Es war in Berlin

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Clara schluckte. »Aber – wo willst du denn hin?«, fragte sie ungläubig.

Jette stand auf. Ganz ruhig und entschlossen war sie auf einmal. »Zu meinem Bruder Fritz. Der hat es mir schon lange angeboten. Verlass ihn, hat er immer zu mir gesagt, gib dem Säufer den Laufpass und zieh mit den Kindern zu mir. Und genau das tu ich jetzt. Fritz ist nicht verheiratet, er hat ein Zimmer mit Küche in Friedrichshain, da wohnt er ganz allein. Ich führ ihm die Wirtschaft. Das hat er mir bestimmt schon hundertmal vorgeschlagen. Aber jetzt tu ich es, jetzt tu ich es wirklich!«

»Und wann?«, fragte Clara. Ganz benommen war ihr vor dieser plötzlichen Entschlusskraft der Nachbarin.

»Heute noch!«, erwiderte Jette mit Nachdruck. »Und die Nähmaschine, die lös ich aus, Fritz borgt mir das Geld dafür, das weiß ich genau, er verdient nicht schlecht als Dreher. Er wollte mir bisher nur kein Geld geben, weil er Willy nicht auch noch aushalten will, diesen Schläger, der mich halb totprügelt, hat er immer gesagt. Recht hat er gehabt. Aber jetzt wird alles anders. Ich arbeite den Preis für die Nähmaschine ab und geb Fritz das Geld zurück, und dann trag ich meinen Teil zum Haushaltsgeld bei, denn aushalten lassen will ich mich nicht von meinem Bruder. Man hat doch seinen Stolz. Auch wenn einem den der eigene Mann fast aus dem Leib geprügelt hat. Aber das hat jetzt ein Ende!«

»Mein Gott«, flüsterte Clara und sah die Nachbarin voll fassungsloser Bewunderung an. Dann wiederholte sie noch einmal lauter: »Mein Gott! Was du dich traust!«

Einen Tag wie diesen hatte sie noch nie erlebt. Nicht einmal geträumt hatte sie davon – denn wie sollte man von etwas träumen, wovon man gar nicht ahnte, dass es das gab?

Dass ein Mensch fliegen konnte …

Wenn die Arbeiter in der Druckerei davon sprachen, hatte sie immer geglaubt, sie machten Scherze. Aber heute hatte sie es gesehen, mit eigenen Augen. Und nicht nur das. Dieser ganze Sonntag war ein einziges glückliches Abenteuer.

Während die Eltern in der Kirche saßen, war sie mit Johann einfach auf und davon. Mit der Bahn bis nach Lichterfelde. Lisa war die Einzige, die es wusste. Lisa anzulügen, das brachte sie nicht über sich. Aber sie hatte der Schwester eingeschärft, den Eltern zu sagen, sie sei zu Jenny in deren Garten. Und da die Eltern im ganzen Flur die Einzigen waren, die noch in die Kirche gingen, hatte sie auch bei den Nachbarn herumerzählt, dass sie zu Jenny wolle, weil die Hilfe bei der Erdbeerernte und beim Unkrautjäten brauche. Damit die Eltern von den Nachbarn das Gleiche hörten wie von Lisa.

Jette hatte sie es nicht mehr erzählen können, Jette war am Vortag allen Ernstes ausgezogen. Wie Willy mitten in der Nacht getobt hatte, als er aus dem Wirtshaus heimgekommen war und Frau und Kinder verschwunden waren! In seiner Wut hatte er das Wenige an Hausrat zertrümmert, was Jette zurückgelassen hatte.

Clara schüttelte sich. Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Lieber ans Fliegen. Und dass Johann sie zu diesem einzigartigen Erlebnis eingeladen hatte: einen Menschen fliegen zu sehen.

Die Mädchen früher in der Spinnerei hatten oft gesagt, ein Mann wolle immer nur eins: dass man die Beine für ihn breit mache. Und wenn er das bekommen habe, dann wolle er nur noch sein Bier.

