Es war in Berlin

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Clara klopfte und öffnete die Tür, trat in die Küche, stockte. Gewöhnlich, wenn sie kam, um auf die Kinder aufzupassen, war Heinrich schon weg, aber nun saß er am langen Küchentisch, rauchte eine Pfeife und las Zeitung. Und ausgerechnet heute hatte sie Lisa dabei, wo sie doch gar nicht wusste, ob es ihm recht war, dass sich zwei an seinem Tisch satt aßen!

Unsicher grüßte sie den großen Mann und sagte dann zu Jenny gewandt, die – schon in ihrem guten schwarzen Kleid, aber mit vorgebundener Schürze – am Spültisch stand: »Ich hab heute Lisa mitgebracht, wenn es dir recht ist. Sie muss noch Hausaufgaben machen und daheim hat sie nicht so die Ruhe. Und wir teilen uns das Essen, aber wir essen auch nicht mehr als sonst ich allein.«

»Quatsch nicht!«, erwiderte Jenny, ohne das Abspülen zu unterbrechen. »Das Essen reicht für euch beide, Sauerkraut und Kartoffelbrei, eine Blutwurst, eine Leberwurst und auch noch ein Stück Bauchspeck. Ihr könnt alles aufessen. Einer meiner Kostgänger hat heut Mittag nicht so den rechten Appetit gehabt, hat wohl gestern zu tief ins Glas geschaut.« Sie lachte.

»Das kannst du laut sagen«, stimmte Heinrich zu. »Ich predige ihm immer, er soll keinen Schnaps saufen, mit der Branntweinsteuer unterstützt er den Klassenstaat! Aber das ist in diesen Schädel nicht reinzubekommen, wahrscheinlich hat er sich sein bisschen Grips schon weggesoffen. Wir sollten uns nach einem Ersatz für ihn umsehen, Jenny. Einen guten Genossen.«

»Das wäre mir recht«, sagte Jenny. »Aber das ist deine Sache. Bring du mittags aus deiner Fabrik zum Essen mit, wen du für richtig hältst. Hauptsache nur, er zahlt pünktlich und benimmt sich. Ich will keine Zoten, wegen dem Kleinen. Wenn ich denke, was ich als Kind alles mit anhören musste, als ich daheim in der Gastwirtschaft bedient habe – das sollen meine Kinder nicht hören. Nur wenn die Sozis heimlich bei uns getagt haben, da hab ich gern die Ohren gespitzt.«

Heinrich nickte. »Sag ich doch: einen guten Genossen. Ich hab da auch schon einen im Auge. Der liest pünktlich den Vorwärts und ist auch sonst sehr gebildet, den halben Faust kann der auswendig.«

»Die halben Weber wären mir lieber«, antwortete Jenny.

»Hast auch recht«, stimmte er zu. »Ich werd es ihm ausrichten. Na also, dann will ich mal, nicht dass ich noch zu spät zur Versammlung komme. Schön, dass du da bist, Clara, und du auch, Lisa. Sonst könnte meine Jenny nicht in ihre Arbeiterinnenschule, und dann ist die ganze Woche nichts mit ihr anzufangen, so sauer ist sie dann.« Er grinste und gab Jenny einen schallenden Kuss.

»Es sei denn, du würdest mal zu Hause bleiben und auf deine Kinder aufpassen«, meinte Jenny.

»Also hör mal!«, erregte er sich und zog die Augenbrauen zusammen. »Du weißt genau, mein Abend gehört der Partei! Soll ich etwa mit den Kindern zu Hause sitzen, Schlaflieder singen und Windeln wechseln?«

»Warum nicht?«, fragte Jenny und sah ihn herausfordernd an.

Clara hielt den Atem an. Was die sich traute, ihre Freundin! Einem Mann wie Heinrich eine solche Antwort zu geben!

