Es war in Berlin

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Die Mutter war aus reicherem Haus gewesen als der Vater, der nur ein reichlich verschuldetes märkisches Gut zum Erbe gehabt hatte: Von der Mitgift, die sie in die Ehe gebracht hatte, wurde in der Verwandtschaft noch immer mit bedeutungsvollen Blicken in Andeutungen gesprochen. Die Mitgift sei das Kapital gewesen, mit dem Baron von Zug durch geschickte Spekulation mit Eisenbahnaktien sein beträchtliches Vermögen erzielt hatte – nomen est omen.

Seltsam war sie, diese Selbstverständlichkeit, mit der man sagte: sein Vermögen. Da es doch eigentlich das der Mutter war. Diese aber hatte keinen Zugriff darauf. Sowohl für die Haushaltsführung als auch für jede aus dem Rahmen fallende Ausgabe oder Anschaffung war die Mutter darauf angewiesen, dass der Vater ihr die Mittel dafür gab. Sicher, er war großzügig. Und dennoch.

Nein. Wie zur Bestätigung schüttelte Margarethe den Kopf. Sie würde ihren Vater nicht um die zweihundertfünfundfünfzig Mark bitten, um den Ring wieder auszulösen. Wobei sie ja eigentlich nur hundertfünfunddreißig Mark brauchte, so viel kostete eine Singer-Nähmaschine, die zum Nähen von Damenkonfektion geeignet war, sie hatte sich danach erkundigt. Aber sie spürte, dass sie von dem Geld, das sie für den Ring erlöst hatte, nichts zurückbehalten wollte.

Wenn ein kleines Mädchen seinen guten Mantel verschenken konnte und dafür in Kauf nahm, zu frieren und womöglich bestraft zu werden – warum sollte sie dann nicht einen Ring verschenken, an dem niemandem etwas lag?

Diese Lotte. Margarethe lächelte vor sich hin. Eine Tochter wie die hätte sie auch gerne einmal. Alle Welt legte Wert auf einen Sohn. Sie aber stellte es sich schön vor, eine Tochter zu haben. Als könne man das Leben noch einmal neu beginnen.

Was für alberne Gedanken!, rief sie sich selbst zur Ordnung. Außerdem stand ein Kind ja nun wirklich nicht zur Debatte, da sie ihren einzigen ernstzunehmenden Verehrer zurückgewiesen hatte. Sie sollte sich lieber für das rüsten, was ihr bevorstand.

Wieder in diesen stinkenden Keller hinabsteigen zu müssen …

Und was, wenn Anna Brettschneider dort gar nicht mehr wohnte?

Das letzte Stück des Weges ging sie zu Fuß, schneller, als es sich für eine Dame geziemte. Aber die wollte sie sowieso nicht herauskehren, selbst auf die Begleitung ihres Dienstmädchens hatte sie leichtsinnigerweise verzichtet. Wenn die Mutter wüsste, dass sie hier ganz allein durch einen der roten Berliner Kieze lief!

Sie erreichte die Mietskaserne, durchquerte die Toreinfahrt, den Garten, den zweiten Hof, den dritten. Von der streitbaren kleinen Frau und dem jungen Mädchen, die ihr hier beim letzten Mal begegnet waren, war nichts zu sehen. Dann dieser bedrückend enge, dunkle Hof. Die Kellertreppe mit ihrem unfassbaren Gestank. Der düstere Kellerflur. Die Türen. War es die dritte oder die vierte gewesen?

Beinahe blind klopfte Margarethe – nur schnell, schnell es hinter sich bringen, wieder an die Luft zurückkehren dürfen – und stieß die Tür auf. Fast das gleiche Bild wie beim letzten Mal, nur das Bett war verschwunden und auf dem Herd kochte keine Wäsche. Die Frau und die Kinder erschienen ihr noch hohlwangiger, als sie sie in Erinnerung hatte.

Anna Brettschneider stieß einen erstickten Schrei aus, stürzte auf sie zu, griff nach ihrer behandschuhten Rechten, bedeckte sie mit Küssen. »Ich hab es ja gewusst«, stammelte sie, »das Wunder, wenn man nur fest daran glaubt, und Sie hatten es mir ja versprochen, eine so hochwohlgeborene Dame hält doch ihr Wort, hab ich immer gesagt, wenn die anderen gemeint haben, Sie kommen nicht mehr …« Ihre Stimme endete in einem Schluchzen.

