Es war in Berlin

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Es war in Berlin
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Gabriele Beyerlein

Es war in Berlin

Roman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

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Einige historische Erläuterungen

Im Roman erwähnte historische Persönlichkeiten:

Quellen:

DIE BERLIN-TRILOGIE von Gabriele Beyerlein

In Berlin vielleicht von Gabriele Beyerlein

Berlin, Bülowstraße 80 a von Gabriele Beyerlein

EDITION GEGENWIND

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Impressum neobooks

1

Die Spindeln drehten sich in rasender Geschwindigkeit. Der breite Wagen der Spinnmaschine fuhr aus und hielt in der Endposition, während die Spindeln sich weiterdrehten und die Wollfäden immer fester spannen. Dann stoppten die Spindeln, die Fäden wurden niedergedrückt, der Wagen fuhr zurück in die Grundposition, die Spindeln wickelten dabei das Garn auf. Und wieder von vorn. Ohne Unterlass, von dem Transmissionsriemen angetrieben, tat die Maschine unter lautem Geratter ihre Arbeit. Sie wurde nicht müde.

Claras brennende Augen huschten unablässig über Fäden und Spindeln, vor und zurück, nach rechts und nach links. Dreihundert Spindeln hatte sie zu kontrollieren, keinen Wimpernschlag lang durfte sie dieses wirbelnde Spiel aus den Augen lassen. Da, links außen, war ein Faden gerissen. Mit einigen Schritten war sie zur Stelle, folgte dem Wagen in der Spur der Schienen, auf denen er lief. Als er fast eingefahren war, beugte sie sich weit über ihn und erwischte das Ende des zerrissenen Garns, zog es heran. Vor der wieder ausfahrenden Maschine zurückweichend, ergriff sie das Fadenende der entsprechenden Spindel, legte die beiden Teile ein Stück übereinander, nicht zu viel und nicht zu wenig. Sofort wurden sie durch die Drehung der Spindeln verbunden. Sorgfältig hielt sie das Garn beim Aufwinden so, dass sich keine Schlaufen bildeten. Dort in der Mitte war schon wieder ein Faden gerissen, sie musste sich beeilen, ihn zu erhaschen, ehe er sich um den Nachbarfaden schlang und Schaden anrichtete.

Mechanisch taten Claras Finger die notwendigen Griffe, stets die gleichen, wie ein Automat. Immer wieder lief sie, die Augen auf die Spindeln gerichtet, vor ihrer Hälfte des Selfaktors, der Spinnmaschine, hin und her. Immer wieder folgte sie der Bewegung des großen Wagens vor und zurück. Immer wieder reckte und beugte sie sich über ihn, angelte nach gerissenen Fäden und legte sie an. Und wieder von vorn. Vor der Maschine nach rechts die Schritte hin bis zu Franz – dem neuen Maschinenführer, der am Maschinenblock stehend den Selfaktor wartete und eben die eisernen Teile reichlich mit Öl schmierte – und dann wieder nach links die Schritte zurück zum äußersten Rand.

Die Schritte zu ihm hin waren ihr lieber. Jedes Mal schaute sie kurz, ob sie vielleicht einen Blick von ihm erhaschte – bevor er zum nächsten Selfaktor hinüberwechselte, denn er hatte zwei Maschinen einzurichten, zu warten und zu überwachen …

Ohrenbetäubender Lärm erfüllte den Fabriksaal. Zahllose rasselnde Maschinen zum Strecken und Spinnen der Wolle von den Vorfäden bis hin zum feinsten Kammgarn standen hier dicht an dicht. Unaufhörlich drehten sich die Wellen unter der Hallendecke, die von der Dampfmaschine im Keller der Fabrik angetrieben wurden, kreischend griffen Zahnräder ineinander, quietschend stießen Stangen vor und zurück, lederne Treibriemen heulten. Viele Tausende von Spindeln ließen ein hohes Surren ertönen. Vom Keller drangen das Pfeifen des Dampfkessels und das Stampfen der Dampfmaschine herauf, vom Erdgeschoss dröhnte das Getöse des lautesten und gewaltsamsten aller eisernen Ungetüme unter den Maschinen der Fabrik: des Öffners, der den ersten Arbeitsgang an der rohen Wolle vollführte und das ganze Gebäude zum Zittern brachte. Nur ein ersehnter Ton unter all diesem nervenzerrenden Krach stellte sich nicht ein: das helle Gebimmel der Mittagsglocke.