Heinrich lief rot an. Doch ehe er explodierte, fuhr Jenny seelenruhig fort: »Eines Tages, in der klassenlosen Gesellschaft, auf die wir alle warten, eines Tages sind alle Menschen gleich! Du kennst doch deinen Bebel: Frau und Arbeiter haben gemein, Unterdrückte zu sein. Dem Sozialismus gehört die Zukunft, das heißt in erster Linie dem Arbeiter und der Frau. Wenn dann aber Männer und Frauen wirklich gleich sind – vielleicht wickeln dann die Männer genauso die Kinder wie die Frauen und bleiben auch mal zu Hause bei ihnen, damit die Frauen im gleichen Maß an gesellschaftlicher Produktion teilhaben können wie sie.«

Heinrich schnappte nach Luft. Gleich geht er an die Decke, dachte Clara, merkt Jenny das nicht?

Doch diese hatte sich in Fahrt geredet: »Aber bis dahin müssen wir eben noch kämpfen gegen den Klassenstaat und das Kapital: für die Befreiung des Proletariats, wir proletarischen Frauen und Männer gemeinsam, Hand in Hand! Darum müssen wir Frauen uns politisch bilden – auch wenn man uns die politische Tätigkeit verbietet –, damit wir gerüstet sind für den Kampf an der Seite der Männer! Und deshalb muss ich jetzt in meine Arbeiterinnenschule!«

Heinrich brach in lautes Gelächter aus und gab Jenny einen derben Klaps. »Meine rote Jenny! Ich sag's ja! An der ist ein Revolutionär verloren gegangen! Na, dann bilde dich mal schön! Wer weiß, eines Tages führst du ein Agitationskomitee, hältst Reden vor Tausenden von Arbeiterinnen und schreibst Artikel für die Gleichheit! Und nun schönen Abend!« Noch einmal lachte er laut, dann nahm er Jacke und Mütze vom Haken und verschwand.

Ganz heimlich stieß Clara einen erleichterten Seufzer aus. Jenny aber band sich die Schürze mit einer Gelassenheit ab, als hätte sie nicht eben beinahe einen Ehestreit provoziert. Manchmal konnte Clara über ihre Freundin im Stillen nur den Kopf schütteln. Hoffentlich trieb die es eines Tages nicht zu weit …

Lisa nahm den kleinen Moritz auf den Schoß und begann ihm das Märchen von Hänsel und Gretel zu erzählen. Er hörte ihr atemlos zu.

»Was für ein Bild«, sagte Jenny leise zu Clara und schaute voller Rührung auf die beiden Kinder, »der dunkle Haarschopf und die blonden Locken.«

»Und wie trügerisch«, gab Clara mit plötzlicher Bitterkeit zurück und dachte an die Striemen auf Lisas Händen. Sie musste besser darauf aufpassen, dass die Mutter der Schwester die nötige Zeit für die Schule ließ. Wenn die Mutter nur nicht so beschränkt wäre!

Und wenn der Vater nicht jeden Abend beim Unterirdischen Paule einkehren und dabei fast seinen halben Lohn versaufen würde! Dann müsste die Mutter nicht so viel Heimarbeit annehmen, dass sie auf Lisas Mitarbeit angewiesen war …

»Also, ich muss dann los«, erklärte Jenny. »Du weißt ja Bescheid. Und lasst es euch schmecken! Stine hab ich grad vorhin gestillt und trockengelegt, wenn du Glück hast, gibt sie Ruhe, bis ich wiederkomme. Und verwöhnt mir den Moritz nicht zu sehr!« Sie gab dem Jungen einen Kuss, nahm ihr Schultertuch und das Bündel mit ihren Büchern und weg war sie.

Das Abendessen war ein Festmahl, wie sie es daheim nicht einmal vom Sonntag kannten. Clara teilte die Würste und den Speck und achtete darauf, dass die Schwester die größeren Teile bekam. Wie sich Lisas Wangen beim Essen vor Begeisterung röteten!