Margarethe stand wie erstarrt. »Beruhigen Sie sich doch«, murmelte sie hilflos, »es gab einige Schwierigkeiten, aber jetzt habe ich das Geld für Ihre Nähmaschine und noch hundertzwanzig Mark dazu.« Damit zog sie ihre Hand aus der Umklammerung, holte ihren Geldbeutel hervor und legte die Scheine auf den Tisch. »Zweihundertfünfundfünfzig Mark«, erklärte sie.

Die Frau starrte sie an. »Gott vergelte es Ihnen!«, wiederholte sie ein ums andere Mal. »Ihnen und den anderen Damen vom Wohltätigkeitsverein. Gott vergelte es Ihnen allen! Zweihundertfünfundfünfzig. So ein unfassbarer Reichtum. Zweihundertfünfundfünfzig. Jetzt sind wir gerettet!« Sie weinte.

»Aber Sie müssen aus diesem Keller heraus in eine richtige Wohnung«, erklärte Margarethe rasch. »So ein nasser Keller ist ungesund für die Kinder, müssen Sie wissen. Davon werden sie krank.«

Anna Brettschneider nickte stumpf. »Mein Jüngstes ist schon gestorben. Nicht einmal einen Sarg hab ich ihm kaufen können, dem armen Wurm. Aber auf den Friedhof bin ich mit, auch wenn ich dafür die ganze Nacht Tüten kleben musste. Man will es doch wenigstens mit Anstand beerdigen. Dort, wo es jetzt ist, da ist es besser.« Mit dem Schürzenzipfel wischte sie sich die Augen.

Ein Schwindel erfasste Margarethe. So war sie zu spät gekommen. Wenn sie nicht etliche Wochen hätte verstreichen lassen, wäre dann das Kind noch zu retten gewesen? Sie rang nach Atem, nach einer Antwort. »Mein Beileid«, flüsterte sie schwach. »Ich, ich muss dann wieder …« Sie floh.

Den finsteren Kellergang entlang, die schmierige Stiege hinauf, raus, nur raus. Blind vor Tränen rannte sie durch den Hof, durch den Durchlass, über den nächsten Hof, durch die Tordurchfahrt zum zweiten Hof.

Dunkel war es hier, sie achtete nicht darauf, ob ihr jemand entgegenkam, sie wollte nur weg.

Ein Kind. Sie hatte ein kleines Kind auf dem Gewissen.

Den Mann, der um die Ecke kam, bemerkte sie erst, als es zu spät war. Um nicht mit ihm zusammenzustoßen, wollte sie zur Seite springen, strauchelte. Beinahe wäre sie gestürzt. Er fing sie, hielt sie am Arm.

Sie schluchzte laut auf. Er führte sie zur Laube im ersten Hof, drückte sie dort mit sanfter Bestimmtheit auf die Bank, ließ sich neben ihr nieder. »Soll ich Ihnen eine Kutsche rufen, gnädiges Fräulein?«, fragte er. »Oder kann ich Ihnen anderweitig behilflich sein?« Beim Klang seiner Stimme blickte sie auf. Johann Nietnagel.

»Oh! Baronesse von Zug!«, rief er überrascht. »Entschuldigen Sie bitte, ich hatte Sie gar nicht erkannt! Was ist Ihnen zugestoßen? Was führt Sie denn hierher in den Hinterhof?«

»Anna Brettschneider«, stammelte sie, »wenn ich mich früher um sie gekümmert hätte, würde ihr Kind noch leben, zu spät, ich kam zu spät, ich wusste doch nicht …« Weinend lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. Er legte die Hand tröstend auf ihren Rücken. So saßen sie. Und es schien das einzig Mögliche zu sein.

Dann plötzlich kam ihr das ganz und gar Ungehörige dieser Situation in den Sinn. Sie sprang auf, raffte ihren Rock.

»Soll ich eine Kutsche …«, begann er erneut.

»Lassen Sie mich in Ruhe!«, fuhr sie ihn an und eilte davon.

Sie stieg eine dunkle Kellertreppe hinunter. Ihre Hand tastete die feuchte Wand entlang, Putz bröckelte und rieselte auf die Stiege, eine schmierige Masse klebte an ihren Fingern. Ekelerregender Gestank schlug ihr entgegen, Moder und Fäulnis, Abwasser und Fäkalien, Kohlsuppe und Zwiebeln und über allem ein widerlich süßer Geruch.

Übelkeit brandete in ihr auf, ihr Mund voll von Erbrochenem, es nahm ihr den Atem.