Kurz schaute Clara zur großen Wanduhr an der Stirnseite der Halle: noch fast eine Stunde! Seufzend blies sie sich eine Strähne aus der Stirn, die sich aus ihrer straff aufgesteckten Frisur gelöst hatte. Morgens, wenn sie in die Fabrik kam, trug sie ihre dunklen Haare zu einem langen Zopf geflochten. Franz hatte heute Morgen danach gelangt und gesagt, noch nie habe er einen so dicken Zopf gesehen. Aber während der Arbeit war es Vorschrift, die Haare aufzustecken – wie leicht konnten sich offene Haare sonst um die Spindeln winden. Und wie leicht konnte sich ein im hastigen Hin- und Herlaufen fliegender Zopf im Treibriemen der nächststehenden Maschine verfangen, von der Clara nur der schmale Gang trennte! Wer von so einem Riemen erfasst wurde, der wurde mit unwiderstehlicher Macht in die Höhe gerissen und gegen die Decke geschleudert, und wenn er dann wieder herabfiel, blieb kein Knochen heil. Vor Jahren war ein junges Mädchen so zu Tode gekommen, aus sträflichem Leichtsinn, erklärten die Aufseher, die jeder neu in die Spinnerei eintretenden Arbeiterin warnend davon erzählten, damit sie sich in Acht nahmen. Dieser Treibriemen und der vielen ungeschützt sich drehenden Maschinenteile wegen war es ebenfalls Vorschrift, die Schürze über dem Rock mit doppelter Schleife in Kniehöhe fest zurückzubinden, damit kein wehender Rock und kein Schürzenzipfel in die Maschine geriet. Durch diese Art der Kleidung wurde es Clara noch heißer, als es ohnehin schon war.

Ein Schweißfilm stand ihr auf der Stirn und verklebte dort mit dem Staub der in der Luft schwebenden feinen Wollhärchen und des Abriebs der Lederriemen. Schweiß rann ihr in Rinnsalen den Rücken und die Seiten hinunter. Es war heiß und feucht in der Halle, die Luft war geschwängert von Wasserdampf, wie die Wolle es mochte. Die Ofenhitze mischte sich mit der Maschinenwärme und den Ausdünstungen der Wolle und der Arbeitenden, und zu allem Überfluss schien auch noch die Wintersonne tief in die Halle herein. Wie der wirbelnde Staub in ihren Strahlen tanzte! Kaum sah man hindurch.

Gern wäre Clara zu einem der großen Fenster gelaufen und hätte es aufgerissen, den Kopf kurz in die klare Winterluft gesteckt. Aber das Öffnen der Fenster wie das Unterbrechen der Arbeit war durch die Fabrikordnung untersagt – wie so vieles, was gutgetan hätte. Ob die Arbeiterinnen unter der unnatürlichen Schwüle im Raum litten, was spielte das für eine Rolle, wenn nur die Wolle die feuchte Wärme hatte, die sie brauchte, wenn nur die Fäden nicht rissen!

»Diese Hitze!«, rief Franz ihr über das Maschinengetöse zu, als sie wieder neben ihm zu stehen kam. Er blies scherzhaft die Backen auf, wischte sich theatralisch mit dem Handrücken die Stirn und schlenkerte die Hand, als würde er die Schweißtropfen abschütteln.

Sie lachte. »Das kannst du laut sagen! Ich komme um vor Durst.« Sie achtete darauf, dass sie dem Aufseher den Rücken zuwandte, damit dieser nicht sah, dass sie sich mit Franz unterhielt. Privatgespräche während der Arbeit waren verboten, aber bei dem Lärm konnte der Aufseher sie nicht hören.

»Wären wir Orchideen, wir würden hier drinnen gedeihen, bei dem Treibhausklima, das wär eine reine Pracht!«, rief er zur Antwort und grinste ihr zu.

 

»Aber so gehen wir ein wie die Primeln«, rief sie zurück und freute sich, dass sie eine so gute Entgegnung gefunden hatte.

»Bist ja das reinste Blumenfräulein!« Wieder grinste er, dann beugte er sich tief über den Maschinenblock und justierte eine Schraube.