So war Johann nicht. Natürlich wollte er das eine auch, ganz verrückt war er danach, vor allem, wenn sie sich gemeinsam immer was Neues einfallen ließen, wie man es machen konnte. Aber dass er dann nur noch sein Bier wollte, so war er nicht. Er wollte, dass sie etwas erlebte, dass sie sich bildete und dass sie glücklich war.

Sie war sehr glücklich.

Mit einem wohligen Seufzen drückte sie sich an ihn, während sie an seinem Arm im Schatten der Bäume durch die Allee ging. Lächelnd blickte er zu ihr herunter. »Na, du«, sagte er, »hat es dir gefallen?«

»Und ob! Am liebsten würde ich jeden Sonntag wieder herkommen und zusehen, wie dieser Herr Lilienthal in seiner Flugmaschine den Berg herunterfliegt. Ich hab es mir ja nicht vorstellen können. Dass er nicht Angst hat, abzustürzen und sich den Hals zu brechen! Er fliegt doch mindestens zehn oder zwanzig Meter hoch über dem Erdboden.«

»Fünfzehn«, erwiderte Johann. »So hoch ist jedenfalls der Berg, den er sich für seine Flugexperimente hat aufschütten lassen.«

Sie starrte ihn an. »Aufschütten? Den ganzen Berg?« Dann lachte sie und stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Du nimmst mich auf den Arm!«

»Nein, nein, im Ernst. Er hat den Berg wirklich aufschütten lassen.«

»Was das kostet«, murmelte Clara, tief beeindruckt.

»Bestimmt nicht mehr als eine dieser Villen hier«, meinte Johann mit einer Kopfbewegung zu einem Haus hin, das mit seinen Türmchen, Erkern, Altanen und Zinnen wie eine mittelalterliche Burg zwischen den Bäumen des parkähnlichen Gartens hindurchschimmerte.

»Ja, die ist ja auch so schön«, seufzte Clara auf. »Überhaupt all die Villen hier: eine prächtiger als die andere! Und dann die Plätze und die großen Gärten und der Brunnen da vorne!«

Eine steile Falte bildete sich auf Johanns Stirn, Clara sah es mit Erschrecken. Hatte sie etwas Falsches gesagt? »Das ist alles gebaut mit dem Schweiß der Arbeiter, und oft genug mit ihrem Blut«, erwiderte er heftig. »Otto Lilienthal, der widmet sein Geld wenigstens der Wissenschaft, dem Fortschritt, der Technik, und eines Tages werden seine Experimente Früchte tragen, von denen wir heute noch nicht einmal zu träumen wagen. Aber die feinen Herrschaften hier! Die meisten von ihnen tun nichts und verprassen das Geld, das ihre Väter angehäuft haben oder das aus dunklen Aktiengeschäften stammt. Die anderen geben sich abends als humanistisch gebildete Menschenfreunde und treiben tagsüber ihre Arbeiter gnadenlos in unmenschlichen Akkord. Das erfährst du doch am eigenen Leib, was es heißt, tagein, tagaus an so einer Maschine zu stehen und kaum genug zum Essen dafür zu verdienen, geschweige denn zum Leben!«

»Ja«, stimmte sie zu, verschüchtert über seinen aufgebrachten Ton, »vor allem in der Spinnerei. In der Druckerei ist es ja besser, da verdiene ich gut.«

»Gut?!« Er lachte bitter. Doch dann zog er sie enger an sich. »Ist schon recht, mein Schatz. Ich wollte dich nicht ängstigen. Mit mir geht manchmal der Zorn durch, wenn ich so etwas sehe wie diesen maßlosen Reichtum hier und habe doch aus unserer Mietskaserne das Elend im Kopf. Aber lassen wir das. Weißt du was, wir wandern jetzt immer weiter, an der neuen Kadettenanstalt und all diesen Prachtbauten und Prachtanlagen vorbei, durch den Botanischen Garten hinaus ins Freie. Da gibt es bestimmt irgendwo, weitab von den Garde-Leutnants, eine Wirtschaft für einfache Leute unter schattigen Bäumen, dort lade ich dich ein. Musst doch längst Durst haben und Hunger. Ich jedenfalls bin am Verdursten.«