Ihr Fuß trat in etwas Weiches, Nachgiebiges, sie rutschte aus, stürzte, fiel und fiel, es nahm gar kein Ende. Ihr Kopf schlug auf den Steinstufen auf, noch mal und noch mal und noch mal. In das Dröhnen der Schläge mischte sich von weit her ein höhnisch gellendes Lachen. In einer Pfütze von Jauche und Dreck blieb sie liegen. Ihr Kopf zersprang. Sie sah die Explosion, sah das Spritzen der Hirnmasse, sah Blut die Wände herablaufen.

Irgendwo wurde mit schrillem Kreischen eine Tür geöffnet. Ein Wagen ratterte den Gang entlang, kam näher. Jetzt konnte sie ihn sehen: eine Lore. Sie war in einem Bergwerk. Mühsam richtete sie sich auf, sie musste aus der Bahn, sonst würde sie überrollt. Jetzt hatte die Lore sie erreicht. Sie wollte einsteigen, mit unendlicher Kraftanstrengung hievte sie sich in den Wagen, kam auf den Kohlen zu liegen. Es waren keine Kohlen. Es waren die steif gefrorenen Leichen kleiner Kinder und Säuglinge.

Sie schrie.

Sie schrie. Saß im Bett, starrte in die Dunkelheit, schrie und schrie.

Die Leichen, die Kinder, es war ihre Schuld …

Schweißnass klebten ihr das Hemd am Rücken, die Haare am Kopf. Was war geschehen, dieses Bergwerk, der Leichenwagen, warum lebte sie, ihr Kopf war doch explodiert …

Ein gleißender Schmerz bohrte in ihrem Schädel. Mit zitternden Händen langte sie hin, erwartete eine klaffende Wunde zu spüren, Knochensplitter, Hirnmasse und Blut, doch da waren nur ihre feuchten Haare.

Auf einmal begann sie zu frieren. Zitternd kroch sie unter die Decke, zog sie sich bis zum Kinn. Ihre Zähne schlugen aufeinander.

Die Tür wurde geöffnet, grell fiel das Gaslicht aus dem Flur herein, jemand kam auf sie zu, ließ sich an ihrem Bett nieder. Nicht, sie wollte das nicht, sie wollte … Eine leichte, sehr kühle Hand auf ihrer Stirn, die erschrockene Stimme der Mutter: »Du glühst ja vor Fieber! Ich rufe sofort Doktor Schneider.« Dann Schwärze.

Sie musste zu ihm. Doch sosehr sie sich auch beeilte, die Distanz zu dem Mann vor ihr wurde nicht geringer. Sie streifte die hohen Stiefeletten von den Füßen, raffte den Rock, barfuß rannte sie hinter ihm her. Er lief noch schneller. Er kam an einen breiten Fluss. Jetzt kann er nicht weiter, dachte sie, jetzt hole ich ihn ein. Der Mann schritt weiter, ohne zu zögern, trat auf das Wasser, ging über den Fluss, ruhig und sicher. Ach, dachte sie, natürlich, warum habe ich das vergessen, man kann ja auf Wasser laufenwie jener Gott aus Nazareth. Sie eilte ihm nach, erreichte das Ufer, trat auf das Wasser. Sie versank. Eiskalt schlugen die Wellen über ihr zusammen. Sie ruderte verzweifelt mit den Armen, versuchte zu schwimmen, an die Oberfläche zu gelangen, es war unmöglich, sie sank immer weiter, das Wasser war abgrundtief und kalt, so unglaublich kalt. Sie zitterte.

 

Kühle, sichere Hände tasteten ihren Hals ab, ihr Gesicht, umfassten ihren Kopf, bogen ihn sacht nach vorn und hinten, forschten mit routiniertem Griff unter ihren Achseln, auf ihrem Bauch.

Widerwillig öffnete sie die Augen. Grelles Licht stach ihr mitten ins Hirn. Sie blinzelte. Durch Nebel erkannte sie ein schwankendes Gesicht. Der Hausarzt. Konnte er seinen Kopf nicht ruhig halten?

Er richtete ihren Oberkörper auf, schob ihr einen kalten Gegenstand unter das Nachthemd, forderte sie zum Husten auf und zum tiefen Atmen. Sie tat ihm den Gefallen, damit er sie endlich in Frieden ließ. Damit sie den Mann suchen konnte. Sie musste ihn einholen. Wer war er eigentlich? Sie sank zurück in die Kissen.

Fetzen eines Gesprächs an ihrem Ohr, die besorgte Stimme der Mutter, die beruhigende des Arztes: »Nein, gnädige Frau, keine Lungentuberkulose, dafür gibt es nicht den geringsten Hinweis – aber ja, darauf gebe ich Ihnen mein Wort als Arzt – eine akute Infektion – dafür ist es noch zu früh – zu unspezifisch – wird sich erweisen – wenn man wüsste, wo sie sich das zugezogen hat – an einem Ort besonderer Gefährdung? – jederzeit, gnädige Frau, jederzeit – bei jeder Verschlechterung im Befinden, bei Hautausschlag, bei weiterem Anstieg des Fiebers, insbesondere bei Schluckbeschwerden oder Nackensteifigkeit – achten Sie genau darauf – unverzüglich …«

Dann endlich war wieder Ruhe.