Blumenfräulein. Das war ein Kompliment, oder? Franzens Eltern hatten früher in einer Gärtnerei im Westen Berlins gearbeitet, als Kind hatte er mit ihnen in der Gärtnerei gewohnt und Gärtner werden wollen. Aber dann hatte die Gärtnerei geschlossen, weil das Grundstück zu Bauland geworden war. So war Franz in eine Spinnerei gegangen und hatte sich zum Maschinenführer hochgearbeitet, er hatte es erzählt, als Olga ihn gefragt hatte. Olga unterhielt sich mit jedem, der ihr gefiel, da kannte die nichts.

Olga hatte ihren Platz auf der rechten Seite von Franz, an der anderen Hälfte der Spinnmaschine. Und natürlich trug sie ihr Hemd am Halsausschnitt wieder offen und so weit, dass es ihr über die Schulter glitt und wer weiß was sehen ließ.

Links außen war der Faden gerissen. Rasch tat Clara ihre Pflicht. Als sie kurz wieder zu Franz sah, hantierte er mit der Ölkanne. Musste nicht rechts ein Garnkörper auf der Spindel höher geschoben werden, um die richtige Aufwicklung zu erhalten – dort dicht neben Franz? Sie eilte hinüber. Da trat ihr nackter Fuß auf einen öligen Fleck, sie rutschte aus, schrie auf, ruderte wild mit den Händen in der Luft, kam den Zahnrädern der nächsten Maschine bedenklich nahe, dann fiel sie und schlitterte an Franz vorbei so weit über den glitschigen Boden, dass sie Olga zwischen die Beine segelte. »So pass doch auf!«, schrie diese auf, kämpfte vergebens um ihr Gleichgewicht und stürzte schließlich über Clara.

Einen Augenblick lagen sie beide benommen am Boden. Clara schloss die Augen. Trotz des Schrecks und des dumpfen Schmerzes durch den Aufprall genoss sie beinahe den Moment des Liegens. Endlich eine unverhoffte Pause.

»Na, die holde Weiblichkeit mir zu Füßen, das lass ich mir gefallen!«, rief Franz mit breitem Lachen.

»Das könnte dir so passen!«, entgegnete Olga, streckte ihm die Zunge heraus und rappelte sich auf die Knie. »Hilf mir lieber beim Aufstehen!«

Franz hielt Olga mit fettem Grinsen die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Olga nahm die Hand, aber einen endlosen Augenblick verharrte sie vor ihm auf den Knien, viel weiter vorgebeugt als nötig. Sein Blick blieb in ihrem Ausschnitt hängen. Und an seinem Gesicht sah man, dass dieser Blick tief reichte, wahrscheinlich bis zum Bauchnabel. Oder doch eher weiter oben hängen blieb. Dann endlich zog Franz Olga hoch und gab ihr einen derben Klaps auf den Hintern. Olga kreischte auf. Aber die Hand, die auf ihrem Hinterteil liegen geblieben war und sich dort unverkennbar wohlfühlte, schüttelte Olga nicht ab.

Rasch sah Clara weg und stand auf. Mit einem kurzen Blick zum Aufseher hin, der auf die Szene aufmerksam geworden war und bereits näher kam, eilte sie an ihren Platz zurück.

»Da hab ich wohl Öl verschüttet«, meinte Franz. »Ich mach's auch wieder gut an den gefallenen Mädchen. Heut Abend auf dem Heimweg spendier ich euch in der Bierhalle eine erstklassige Berliner Weiße!«

Eine Berliner Weiße von Franz. Eben noch hätte sie sich nichts Besseres vorstellen können. Aber nicht mit dieser Olga gemeinsam, so, wie die sich aufführte! »Wie du dir das vorstellst«, rief sie abwehrend. »Daheim warten sie auf mich.«

Franz machte nicht den Eindruck, als täte ihm die Abfuhr leid. Er hatte nur noch Augen für Olga. Was die sagte, konnte Clara nicht verstehen. Aber dass es eine Zustimmung war, das sah sie.

»Und wenn du meinetwegen noch mal fällst, dann hab ich nichts dagegen, du weißt schon, wie ich's meine«, rief Franz Olga zu und lachte anzüglich.

»Bevor ich deinetwegen fallen würde, müsste es bei dir erst mal ordentlich stehen«, gab die zurück.

Clara wandte sich ab. Sie hatte genug.

