ge­wit­ter schon ge­gen Mit­tag ein­ge­tre­ten, so schlen­der­te man um die Zeit des Son­nen­un­ter­gan­ges zum See hin­aus.

Sie hat­ten eine Ge­richts­rats­fa­mi­lie mit ei­ner ält­li­chen Toch­ter zum Um­gang ge­fun­den – so blieb man hübsch in dem ge­wohn­ten Ge­lei­se der Un­ter­hal­tung.

Aga­the frag­te sich zu­wei­len, warum sie ei­gent­lich nach der Schweiz ge­reist wa­ren.

Sie sah die Fel­sen­ber­ge an in ih­rer stum­men, ge­wal­ti­gen Grö­ße – sie starr­te in das ei­lig brau­sen­de Ge­wäs­ser – sie be­trach­te­te die Kas­ta­ni­en und Nuss­bäu­me, die thau­fun­keln­den Far­ne – die Gra­na­ten in den Gär­ten – die gan­ze schon süd­lich sie an­mu­ten­de Ve­ge­ta­ti­on – und an alle tat sie die glei­che Fra­ge. Die Fel­sen schwie­gen in stei­ner­ner Ruhe, das Was­ser braus­te hin­ab zum See – die Gra­na­ten blüh­ten, und die Bäu­me reif­ten ihre Früch­te. Sie ga­ben Aga­the kei­ne Ant­wort. Und die auf­dring­li­che Schön­heit, die üp­pi­ge Pracht die­ser Na­tur er­mü­de­te, be­lei­dig­te, em­pör­te sie.

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0+
Umfang:
1381 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783962814076
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