»Gnädiges Fräulein, Sie haben ja schon wieder nichts gegessen!«, sagte das Zimmermädchen mit vorwurfsvollem Seufzen. »Wenn ich das der gnädigen Frau sage!«

»Dann sag es ihr eben nicht«, erwiderte Margarethe müde.

»Ja aber, Sie müssen doch etwas essen, das sagt der Herr Doktor auch immer wieder. Wenn nur meine Großmutter selig noch leben würde, die war eine Brauchfrau, die wusste für alles ein Kraut und ein Mittel …«

»Emma! Bitte!«, fuhr Margarethe dem Mädchen über den Mund.

Gekränkt räumte Emma das Essen auf das Tablett, machte einen Knicks und verschwand. Endlich.

In die Kissen gesunken und in eine Decke gehüllt saß Margarethe reglos im Lehnstuhl auf dem kleinen Balkon ihres Zimmers, die Füße auf einem Hocker hochgelegt, die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf gesenkt. Seit ein paar Tagen bestand der Hausarzt darauf, dass sie nicht mehr ununterbrochen im Bett lag, sondern einige Stunden am Tag im Lehnstuhl halb sitzend, halb liegend an frischer Luft verbrachte. Es war ihr gleich.

Der Frühling entfaltete seine Pracht, die Magnolie im Vorgarten der Villa blühte, die Tulpen leuchteten in verschwenderischer Fülle. Sie sah es nicht. Sie starrte auf ihre Hände.

Sie hätte schneller handeln müssen. Sie hätte sich nicht damit zufriedengeben dürfen, dass die Damen des Wohltätigkeitsvereins keinen Grund gesehen hatten, Anna Brettschneider sofort zu helfen.

Aber die Mutter mit ihrer Erfahrung in Wohltätigkeit, die Mutter hätte doch begreifen müssen, dass man nicht abwarten konnte!

Die Mutter war nicht dort gewesen, hatte das ganze Ausmaß des Elends nicht gesehen. Sie schon. Es war ihre Schuld. Ganz allein ihre.

Sie hatte doch gehört, wie schwach das jammervolle Weinen des Säuglings geklungen hatte. Und vor allem hatte sie die Wohnung gesehen. Und die Abgezehrtheit von Anna Brettschneider. Wenn sie sofort dafür gesorgt hätte, dass ein Arzt gekommen wäre. Und dass die Familie eine menschenwürdige Unterkunft bekam. Und anständige Verpflegung. Könnte dann das Kind jetzt noch leben?

Vielleicht wäre es sowieso gestorben. Warum nur war dieser Gedanke kein Trost? Wenn sie den Ring sofort versetzt hätte …

Aber auf diese Lösung war sie nicht gekommen. Da hatte ihr erst ein kleines Mädchen vorführen müssen, was Mitgefühl hieß.

An der Tür ihres Zimmers klopfte es. Sie antwortete nicht. Sie wollte nicht, dass jemand mit ihr sprach. Über das, was ihr die Brust zerriss, konnte sie ja doch nicht reden, das konnte sie keinem offenbaren.

Es sei denn, Johann Nietnagel. Der würde es verstehen. Er hatte es ja schon verstanden, dort in der Laube. Seine Hand tröstend auf ihrem Rücken …

Unwillig fuhr sie sich über die Stirn.

»Gnädiges Fräulein«, sagte Emma in der Balkontür stehend, »der Herr Doktor!« Damit verschwand sie wieder.

Nicht auch noch der Doktor. Müde hob Margarethe den Kopf. Schon diese kleine Bewegung erschien ihr wie eine unmenschliche Anstrengung. Ein höfliches Lächeln konnte sie sich nicht auch noch abringen.

Er war allein. Das war neu. Sonst begleitete ihn immer ihre Mutter, wenn er seine Visite machte. Es war ihr gleich.

Sie hörte nicht auf seine Worte der Begrüßung, antwortete nicht auf die Frage nach ihrem werten Befinden. Was sollte das alles. Ein Tag war wie der andere – eine endlose graue Qual.