Zornig beugte sie sich über die Spindeln. Fünf Fäden waren gerissen, aber nicht alle hingen mehr lose herab, dort, dort und dort hatten sie sich mit den Nachbarfäden verbunden. Doppelfäden waren es nun, die von den einen Spindeln aufgewickelt wurden, während die anderen sich leer drehten. Wenn der Aufseher das merkte – eine Katastrophe! Garnkörper mit Doppelfäden waren Ausschussware, dafür würde sie Lohnabzug bekommen. Hastig riss sie die Doppelfäden durch, versuchte sie wieder an den beiden richtigen Spindeln anzulegen, nur schnell, schnell, damit es nicht auffiel! Doch da drüben bildeten sich Schlingen, wie sollte sie das verhindern, sie konnte nicht überall zugleich sein. Die ein, zwei Minuten, die sie durch den Sturz verloren hatte, ließen sich nicht einholen, pflanzten sich als Fehler fort.

Dann stand der Aufseher neben ihr. Mit einem Blick erfasste er die Situation. »Doppelfäden!«, blaffte er sie an. »Und dann auch noch einfach drüberspulen, als wäre nichts! Das ist der Gipfel! Ist dir überhaupt klar, was du hier produzierst? Die Weberei reklamiert dann, dass wir schlechtes Kammgarn liefern, und der Ruf unserer Spinnerei ist ruiniert. Ein Viertel Abzug!«

Ein Viertel Tageslohn Abzug! Zweidreiviertel Stunden umsonst geschwitzt, umsonst sich geschunden

Clara presste die Zähne zusammen. Nur ja nichts sagen. Wenn sie sich jetzt rechtfertigte, dass sie nichts dafür könne, weil sie ausgerutscht sei, dann bekam sie wegen Aufsässigkeit noch einen Abzug dazu.

Früher, beim alten Fabrikherrn, war es anders gewesen, da hatte ein menschlicherer Ton geherrscht. Da hätte sie nicht versucht, einen Fehler zu vertuschen, weil die Aufseher auch mal ein Auge zugedrückt hätten, wenn man an einer Panne wirklich nicht schuld war. Aber seit der Sohn die Firma übernommen und neue Aufseher eingestellt hatte, hagelte es nur so Abzüge und Strafen.

Sie konnte sich das Lamento ihrer Mutter schon vorstellen, wenn die von dem Abzug erfuhr. Acht Mark verdiente Clara in einer Woche, wenn sie keine Strafen zahlen musste, und auf jeden Pfennig kam es an – und die Versicherungen gingen auch noch runter. Die Mutter glaubte, sie könne jede Woche acht Mark verdienen, und wenn es weniger wäre, dann wäre es Claras Schuld. Aber was wusste ihre Mutter schon davon, wie es in einer Fabrik zuging, die hatte nie in einer gearbeitet! Sie würde der Mutter nichts davon sagen, vorerst.

Am nächsten Samstag allerdings, wenn sie den Lohn ausbezahlt bekam, würde es sich nicht verheimlichen lassen.

Und das alles wegen Franz. Franz, der so verwegen aussah, wenn er die Mütze aus der Stirn schob. Aber der Olga in den Ausschnitt starrte und ihr auf den Hintern klatschte und so anzüglich daherredete und sich von der anmachen ließ, dass man sich schämte.

Freilich, Sprüche machten alle Männer in der Fabrik, und die meisten Mädchen und Frauen lachten darüber. Sie fand es nicht wirklich zum Lachen. Von daheim war sie so was jedenfalls nicht gewöhnt.

Gefallene Mädchen! So nannten die besseren Leute Mädchen, die sich mit einem Mann eingelassen hatten, und rümpften die Nasen. Gefallene Mädchen! Was bildete der sich überhaupt ein! Für Olga mochte das ja stimmen, für die mit Sicherheit. Aber sie selbst jedenfalls, sie war kein gefallenes Mädchen, sie hatte noch keinen an sich rangelassen und sie wollte es auch gar nicht und erst recht nicht diesen Franz oder einen anderen Rohling aus der Fabrik.

Aber wo sollte sie einen kennenlernen, wenn nicht in der Fabrik? Ihre Eltern erlaubten ja nicht, dass sie samstagabends zum Tanzen ging wie alle anderen Mädchen. Weil sie vom Dorf waren aus Schlesien, von wo sie erst vor ein paar Jahren hergezogen waren. Und weil sie es mit der Kirche hielten und weil der Pfarrer predigte, dass es Sünde sei vor der Ehe. Es. Dabei wollte sie das sowieso nicht, nur ein bisschen Tanzen und ein bisschen Vergnügen – das konnte doch nicht zu viel vom Leben erwartet sein! Aber der Vater würde sie ja am liebsten einsperren, obwohl sie doch längst siebzehn war. Und vormachen konnte man ihm nichts. Der arbeitete selbst in einer Spinnerei und wusste, wie die Reden in der Fabrik waren, und kannte genug solche wie Franz und Olga.