»Ja, aber«, sie stockte, »ist das nicht zu teuer?«

Johann zuckte die Achseln. »Und wenn schon! Mein Drama ist uraufgeführt worden. Es wurde zwar schon nach der zweiten Aufführung wieder abgesetzt, aber trotzdem – ein bisschen Geld hat es mir schon gebracht.« Was ein Drama und eine Uraufführung war, wusste sie nicht, und diese Blöße wollte sie sich vor ihm nicht geben, sonst verlor er womöglich noch die Lust, ihr etwas zu erzählen.

»Außerdem habe ich für ein paar Pfennige ein Gedicht verkauft«, fügte Johann hinzu, als mache er sich über sich selbst lustig.

»Ein Liebesgedicht?«, fragte sie. Ihr Herz klopfte: Wenn es ein Liebesgedicht war, dann galt es ihr …

»Wo denkst du hin! Ich bin doch kein Romantiker! Nein, Liebesgedichte sind nicht mein Metier.« Wie schroff das klang!

»Ich dachte ja nur«, murmelte sie hilflos. Warum zitterte ihre Stimme auf einmal?

Er griff ihr in den Nacken und spielte mit ihrem Zopf. »Liebe mache ich lieber, als sie zu bedichten! Da hat man auch viel mehr davon.« Er lachte. Erleichtert stimmte sie in sein Lachen ein.

»Wenn wir gegessen und getrunken haben, suchen wir uns im Wald ein lauschiges Plätzchen, du weißt schon«, verhieß er. Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, was er meinte. Sie spürte, wie die Röte in ihre Wangen zog. Er lachte zärtlich. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Wenn er sie jetzt küssen wollte, mitten auf der Straße am helllichten Sonntag im nobelsten Lichterfelde, sie würde es tun. Aber leider war er zu vornehm dafür.

Im Botanischen Garten zeigte er ihr immer wieder seltene und schöne Pflanzen. Sie konnte sich gar nicht sattsehen an der Pracht der blühenden Rosen.

»Merkst du, wie Schönheit glücklich macht?«, fragte er leise. »Glücklich von innen heraus. Ich träume von einer Zeit, in der es nichts Hässliches und Elendes mehr geben wird, in der Schönheit jeden Menschen umgibt. Jeden – nicht nur die Reichen! Schönheit der Natur und Schönheit der Kunst, der Architektur, der Gebrauchsgegenstände, der gesamten Kultur – alles miteinander vereint. Ich meine, manche Krankheit ließe sich damit heilen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Dann brach er eine rote Rose ab und steckte sie an ihr Kleid. »Schönheit zu Schönheit!«, sagte er und streichelte ihr über die Wange.

Clara nahm sich vor, diesen Augenblick niemals zu vergessen, niemals, ihr ganzes Leben nicht. Denn vielleicht würde er der glücklichste Augenblick überhaupt sein.

»Da brennt ja noch Licht in unserer Küche«, flüsterte Clara erschrocken und schaute zu dem erleuchteten Fenster hinauf. Noch einmal zählte sie die Fenster: ihre Küche, kein Zweifel. »Meine Eltern gehen doch sonntags immer bald schlafen – und jetzt ist es schon weit nach Mitternacht.«

»Vielleicht ist es ja nur Lisa, die vergessen hat, das Licht zu löschen«, versuchte Johann sie zu beruhigen.

 

Clara schüttelte den Kopf. »Nie und nimmer. So eine Verschwendung begeht keiner von uns. Es sind meine Eltern. Sie warten auf mich. Und was das heißt, das kann ich mir denken.«

»Soll ich dich nach oben begleiten?«, fragte Johann vorsichtig.

»Ach nein. Das macht doch alles nur noch schlimmer!«, erwiderte sie. Sie hörte selbst, wie schrill ihre Stimme auf einmal war.