Doktor Schneider bat sie ins Zimmer, war ihr beim Aufstehen behilflich, führte sie zu einem Sessel und schloss die Balkontür. Dann zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr. Wie üblich griff er nach ihrer Hand und fühlte ihren Puls, beobachtete dabei den Zeiger seiner Taschenuhr. Sie ließ es über sich ergehen. Was für ein Affenzirkus. Als ob ihr mit Pulsfühlen zu helfen wäre. Als ob ihr überhaupt zu helfen wäre. Als ob sie es verdiente, dass man ihr half.

Wenn es nur endlich ein Ende hätte. Ihr Blick suchte die Balkontür. Zweiter Stock. Unten die Blumenbeete. Nein, das war nicht hoch genug. Aber aus der Turmstube oben, über der Eingangstreppe – die steinernen Stufen …

»Manchmal hilft es, wenn man sich etwas von der Seele spricht«, sagte Doktor Schneider. Arztstimme. Ruhig, sicher, professionell mitfühlend wie immer. Aber diese Worte! Es war, als drängen sie durch einen Schleier mitten in ihr Herz.

Sie sah zu ihm. »Woher wissen Sie …«, fragte sie.

Er erwiderte ihren Blick ohne eine Spur von einem Lächeln. »Ich habe Augen«, antwortete er. »Etwas bedrückt Sie. Etwas bedrückt Sie so stark, dass Sie nicht wieder gesund werden, obwohl der Infekt längst überwunden ist.«

Sie schwieg.

»Ich habe einen Eid ablegt«, fuhr er fort. »Nichts, was Sie mir sagen werden, wird irgendjemand anderem zu Ohren kommen. Nichts.«

Sie schwieg.

»Oder wenn es Ihnen lieber ist, sich Ihrem Pastor anzuvertrauen …«, fuhr er fort.

Sie schüttelte den Kopf. »Sagen Sie«, begann sie zögernd. Wie fremd ihre Stimme klang, farblos und blechern, schleppend, von weit her. »Haben Sie auch arme Patienten? Arbeiterinnen? Leute aus dem Hinterhof?«

»Ja. Seit einiger Zeit arbeite ich auch als Kassenarzt.«

Schweigen. Tastend begann sie endlich, jedes Wort mit unendlicher Mühe formend: »Diese Kellerwohnungen, nass, vermodert, stinkend – wenn ein Säugling in so einer Wohnung lebt …« Sie konnte nicht weitersprechen. Schließlich brachte sie beinahe tonlos hervor: »Wird er – sterben?«

Der Arzt sagte nichts. Seine Augen ruhten forschend auf ihr.

Da plötzlich überstürzten sich ihre Worte: »Sie müssen mir die Wahrheit sagen, Herr Doktor, als Arzt, als Wissenschaftler. Sie sind doch verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, nicht wahr?« Verzweifelt starrte sie ihn an.

Er rieb sich den Nasenrücken. »Wozu ich verpflichtet bin, wollen wir dahingestellt sein lassen. Aber ich werde Ihnen die Wahrheit sagen – wenn Sie mir versprechen, dass Sie mir dafür erklären, was Sie an dieser Frage so belastet.«

Sie nickte stumm.

»Nun denn. In den schlimmsten Wohnquartieren von Berlin beträgt die Säuglingssterblichkeit rund fünfundvierzig Prozent. In den besten rund zehn Prozent. Die Zahlen sprechen für sich, die Interpretation ist schwierig. Da spielt neben vielen Faktoren wie der Gesundheit der Mutter, der Hygiene, der Versorgung und der Ernährung mit Sicherheit auch die Wohnqualität eine Rolle, aber das ist wissenschaftlich schwer zu beziffern. Ich will Ihnen jetzt nicht mit den konträren Ansichten von Pettenkofer und Koch kommen, Sie mit medizinischen Streitfragen verschonen. Also, summa summarum – die Chancen eines Säuglings, das erste Lebensjahr in so einem Kellerloch zu überleben, sind in etwa halbe-halbe.«

»Und«, vergebens versuchte sie, durch Schlucken ihren Gaumen zu befeuchten, ihr Hals war so trocken, dass sie kaum einen Ton herausbekam, »wenn er nun schon schwer geschwächt ist, so sehr, dass er gar nicht mehr schreit, nur noch wimmert, und man ihn dann da rausholt, ärztliche Versorgung, eine gute Wohnung, gute Milch …« Sie verstummte.