Fieberhaft arbeitete sie. Ihre Finger flogen. Die Gedanken noch mehr. Und dann endlich ertönte die erlösende Glocke.

Wie durch Zauberhand standen alle Maschinen still. Ein Aufseufzen ging durch die Halle. Im nächsten Augenblick stürzten alle Arbeiterinnen und Arbeiter zur Tür. Im Pulk der anderen drängte Clara die Treppe hinunter, ihren Korb am Arm. Ein Stau bildete sich, weil auch aus der Halle im Erdgeschoss die Mädchen, Frauen und Männer quollen, ein Schieben und Drücken, dann endlich war sie im Freien. Tief atmete Clara auf. Luft! Kalte, klare Winterluft, in der schon ein Hauch von Vorfrühling lag. Die Sonne schien in den Hof und brachte die letzten Schneereste zum Schmelzen.

Auf einer aus ein paar Steinen und Brettern errichteten provisorischen Bank ließ Clara sich nieder und hüllte sich in ihr warmes Umschlagtuch.

Sie blinzelte gegen die Sonne. War da drüben nicht Franz? Wie er dort stand und sich die Mütze aus der Stirn schob … Ihr Herz schlug schneller, ob sie es wollte oder nicht.

Zwei andere junge Arbeiter kamen aus dem Fabrikgebäude, gingen auf Franz zu. Gemeinsam verließen die drei den Hof. Die jungen Männer, die hatten Geld, die verdienten ja das Doppelte von dem, was sie verdiente, und gaben aus, was sie hatten. Die brachten sich nicht ihr Essen mit in die Fabrik, sondern gingen zu einem privaten Mittagstisch oder in eine Kneipe, wenn es nach Hause zu weit war, und aßen Fleisch und tranken Bier. Und konnten sich sogar leisten, zwei Mädchen in die Bierhalle einzuladen. Aber im Grunde waren sie nur an einer interessiert, die ihnen alles zeigte, was sie hatte – und die vor allem mehr tat, als es nur zu zeigen. Ach, was sollte es! An Franz noch einen Gedanken zu verschwenden, lohnte ja doch nicht. Clara hielt ihr Gesicht mit geschlossenen Augen ins Licht. Die Sonne brannte alle Gedanken weg, bis nichts mehr da war außer diesem Rot, das hinter ihren Lidern flimmerte.

Wohlig streckte sie die Beine von sich. Sie war froh, dass der Weg nach Hause zu weit war, um ihn in einer Stunde Mittagspause hin und her zurückzulegen. So erwartete die Mutter nicht, dass sie mittags heimkam.

Endlich einen Augenblick ausruhen, genießen. Frische Luft atmen. Und endlich wieder fühlen, dass man lebte.

Langsam kroch ihr die Kälte von den Füßen aufwärts unter den dünnen Rock, biss ihr in die Haut. Sie schlang die Arme um den Oberkörper, zog das Umschlagtuch fester, rieb sich die Schultern. Obwohl sie immer stärker fror, blieb sie sitzen. Wie ruhig es war. Kein Maschinenlärm mehr, keine Stimmen, nur das Tschilpen der Spatzen.

Wie früher daheim in Schlesien. Immer so bleiben.

Als sie sich schließlich vor Kälte zitternd erhob, war der Hof leer. Clara machte sich zum »Speisesaal« auf, einem düsteren Raum im Kellergeschoss der Fabrik, in dem die Dampfmaschine stand. Widerstrebend stieg sie die Stufen hinunter. Wäre nur endlich Frühling, dass man wieder die ganze Mittagspause im Freien verbringen könnte!

Sie stieß die Tür auf. Stickige Wärme, ein übles Gemisch der verschiedensten Gerüche, Tabakqualm, Kohlenstaub und lautes Stimmengewirr schlugen ihr entgegen. Der Raum war so düster und dunsterfüllt, dass ihre sonnengeblendeten Augen kaum etwas sahen. Fast blind bahnte sie sich den Weg zwischen den langen Bänken hindurch und an den Kohlehaufen vorbei zum vor Hitze glühenden Heizkessel der Dampfmaschine und stellte ihre Blechkanne darauf. Dann ließ sie sich auf dem nächsten freien Platz an einem der rußgeschwärzten Holztische nieder, an dem mehrere junge Mädchen saßen.