»So schlimm?«, fragte Johann leise. »Sehen deine Eltern das so eng?«

Sie nickte und presste die Fäuste an die Wangen. Was wusste er schon von ihrem Vater.

»Willst du mit zu mir?«, schlug er vor. »Ich gebe dir gerne Asyl.«

»Wie stellst du dir das vor! Dann brauch ich gleich gar nicht mehr nach Hause zu kommen!« Beinahe schrie sie ihn an. So ein wundervoller Tag. Und nun das.

»Tut mir leid, dass ich dich in Schwierigkeiten bringe«, murmelte Johann. »Das wusste ich nicht. Bei manchen Familien hier aus den Hinterhöfen kräht kein Hahn danach, wenn die Tochter spät in der Nacht nach Hause kommt – oder gar nicht.«

»Wir sind aber nicht so! Wir sind auch nicht schon immer hier in Berlin! Wir sind aus Schlesien«, sagte sie heftig.

»Und katholisch«, ergänzte er.

»Was hat denn das damit zu tun!«, fuhr sie ihn an.

»Schon gut! Schon gut!« Er machte einen Schritt zurück und hob die Hände, als wolle er sich der Polizeigewalt ergeben. Diese Geste war es, die sie wieder zur Besinnung brachte.

»Ach was«, sagte sie und warf den Kopf zurück. »Was kann er schon tun! Und außerdem verdiene ich das Geld für die Miete.«

Johann lachte. »So gefällst du mir. Ich sag's ja: die Jeanne d'Arc der Hinterhöfe! Also, dann auf in den Kampf, Jeanne d'Arc! Ich geh dann, ja?«

Sie nickte. »Und nächsten Sonntag treffen wir uns wieder!«, erklärte sie voll Trotz.

»Das will ich doch hoffen!« Er gab ihr einen letzten Kuss und verschwand.

Vorsichtig schlich sie die Treppe hinauf. Sie wusste, dass es eine widersinnige Hoffnung war, und doch betete sie, die Eltern mögen schlafen, bis sie leise die Küchentür öffnete.

Da saßen sie am Küchentisch und starrten ihr entgegen in bedrohlich eisigem Schweigen. Lisa aber, die schon im Bett gelegen hatte, mit dem Kopf zur Wand gedreht, richtete sich im Bett auf und sah sie an. Ihre Augen waren verweint, ihr Gesicht verschwollen. Ein Kloß bildete sich in Claras Hals.

Es ist meine Schuld. Ich hab sie gebeten, für mich zu lügen, dachte sie. Und ich weiß doch, wie Vater ist.

Der Knoten in Claras Hals wuchs und wuchs.

»Jenny ist am Nachmittag hier gewesen und hat nach dir gefragt«, sagte Lisa heiser. Sie zog die Knie an, kauerte sich hin, umschlang die Beine mit den Armen. Auch ihre Oberarme zeigten ins Violette gehend die Spuren der Gewalt. Da platzte der Knoten.

Clara fuhr zu ihrem Vater herum. »Warum hast du sie geschlagen!«, schrie sie. »Du weißt doch, dass sie nichts dafür kann! Ich hab ihr gesagt, ich geh zu Jenny! Was kann sie dafür, wenn's anders war! Was kann sie dafür, wenn ich lügen muss, weil ihr mir das Leben nicht gönnt, die Liebe und das Glück!«

Der Vater erhob sich. Sie sah die Wut, das leichte Schwanken, und wusste, dass er getrunken hatte. Aber die Angst war wie weggeblasen.

»Am liebsten würdest du mich einsperren!«, schrie sie ihn an. »Und dabei werd ich bald achtzehn und bring Geld nach Hause und lass mich nicht mehr behandeln wie ein Kind!«

»Du Hure«, keuchte er schwer und kam hinter dem Tisch hervor. »Du bringst Schande über dich und die ganze Familie!«

»Hure?!« Sie lachte wild. »Wie war es denn, als ihr jung wart, Mutter und du? Wer hat denn erst geheiratet, als ich schon längst unterwegs war?«

Er ging auf sie los, in blinder Wut, mit erhobenem Arm, mit geballter Faust. Sie duckte sich unter ihm weg. Die Zeiten waren vorbei, dass sie sich widerstandslos von ihm schlagen ließ.