Doktor Schneider legte ihr die Hand auf den Arm. »Sie waren in so einer Wohnung?«, fragte er leise. »Im Auftrag des Wohltätigkeitsvereins? Sie haben einen solchen Säugling gesehen? Und er ist gestorben?«

Sie nickte. »Ich habe es den Damen des Wohltätigkeitsvereins gesagt«, flüsterte sie, »ich habe es immer wieder gesagt, aber es war kein Geld für die Nähmaschine da, Anna Brettschneider wollte eine Nähmaschine, damit sie Geld verdienen könnte, aber …« Sie brach ab. Und dann schrie es aus ihr: »Ich habe nichts getan! Irgendwann habe ich es einfach vergessen! Erst als Ihre kleine Tochter, als sie im Tiergarten ihren Mantel verschenkt hat, ist es mir bewusst geworden, da habe ich meinen Ring verkauft und bin wieder hin und habe das Geld gebracht, aber das Kind, das Kind …« Sie weinte.

»… war tot«, sagte Doktor Schneider still. »Ja. So ist das.«

Sie schwiegen beide. Und in diesem Schweigen änderte sich etwas, langsam, unmerklich. Auf einmal konnte sie wieder freier atmen.

»Hätten Sie den Säugling retten können, wenn ich Sie sofort geholt hätte? Und wenn ich für eine anständige Wohnung und Ernährung gesorgt hätte?«

Er hob die Schultern. »Das kann ich nicht beantworten, Baronesse, weil ich den Säugling nicht gesehen habe. Aber ich vermute, ich hätte es nicht gekonnt – und Sie auch nicht.«

Sie sah ihn an, keinen Blick mehr wandte sie von seinem Gesicht. Eine unendliche Müdigkeit drückte sich darin aus, als er fortfuhr: »Meine Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Oft sitze ich am Bett eines sterbenden Kindes und kann nichts tun. Oft kann ich nur noch den Tod feststellen. Oft ist nicht mehr wettzumachen, was den Verfall zum Tode hin eingeleitet hat. Manches Mal ist es mir schon so gegangen, wie es Ihnen jetzt geht: dass ich mich gefragt habe, ob ich etwas unterlassen habe, ob ich etwas hätte tun können, um das Kind doch noch zu retten.«

Er auch? O Gott. Und sie hatte gedacht, die Einzige zu sein.

»Oft aber, unendlich oft, spüre ich einen hilflosen Zorn«, sagte Doktor Schneider. »Denn es sind nicht nur die einzelnen Ärzte, die versagen, die einzelnen Mütter, die ihre Kinder sträflich vernachlässigen, sie tagelang im Schmutz liegen lassen, weil sie keine Zeit und keine Kraft haben, sie zu versorgen – es sind vor allem die Verhältnisse. Mit der Muttermilch trinken die Kleinen das Gift, dem die Mutter in der Fabrik ausgesetzt ist, den Tabak im Blut der Zigarrenfabrikarbeiterin, das Blei im Blut der Arbeiterin in der Spiegelfabrikation. Und wenn durch Hunger und Überlastung der Mutter der Milchstrom versiegt oder die Mutter nicht stillen kann, weil sie außer Haus arbeiten muss, drohen durch die mangelhafte und unhygienische Flaschennahrung die Gefahren der tödlichen Säuglingsdiarrhö. Ach, tausend Beispiele könnte ich aufzählen! Tausende Kinder sterben Tag für Tag in Deutschland, ohne dass sie sterben müssten!«

»Aber dieses eine«, sagte Margarethe leise.

Er nickte. »Ja. Dieses eine. Ich weiß, was Sie meinen. Ich weiß. Hatte es denn noch Geschwister?«

Margarethe lächelte. »Ja, die hatte es. Und für die habe ich gesorgt. Ich habe Anna Brettschneider das Geld für eine Nähmaschine und für eine bessere Wohnung gegeben.«

 

»Das ist gut, Baronesse.« Er nahm ihre Hand und drückte sie fest. »Ich glaube, Sie werden rasch wieder gesund werden müssen, um bei dieser Anna Brettschneider nach dem Rechten zu sehen.«

Das erste Mal war sie heute nach ihrer Erkrankung wieder unter Menschen. Emma hatte ihr ein Kleid enger nähen müssen, damit sie sich überhaupt sehen lassen konnte. Sie war sehr schmal geworden und sehr schwach. Stundenlang aufrecht auf einem Stuhl sitzen zu müssen, bedeutete eine schier unerträgliche Anstrengung. Aber diesen Abend durfte sie sich nicht entgehen lassen. Ihre Mutter hatte Frau Sieglinde Höhl eingeladen, vor den Damen des Wohltätigkeitsvereins einen Vortrag über ihr Sozialwerk zu halten – Frau Höhl, die junge Frau eines reichen Fabrikanten, die ihr Leben nicht zwischen Salon, Oper und Ballsaal verplemperte, sondern die ihre ganze Kraft dafür einsetzte, die Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen der Fabrik ihres Gatten zu verbessern, vor allem aber die Lebensbedingungen der Kinder dieser Familien.