»Na, Clara, hast du heut wieder nur Kartoffeln?«, fragte Olga.

Clara hatte nicht gemerkt, dass sie sich ausgerechnet neben die gesetzt hatte. Doch jetzt aufstehen und sich einen anderen Platz suchen, das ging nicht.

»Und Kaffee«, erwiderte Clara, »aber den mach ich grad heiß.« Vor einer wie Olga ließ sie sich nicht anmerken, dass sie auch gern mal etwas anderes zu essen hätte. Sie begann die Pellkartoffeln zu schälen.

Sorgsam bewahrte sie die Schalen in einem Stück Zeitungspapier auf. Die kleinen Brüder würden sich freuen, wenn sie die ihnen auf der Herdplatte röstete und mit etwas Zucker bestreute – die einzige Nascherei, die es daheim gab.

»Da, darfst mal mit eintauchen«, erklärte Olga und schob ihr das Blechgeschirr hin, in dem cremig gerührter Quark Clara verheißungsvoll anlachte. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. Sie wollte ablehnen, aber sie brachte es nicht fertig, fuhr mit ihrer Kartoffel in den Quark. Wie kühl und frisch das schmeckte. Ob sie wohl noch einmal durfte? Aber ausgerechnet von Olga …

 

Rasch stand sie auf und holte ihre Kaffeekanne vom Heizkessel. Sie trank und trank. Süß und herb zugleich rann das heiße Getränk aus Kaffee-Ersatz durch ihre Kehle. Drei gehäufte Esslöffel Zucker hatte sie hineingemischt. Zucker zum Kaffee aus Zichorienwurzel war der einzige Luxus, mit dem die Mutter nie knauserte – und wenn man beim Kaufmann dafür anschreiben lassen musste. Wie ließe sich auch sonst ein Arbeitstag von morgens um sechs bis abends um sechs durchstehen?

»Clara hat heut eine Einladung zur Berliner Weiße ausgeschlagen!«, verkündete Olga den anderen. »Franz wollte sie mit mir gemeinsam in die Bierhalle ausführen. Aber Clara will nicht. Was sagt ihr dazu?« Olga lachte.

Clara stieg das Blut in den Kopf. Dennoch zuckte sie die Schultern und versuchte gleichfalls ein Lachen. »Na und! Ich mach mir nichts aus ihm.«

»Da hör mal eine an«, schaltete sich Emmi ins Gespräch ein, ohne ihren Strickstrumpf sinken zu lassen. »Wo er doch gar nicht schlecht aussieht! Schultern hat der und Muskeln, die könnten mir schon gefallen. Und wenn er so die Mütze zurückschiebt – der hat das gewisse Etwas, da gibt's nichts. So einen lässt man doch nicht stehen! Oder hast du am Ende längst einen Bräutigam, Clara, und wir wissen nichts davon?«

»Was, Clara hat einen Bräutigam? Und, was ist? Wie ist er? Jetzt aber los, erzähl!«, riefen die anderen Mädchen und beugten sich vor.

»Was ihr nur habt«, wehrte Clara ab.

Von Stunde zu Stunde wurde die Luft dumpfer. Wenn man wenigstens einmal einen Schluck Wasser trinken dürfte! Aber die Arbeit an der Spinnmaschine duldete keine Unterbrechung. Der Nachmittag – fünf Stunden am Stück – nahm kein Ende.

Wie benommen tat Clara ihre Arbeit. Eben noch hatte das Anspinnen für eine neue Partie eine gewisse Abwechslung gebracht. Da musste man sich zwar beim Abnehmen und Einsortieren der aufgespulten Garnkörper, der Kötzer, beim Aufstecken frischer Papierhülsen auf die Spindeln und beim Anlegen der neuen Fäden auch beeilen, aber man konnte es wenigstens im eigenen Rhythmus machen, musste sich nicht an die Bewegung der Maschine anpassen und nicht auf dieses wirbelnde Spiel starren. Doch nun hatte sie wieder das Spinnen zu überwachen. Mechanisch erfüllten die Finger ihre Aufgaben, ganz von selbst registrierten die Augen jede Störung, unwillkürlich reagierten ihre Muskeln. Immer dasselbe. Der Lärm schien zuzunehmen, lauter und lauter zu werden. Unerträglich dröhnte er in den Ohren und wollte ihren Kopf schier zersprengen. Schultern und Rücken schmerzten, die Beine waren schwer, die Zehen taten weh. Mehr als einmal hatte sie sich diese an den auf den Boden geschraubten Eisenschienen gestoßen, auf denen der Wagen fuhr. Und noch mehr als zwei Stunden bis zum Feierabend.