Durch den Schwung seiner ungebremsten Bewegung kam er ins Straucheln und stolperte vorwärts, stieß gegen das Büfett, konnte sich eben noch auffangen. Schwer atmend stand er vornübergebeugt, den Kopf an die Schranktür gelehnt. Dann begann der Husten.

Clara hatte ihren Vater schon oft husten hören. So aber noch nie. Das war ein Husten, der anscheinend nie mehr aufhören konnte, der die Brust zerriss, der aus den Eingeweiden kam, unterbrochen nur von pfeifendem Atemholen. Blut stürzte aus seinem Mund, hellrot schäumendes Blut, Blut rann ihm den Hals hinab, besudelte sein Hemd, bespritzte den Schrank.

»Jesus, Maria!«, wimmerte die Mutter ein ums andere Mal, fasste den Vater an den Schultern, hielt ihm die Spülschüssel hin.

»Es tut mir leid, Vater«, flüsterte Clara. »Es tut mir so leid.«

Dann setzte sie sich auf das Bett, zog Lisa an sich und barg deren Kopf an ihrer Schulter, damit die Schwester das Blut nicht sehen musste.

Dieser Blick der Mutter zum Abschied am Morgen, der bittere, stumme Vorwurf: Du bist schuld.

Gesagt hatte die Mutter es nicht. Gesagt hatte sie nur: »Er kann nicht in die Fabrik. Er muss zum Doktor. Was soll denn jetzt werden!«

Ja – was sollte jetzt werden?

Zweimal war der Vater in diesem Jahr schon krank gewesen, Wochen voller Mangel, Wochen, in denen sie Schulden beim Krämer hatten machen müssen. Die Notgroschen der Mutter waren aufgebraucht. Was, wenn es diesmal länger dauerte als sonst, bis er wieder Geld verdienen konnte? So viel Blut hatte der Vater noch nie gespuckt.

Das war keine Erkältung mehr. Das war …

Nein, nicht das Wort denken. Nicht zulassen, dass es Besitz von ihr ergriff!

Trotzdem war es da, das Bild einer Familie ohne Ernährer. Lisa, die drei kleinen Brüder, Kalle noch keine drei Jahre. Den konnte man doch noch nicht sich selbst überlassen! Es ging nicht, die Mutter konnte nicht in die Fabrik, würde sich und die Familie weiter mit der miserabel bezahlten Heimarbeit durchbringen müssen.

Sie wusste, wie es enden würde: Die Mutter würde noch mehr Heimarbeit annehmen, viel mehr, als sie alleine schaffen konnte, selbst wenn sie sich nicht mehr als vier Stunden Schlaf gönnte. Lisa und sie selbst würden der Mutter bei der Heimarbeit helfen müssen. Abend für Abend, Sonntag für Sonntag würden sie in der Küche sitzen und Kaschmirfäden vernähen. Kein Tag würde mehr bleiben für Johann, kein Abend.

Das ging nicht. Das hielt sie nicht aus.

Einen Augenblick dieser wahnwitzige Gedanke: Ich zieh einfach aus. Ich zieh zu Johann. Wenn wir zusammenlegen, was wir verdienen, dann geht es uns gut, dann können wir uns sogar ein besseres Zimmer nehmen, als Johann jetzt hat.

Das Blut schoss ihr in den Kopf: Wie konnte sie nur so etwas denken! Die Mutter im Stich lassen, die kleinen Brüder, und vor allem Lisa! Wollte sie etwa, dass ihre Familie in so einem Kellerloch hauste wie Anna Brettschneider? Und es sich selbst derweil gut gehen lassen mit Johann? Und überhaupt – würde er es denn wollen? Und wie stünde sie da: in wilder Ehe!

Ach was, mehr als ein Paar lebte hier im Hinterhof ohne Trauschein zusammen! Doch mit ihren Eltern war das nicht zu machen, unmöglich. Wer konnte wissen, wozu ihr Vater da fähig war!