Eine Frau, die nicht nur sentimentale Reden über die Not der armen Kinder schwang wie die meisten Damen der Gesellschaft. Eine Frau, die etwas tat. Das musste sie hören.

Sie musste sich vorbereiten auf ihren nächsten Besuch bei Anna Brettschneider. Und mehr als das – da war die Sehnsucht, ein Ziel zu finden. Ihr Ziel, für das es sich zu leben lohnte. Sie hatte so viel wiedergutzumachen. Wozu eigentlich war sie eine Tochter aus reichem Haus, die eines Tages über erhebliche Mittel verfügen würde? Eines Tages, wenn sie es geschickt anstellte und nicht einen Gatten wählte, der ihr Geld nach seinem Gutdünken verwaltete und ihr den Zugriff darauf entzog!

Gespannt hing sie an den Lippen von Frau Höhl. Eine ganz und gar damenhafte, elegante Erscheinung, eine Frau kaum über dreißig, wie man sie in einem Nobelrestaurant oder in der Theaterloge zu sehen erwartete und nicht in den Elendsquartieren der Arbeiter. Doch genau davon sprach sie: Wie sie kurz nach ihrer Verehelichung die Wohnungen der Arbeiterinnen und Arbeiter aufgesucht hatte, die in der Fabrik ihres Gatten arbeiteten. Immer und immer wieder meinte Margarethe eine Schilderung der Wohnung zu hören, in der sie Anna Brettschneider angetroffen hatte. Es trieb ihr die Tränen in die Augen.

»Kleinkinder, die mit Stricken ans Tischbein gefesselt sind, während die Mutter in der Fabrik arbeitet und sie nicht beaufsichtigen kann – vor Hunger und Durst brüllende Säuglinge in Wickelbänder geschnürt, die seit Tagen nicht mehr aufgebunden wurden und schon von Schmutz ganz durchtränkt sind – Zwei-, Dreijährige, die sich allein oder inmitten einer Horde mehr oder weniger Gleichaltriger in der Gosse aufhalten, ohne dass je ein Erwachsener nach ihnen sieht – sechs-, siebenjährige Schulkinder, die am Nachmittag niemand zu den Schularbeiten anhält – Achtjährige, die sechs oder acht Stunden am Tag Botendienste leisten oder als kleine Hausmütterchen neben der Schule schon einen ganzen Haushalt und ihre jüngeren Geschwister versorgen müssen – ach, was habe ich nicht alles angetroffen! Doch wem erzähle ich das, meine sehr verehrten Damen! Sie alle, die sich für die Wohltätigkeit einsetzen, Sie alle kennen solche Beispiele und wissen, dass es keine Ausnahmen sind.«

Zustimmendes Nicken und Murmeln im Auditorium. Margarethe verschränkte die Hände ineinander, um des Zitterns Herr zu werden, das sich ihrer bemächtigt hatte.

»Leicht ist es, den Müttern die Schuld zuzuschieben, wenn ein Kind sich lebensgefährlich mit kochendem Wasser verbrüht, weil niemand es vom Herd ferngehalten hat, wenn ein Säugling stirbt, weil es ihm an Pflege und Nahrung gemangelt hat oder weil er unter dem Bettzeug erstickt ist, das die Mutter aus Sorge, er könnte sich losstrampeln und verkühlen, am Bett festgebunden hat. Leicht ist es, zu sagen: Die Mütter sind schuld. Aber Sie, meine Damen, Sie wissen wie ich: Wie soll denn eine Frau, die täglich zehn, elf Stunden in der Fabrik arbeiten muss, weil das Geld des Ehemannes zum Leben der Familie nicht ausreicht, die in der Mittagspause den Weg nach Hause hetzt, um den Kindern rasch eine Mahlzeit aufzuwärmen, und dabei kaum Zeit hat, selbst ein paar Bissen hinunterzuschlingen, wie soll denn eine solche Arbeiterin für ihre Kinder sorgen, wie es notwendig wäre? Und selbst wenn die Männer das nicht verstehen – wir Frauen, wir verstehen es und das Herz dreht sich uns im Leibe um, wenn wir an all die Kinder denken, die täglich sterben und doch leben könnten.«

»So ist es«, stimmte Margarethes Mutter laut zu. Margarethe nickte stumm und wischte sich die Tränen von den Wangen. So war es, genau so.