Kein Blick mehr für Franz. Nur noch dies eine: aushalten, durchhalten! Da plötzlich schepperte die Glocke. Und die Maschine stand still. Einen Augenblick wurde Clara schwarz vor Augen. Taumelnd hielt sie sich am Wagen des Selfaktors fest. Dann schaute sie zur Wanduhr: Erst vier.

Stimmen erhoben sich, fragten nach dem Grund der Unterbrechung. Der Oberaufseher rief laut: »Schluss für heute! Der Herr Direktor hat Kurzarbeit angeordnet. Täglich neun Stunden, dabei bleibt es fürs Erste. Morgen früh wieder um sechs! Und jetzt gründlich den Arbeitsplatz aufgeräumt und reinegemacht! Vorher verlässt keiner die Fabrik.«

»Kurzarbeit?«, gellte eine Frau, deren Augen vom Staub rot entzündet waren. »Ohne uns was zu sagen! Vier Kinder hab ich großzuziehen und mein Mann ist krank und kann nicht in die Fabrik! Kann mir einer sagen, wie ich die hungrigen Mäuler daheim stopfen soll?«

Andere Stimmen mischten sich in den Protest, doch Clara dachte nichts als: Gott sei Dank. Für heute kann ich entkommen.

Einer der Arbeiter forderte lautstark Aufklärung, wie lange die Kurzarbeit andauern werde, doch er wurde vom Oberaufseher abgefertigt: »Das wirst du dann schon sehen. Seit wann ist dir denn der Herr Direktor Rechenschaft schuldig? Und jetzt halt den Mund! Sonst arbeitest du morgen nur für die Strafe, die dir abgezogen wird. Das gilt für alle!«

Das laute Schimpfen verstummte und wandelte sich in ein leises Murren. »Das können die doch mit uns nicht machen«, klagte Emmi, die an der nächsten Maschine stand, flüsternd. Ihre Stimme zitterte. »Wie soll ich denn jetzt mit dem Lohn auskommen, wo's doch so schon vorn und hinten nicht reicht!« Emmi hatte ein Kind und keinen Vater dazu.

Clara erwiderte nichts. Kurz sah sie in das verzweifelte Gesicht der anderen, blickte rasch wieder weg. Dann kehrte sie hastig die Abfälle zusammen, säuberte die Maschine und ging, ohne auch nur noch ein einziges Wort zu wechseln. Endlich frei.

Erst auf der engen Straße hielt sie inne und wickelte sich in ihr Umschlagtuch. Zwei geschenkte Stunden lagen vor ihr. Doch wie sie nutzen? Wenn sie nach Hause ginge, so würde sie von der Mutter in die Heimarbeit eingespannt werden. Oder sie müsste bügeln. Den ganzen Sonntag hatte sie mit der Mutter gemeinsam Wäsche gewaschen, körbeweise wartete diese darauf, geplättet zu werden. So oder so hätte sie die Schufterei in der Fabrik nur gegen die Schufterei zu Hause eingetauscht.

Sie wandte sich zum Fabriktor um. Im Pulk der anderen sah sie Franz mit Olga herauskommen. Olga hatte sich bei ihm eingehängt und lachte zu ihm empor. Und jetzt legte er seinen Arm um ihre Hüfte und ließ die Hand unter dem Umschlagtuch verschwinden.

Clara wandte sich ab und lief die Straße hinunter, bog um eine Ecke, verließ die übliche Route nach Hause. Vor Franz und Olga herzugehen, nein, dazu hatte sie nun wirklich keine Lust.

Gassen, durch die sie noch niemals gegangen war, altes heruntergekommenes Gemäuer, Hoftore, die den Blick in düstere baufällige Höfe freigaben, in denen morsche Schuppen und schadhafte Holzvorbauten beinahe jeden Winkel ausfüllten, windschiefe Häuser aus längst vergessenen Jahrhunderten – Claras eingeschlagener Weg führte sie durch die ältesten Quartiere des Zentrums.