Aber – ihr Atem ging schneller – warum eigentlich ohne Trauschein? Wenn Johann sie heiraten würde, dann wäre alles in Ordnung. Dann könnte ihr Vater sie nicht mehr eine Hure nennen. Dann hätte er keinen Grund mehr, auf sie loszugehen. Alles würde sich lösen.

Und sie müsste sich auch keine Vorwürfe machen, dass sie ihre Familie im Stich ließ. Niemand erwartete, dass eine verheiratete Tochter ihre Eltern und Geschwister durchbrachte. Lisa könnte sie zu sich holen. Bestimmt wäre Johann damit einverstanden. Lisa würde nicht stören.

Aber wenn Johann sie nicht heiratete?

Sie wollte ihn nicht, den Zweifel, sie wollte ihn zum Schweigen bringen, und doch war er da. Und sie wusste, er war berechtigt. Von Ehe hatte Johann nie gesprochen, mit keiner Silbe. Nicht einmal von Zusammenbleiben.

Er, ein gebildeter Herr, ein Studierter. Und sie, eine armselige Arbeiterin, die nichts zu bieten hatte als ihre Liebe.

Ihre Finger legten das nächste Blatt an, aber da lag noch eins in der Einführung, die Schnellpresse stand still. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass der Drucker sie abgestellt hatte, um den Zylinder mit einem neuen Aufzug zu versehen!

»Was ist denn mit dir los?«, meinte er und grinste. »Ein paar Minuten Pause lässt du dir doch sonst nicht entgehen!«

Benommen schüttelte sie den Kopf. Dann eilte sie in den Aufenthaltsraum und trank aus dem Wasserhahn, kühlte sich Gesicht und Arme, suchte den Abort im Hof auf und kehrte zurück an die Maschine. Wieder gingen die Handgriffe wie von selbst, wieder begannen sich die Gedanken zu drehen.

Hatte die Mutter womöglich recht mit ihrem stummen Vorwurf: War sie, Clara, wirklich schuld daran, dass es dem Vater so schlecht ging?

Was für ein Unsinn!, versuchte sie sich dagegen zu wehren. Nur weil er sich aufregt, spuckt keiner Blut. Außerdem – was hab ich schon getan! Nichts, was nicht die Hälfte aller Mädchen täte, die ich kenne.

Dennoch, das bohrende Schuldgefühl blieb. Könnte sie nur alles rückgängig machen! Sie presste die Zähne zusammen. Sie hätte den Vater um Erlaubnis bitten müssen, mit Johann einen Ausflug machen zu dürfen.

Aber er hätte es in seiner Rückständigkeit nicht erlaubt.

Was bildete sie sich eigentlich ein? Wie dachte sie über ihn, er war immerhin ihr Vater! Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe und du lange lebest auf Erden.

Sie hätte das nicht sagen dürfen, das vom Datum ihrer Geburt. Sie hätte nicht zurückschreien dürfen. Entschuldigen hätte sie sich müssen, dass sie gelogen hatte und dass sie heimlich mit Johann gegangen war, und sagen, dass es ihr leidtat, und so tun, als wäre weiter nichts gewesen. Und sich zusammenschlagen lassen?

Wenn der Vater nicht den Anfall bekommen hätte, wie wäre es dann für sie ausgegangen?

Was für ein Wahnsinn! Für sie selbst war es die Rettung, was für die ganze Familie die Katastrophe war: dass der Vater zusammengebrochen war.

Sie hielt das nicht aus! Alles drängte sie, zu rennen, aus der Druckerei ins Freie zu stürzen, zu laufen und zu laufen, nicht mehr denken zu müssen, mit Johann zu reden, sich zu ihm zu flüchten, nur weg hier, weg. Aber sie stand angeschmiedet mit unsichtbaren Ketten an dieser Maschine und regte keinen Fuß, tat nur immer wieder den gleichen Handgriff, noch mal und noch mal und noch mal.