Begierig hörte sie zu, wie Frau Höhl nun schilderte, wie sie zu dem Entschluss gekommen sei, ein Sozialwerk zu stiften, das sich der Kinder aus den Arbeiterfamilien der Fabrik ihres Gatten annehmen sollte, wie sie die Zustimmung und volle Unterstützung ihres Gatten erhalten habe, wie sie das erste Säuglingsheim und die erste Kinderkrippe gegründet habe, in welche die Arbeiterinnen ihre Kinder von morgens bis abends bringen konnten.

»Was für eine Freude ist es, in dem lichten, luftigen Raum durch die Reihen der Stubenwagen zu gehen, in denen die Säuglinge frisch gebadet, in reiner weißer Wäsche liegen«, schwärmte Frau Höhl. »Denn morgens als Erstes werden die Kinder von den Fetzen entkleidet, in denen sie liegen, werden täglich gebadet und in saubere Wäsche gekleidet. Und natürlich wird bei der Zubereitung der Flaschennahrung auf Milch bester Qualität und auf allerhöchste Hygiene geachtet. Die Statistik gibt uns recht – die Säuglingsdiarrhö ist selten in unserem Heim. Und dann die Krippe: auch hier Ordnung, Licht, Luft, Sauberkeit. Wie die Kleinen hintereinander aufgereiht im Laufställchen stehen, während die Erzieherin ihnen vorliest oder Lieder mit ihnen singt und Fingerspiele mit ihnen macht – allerliebst. Läuse, Flöhe und andere ungebetene Gäste werden mit großem Erfolg bekämpft, die Ernährung ist abwechslungsreich, die Kleinen haben rote Wangen, ein Arzt überwacht ihre Entwicklung. Was für ein Gegensatz zu den hohläugigen, bleichen Kindern der Kellerwohnungen!«

Das ist es, dachte Margarethe. Wenn ich in diesem Sinne tätig werde, dann ist das Kind von Anna Breitschneider nicht umsonst gestorben, dann kann ich an seiner Stelle unzählige andere retten. Doch wie das erreichen? Ich habe kein eigenes Geld. Und bin nicht die Gattin eines Fabrikanten mit Neigung zur Wohltätigkeit. Was für ein Glück diese Frau Höhl hat, dass ihr Mann sie so uneigennützig unterstützt! Das ist fast ein Wunder.

Gespannt hörte sie dem Bericht von Frau Höhl zu, wie diese ihr Sozialwerk immer weiter für die Arbeiterfamilien der Fabrik ihres Gatten ausgebaut hatte: der Kindergarten, der Hort für Schulkinder bis zu zehn Jahren, das Wohnheim für alleinstehende Arbeiterinnen, das im Bau befindliche Wohnheim für junge Männer, der fabrikeigene Krämerladen, der bequem alle täglichen Bedürfnisse der Arbeiterfamilien deckte, und schließlich die Pläne für Arbeiterwohnungen: Jede sollte mit Küche, Stube, Kammer und einer kleinen Parzelle Land zur Selbstversorgung ausgestattet werden, das passende Grundstück dazu wurde noch gesucht.

Was für ein Werk! Etwas anderes als die Almosen, die der Wohltätigkeitsverein ihrer Mutter aufbringen konnte.

Die Mutter schien dies auch so zu empfinden, sie sah etwas mitgenommen aus, als sie am Ende des Referates mit einer kleinen Rede der Vortragenden für ihre beeindruckenden Ausführungen dankte und ihre Hochachtung sowie persönliche Ergriffenheit zum Ausdruck brachte.

Die Versammlung löste sich auf, zum zwanglosen Plaudern und Teetrinken wechselten die Damen vom im reinen Renaissancestil möblierten Musiksaal durch das Speisezimmer mit seiner dunklen barocken Pracht in den hellen Salon. Ganz im Stil des Rokoko war er gehalten und brachte durch seine in Rosenmustern bemalten Seidentapeten, die zierlichen Sessel mit den vergoldeten Armlehnen und die Anordnung exquisiter Porzellanfiguren eine betont weibliche Note zum Ausdruck. Wie deplatziert, ja geradezu abstoßend erschien Margarethe auf einmal dieser in jedem Detail der Einrichtung ihres Elternhauses zum Ausdruck kommende Reichtum! Nach einem solchen Vortrag …

Mit der Teetasse in der Hand suchte Margarethe Frau Höhl. Sie musste mit ihr ins Gespräch kommen. Vielleicht gab es ja die Möglichkeit, sich die sozialen Institutionen von Frau Höhl anzusehen, um eines Tages selbst Ähnliches aufbauen zu können? Sie atmete tief. Ihre Schwäche war wie weggeblasen.