Eine Idee bildete sich in ihr: Ums Schloss wollte sie spazieren und bei der Baustelle zuschauen, wie der neue Dom entstand, dann die Linden hinab flanieren und in der Friedrichstraße die Geschäfte ansehen und ihre Freiheit genießen. Was für ein guter Tag! Und dann kam noch der beste Abend der Woche. Heute war Donnerstag, und donnerstagabends passte sie immer auf die Kinder ihrer älteren Freundin Jenny auf, während diese in die Arbeiterinnenschule ging, und durfte zum Dank bei Jenny essen, bis sie satt war. Jenny war mit einem Eisengießer verheiratet, der gut verdiente, und deshalb gab es bei Jenny immer herrliche Sachen zu essen, oft sogar Fleisch. Bei dem bloßen Gedanken lief Clara schon das Wasser im Mund zusammen.

Gemächlich schlenderte sie weiter, rieb dabei die Hände aneinander. Die Sonne stand schon so tief, dass die Gasse im Schatten lag. Und so wohltuend sie zunächst die Winterluft nach der stickigen Hitze der Fabrik empfunden hatte – nun wurde ihr kalt. Wenn sie einen Mantel hätte!

Sie seufzte. Ein Wintermantel, das war der Traum, den sie seit Jahren mit sich herumtrug. In einem Mantel aus dichtem Wolltuch müsste sie nie mehr frieren. Und niemand würde ihr auf der Straße ansehen, dass sie keine Bürgertochter war, sondern nur ein Fabrikmädchen. Und am Sonntag könnte sie in der Stadt spazieren gehen und müsste nicht zu Hause sitzen bleiben, weil sie nichts Warmes anzuziehen hatte, womit man sich am Sonntag blicken lassen konnte.

Sie hatte ja Geld. Eine Mark durfte sie jede Woche von ihrem Lohn behalten, wenn sie das verdiente Geld bei ihrer Mutter ablieferte. Davon musste sie ihre Kleidung bezahlen und alle kleinen Vergnügungen, die sie sich gönnte. Sie gönnte sich fast nie etwas, auch keine Abfallwurst oder einen Hering zu Mittag wie manche der Arbeiterinnen in der Spinnerei. So viel Geld als möglich trug sie auf die Sparkasse.

Wenn man heiraten wollte, dann brauchte man mindestens dreihundert Mark für den allernötigsten Hausrat, hatte Jenny gesagt, darunter ging gar nichts. Jenny wusste so was. Jenny wusste überhaupt sehr viel.

Clara bog um eine Ecke und blieb erschreckt stehen. Die Straße war überfüllt von Männern in blauen Arbeitsblusen, die mit besorgten Gesichtern schweigend auf und ab gingen oder sich in bald ernstem, bald erregtem Gespräch vor dem Tor eines schmalen Fabrikgebäudes versammelt hatten. Das Tor aber wurde bewacht von zwei finster dreinblickenden Schutzleuten. Frauen beugten sich aus den Fenstern der umliegenden Häuser und schauten neugierig auf das Geschehen.

»Was ist hier los?«, fragte Clara eine junge Frau, die – in einer gegenüberliegenden Hofeinfahrt stehend – das Ganze beobachtete, einen kleinen Jungen am Rockschoß, ein Baby auf dem Arm.

»Die Arbeiter der Fabrik dort streiken«, erwiderte diese. »Drechsler sind es, denen der Stücklohn um ein Drittel gekürzt worden ist. Aber das sind alles Organisierte, Genossen, die lassen sich das nicht bieten, die haben spontan zum Streik aufgerufen. Na, wenn das mal gut geht! Ich will ja nichts gesagt haben, aber …« Die Frau stockte und wies zum Ausgang der Straße, stieß einen Schrei aus. »Ich hab's ja geahnt!« Damit fasste sie nach der Hand des kleinen Jungen, drehte sich um und verschwand in der Toreinfahrt, den Kleinen hinter sich herziehend.

Clara blickte die Straße hinunter, wohin die Frau gezeigt hatte. Sie schluckte. Berittene Polizei näherte sich von dort, immer mehr Schutzmänner auf hohen Pferden wurden es, die mitten unter die Menschen ritten und die Gruppen zertrennten. Und vom anderen Ende der Straße kamen auch welche.