Sie konnte dem Vater nicht mehr unter die Augen kommen. Wenn er bei Kräften war, musste sie Angst vor ihm haben. Wenn er aber so schwer krank war, wie es den Anschein hatte, musste sie Angst um ihn haben und um sie alle.

Am Abend, als endlich, endlich, die zehn Stunden Arbeit vorbei waren, rannte sie den ganzen Weg nach Hause. Es war ein warmer Sommertag gewesen, die Hitze hatte sich in den Straßen gestaut, die Wände strahlten sie noch ab, völlig erhitzt und außer Atem kam sie im dritten Hof der Mietskaserne an. Doch dann traute sie sich nicht die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Sie kehrte um, ging in den zweiten Hof zurück, stieg bis ins Dachgeschoss hinauf, fand Johanns Tür, klopfte. Es kam keine Antwort. Sie drückte auf die Klinke: abgeschlossen.

Wie leer gepumpt stand sie da, den Kopf an seine Tür gelehnt, hörte auf das Klopfen ihres Herzens, auf das Rauschen des Blutes. Im Flur war es unerträglich stickig und heiß. Der Schweiß rann ihr den Rücken hinunter, Rinnsale bildeten sich unter ihren Achseln. Sie wischte sich Schweiß und Tränen aus dem Gesicht. Dann ging sie langsam nach Hause.

Hoffentlich war der Vater nicht da …

Lang lauschte sie vor der Küchentür, hörte nichts, kein Schimpfen, kein Husten. Endlich wagte sie es, die Tür zu öffnen. Sie sah das gewohnte Bild – als sei es ein Tag wie jeder andere. Die Mutter und Lisa saßen jede über einen Kaschmirschal gebeugt am Tisch, der kleine Kalle hockte zu Füßen der Mutter mit dem Daumen im Mund und einem Zipfel von Mutters Rock in der Hand, den er an seine Wange drückte. Lisa blickte kurz auf, ein Blick voller Trauer und Scheu, und nähte gleich weiter, die Mutter hob nicht einmal den Kopf. Auf dem Herd kochte ein großer Topf mit Wäsche, obwohl heute überhaupt nicht Waschtag war. Seifenschwaden hingen in der Luft, der Wasserdampf mischte sich mit der Hitze des Sommertages und der Glut des Ofens, schwül war es wie in einer Spinnerei.

Schweigend setzte sich Clara auf einen Stuhl, griff nach einem Kaschmirschal, holte eine Nähnadel aus dem Nadelkissen und beteiligte sich an der Arbeit. Keiner sagte ein Wort. Es schien ihr eine Ewigkeit vergangen, als sie endlich die Worte herausbrachte: »Wie geht es Vater? Was sagt der Doktor?«

 

»Galoppierende Schwindsucht, sagt der Doktor«, erwiderte die Mutter harsch. »Lungenheilanstalt.«

Clara fuhr sich mit der ausgedörrten Zunge über die Lippen. Galoppierende Schwindsucht. Das waren die Worte, vor denen sie sich gefürchtet hatte.

Sie griff nach der Wasserkanne und dem verbeulten Blechbecher, die auf dem Tisch standen, und schüttete einen Becher Wasser in sich hinein. Es war warm und schal. »Für wie lang?«, fragte sie schließlich.

Die Mutter lachte ein kurzes, bitteres Lachen, das fast wie ein Bellen klang. »Ein halbes Jahr mindestens, hat er gesagt. Und dann – wer weiß.«

Lisa warf Clara einen Blick zu, so voll stillen Leides, dass Clara nicht wusste, wie sie diesen Blick ertragen sollte. Am wenigsten jenes Fünkchen Hoffnung, das am Grunde dieses Blickes zu glimmen schien. Als könne sie, Clara, das Geringste ändern an der Ausweglosigkeit dieser Situation.

Plötzlich begann die Mutter laut und rasch zu sprechen, die Worte überstürzten sich schier, so rasch kamen sie ihr über die Lippen, eine ganze Flut der Klage: »Der Doktor hat ihn sofort den Antrag bei der Krankenkasse ausfüllen lassen und einen Bericht dazu geschrieben, bei einem so dringlichen Fall geht es hoffentlich schnell, vielleicht schon in ein paar Tagen, dass er einen Platz bekommt, hat er gesagt, er tut, was er kann. Tut, was er kann! Ha! Er sieht nur die kranke Lunge. Aber uns hier, uns sieht er nicht. Drei kleine Kinder, die noch gar nichts verdienen, und Lisa, die noch in die Schule muss und bloß ein bisschen mitnähen kann, und dann das! Nur die Hälfte vom Lohn als Krankengeld, das ist schlimm genug für so lange Zeit. Aber davon wieder die Hälfte wird einbehalten für die Verpflegung in der Lungenheilanstalt! Und ein Taschengeld genehmigt sich dein Vater wahrscheinlich auch noch davon! Keine vier Mark in der Woche bleiben übrig für uns, wie soll das denn gehen! Und dann hat der Doktor ihm auch noch eine Liste mitgegeben, was er alles einpacken muss für die Klinik. Sechs Hemden und zwei Unterhosen, zehn Taschentücher und drei Paar Socken, ein Paar feste Schuhe und ein Paar Überschuhe aus Gummi, ein Paar Hausschuhe und ein Überrock und natürlich ein vollständiger Anzug! Herr im Himmel, ein Anzug! Wie sollen wir den denn anschaffen! Sechs Hemden, wo er doch nur ein einziges gutes hat! Oder soll er etwa in der Arbeitsbluse dort auftauchen? Das tut er nicht, das hat er schon gesagt. Und Gummiüberschuhe, dass ich nicht lache! Und eine Nagelbürste und ich weiß nicht, was noch alles! Wie sollen wir denn das alles kaufen, da sind wir ja schon bis über beide Ohren in den Schulden, bevor die schlimme Zeit überhaupt erst anfängt! Aber dein Vater, der hat den Antrag natürlich gleich unterschrieben und jetzt liegt er drüben im Bett und hustet und tut sich leid. Dabei kann er sich ein halbes Jahr lang ausruhen und bedienen lassen, spazieren gehen und faul im Liegestuhl liegen und dreimal am Tag eine anständige Mahlzeit mit Butter und Fleisch. Aber wer denkt an mich und die Kinder?!«

Der Ausbruch der Mutter endete so abrupt, wie er begonnen hatte. Die Mutter stand auf, trat an den Herd, wuchtete den schweren Topf mit der kochenden Wäsche herunter, goss den Inhalt in den Waschzuber, der auf einem Hocker schon bereitstand, schüttete kaltes Wasser hinzu und begann die Wäsche mit Wurzelbürste, Schmierseife und Waschbrett zu bearbeiten, als wolle sie ihre ganze Verzweiflung an dieser schäbigen, vergrauten Unterwäsche ihres kranken Mannes auslassen.

»Dass du mir nicht in die Stube gehst, Clara!«, sagte sie. »Wenn dein Vater dich sieht, regt es sich nur wieder auf, und wer weiß, was dann noch wird! Hast schon genug Unheil angerichtet!«

Clara schwieg. Nähte. Eine gnädige Taubheit war in ihrem Kopf, ein dichter Nebel. In der Küche nebenan waren Geräusche wie von schwerem Möbelrücken, unbekannte Stimmen.

»Was ist denn da los?«, fragte die Mutter und schickte Lisa, um nachzusehen.

Lisa verschwand. »Willy muss aus der Wohnung raus«, sagte sie, als sie zurückkam. »Riefke hat ihn rausgeschmissen. Morgen zieht Anna ein.«

»Was denn für eine Anna?«, fragte die Mutter.

»Anna Brettschneider aus dem Keller im hintersten Hof.«

»Anna Brettschneider?«, fragte Clara ungläubig.

Die Mutter lachte voll bitterem Hohn: »Dann können wir gleich in ihr Kellerloch ziehen, das ist ja jetzt frei geworden!«

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