Während Lisa für den Religionsunterricht sechs Strophen eines Gesangbuchliedes auswendig lernte, brachte Clara in der Schlafkammer Moritz zu Bett und erzählte ihm eine Geschichte von Rübezahl, die der Dorfschullehrer daheim in Schlesien oft vorgelesen hatte. Dann schaute sie noch einmal in die Wiege zu der friedlich schlummernden Stine. Auch Moritz waren die Augen schon zugefallen. Einen Augenblick ließ Clara die Stille dieses Raumes tief in sich eindringen.

Kinderbett, Wiege, die beiden in die Ecke geschobenen Ehebetten, der Kleiderschrank, die Kommode unter dem Fenster – jeder Winkel war ausgefüllt. Die rötlich-braunen Möbel glänzend poliert, das Bettzeug auf Jennys und Heinrichs Bett sorgfältig aufgeschüttelt und glatt gestrichen, eine Vase mit Wachsblumen auf einem Häkeldeckchen auf der Kommode. Wie schön das alles war. Und ein Bett für jeden für sich allein! Was für ein Glück … Noch einen sehnsüchtigen Blick ließ sie durch die Kammer schweifen, dann drehte sie die Lampe aus und ging in die große Wohnküche zurück.

Sie setzte sich auf das Sofa und stopfte sich ein Kissen hinter den Rücken. So ließ es sich doch viel gemütlicher nähen als daheim auf dem Stuhl! Lisa saß am Tisch und schrieb. Nicht einmal das Stampfen der Fabrik im Nachbarhof, das auch in der Nacht nicht abbrach, konnte die Ruhe stören, die Clara empfand. Als die Schwester ihr Heft zuklappte und ganz selbstverständlich nach der Nähnadel griff, schüttelte Clara den Kopf. »Nein, Lisa! Du gehst jetzt schlafen. Sag der Mutter, ich mache die Schals fertig. Du musst dich endlich einmal ausschlafen, du bist noch so jung.«

Lisa umarmte sie stürmisch, drückte den Kopf an Claras Wange. »Du bist so lieb!«, flüsterte sie dicht an Claras Ohr.

»Ach was!«, erwiderte diese und schob sie von sich. »Geh!« Aber die Haare der Schwester meinte sie noch lange an ihrer Wange zu fühlen, als Lisa längst verschwunden war.

Der weitere Abend verlief in gleichförmiger Ruhe. Keines der beiden Kinder verlangte nach ihr. Einen Schal nach dem anderen nahm Clara sich vor und vernähte die Schuss- und Fadenbrüche. Nur einmal machte sie eine kurze Pause, trank ein Glas Wasser und ging mit der Lampe in der Hand in die gute Stube – bloß um diesen Reichtum zu genießen. Die Stube war nicht geheizt, denn nur sonntags und zu festlichen Gelegenheiten wurde sie genutzt, Schonbezüge lagen auf dem Sofa mit der hohen Rückenlehne, auf den Sesseln und den Polsterstühlen. Dennoch war dieser Raum mit seinen gehäkelten Stores und seinen dunkelroten Gardinen der Gipfel der Schönheit. Sie betrachtete Jennys gutes Porzellan hinter den Glastüren des Büfetts, fuhr mit den Fingern die gedrechselten Säulen und geschnitzten Ornamente dieses eindrucksvollen Möbelstücks nach, zog die kleine Spieluhr auf und blieb vor den gerahmten Fotos an der Wand stehen: Jenny und Heinrich als Brautpaar unter einer Samtportiere, daneben das Bildnis von Karl Marx und – mit einer vertrockneten Rosengirlande umkränzt – von noch einem eindrucksvollen Herrn mit mächtigem angegrauten Bart, an dessen Namen sie sich nicht genau erinnerte, obwohl ihr Jenny von dem erzählt hatte. Hieß er nicht Engel? Mit einem Seufzer riss sie sich schließlich von der Pracht dieses Raumes wieder los und kehrte in die Küche zu ihrer Näherei zurück.

 

Als Jenny gegen zehn Uhr heimkam, wartete immer noch ein Dutzend Schals darauf, vernäht zu werden. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, setzte die Freundin sich zu ihr an den Tisch und beteiligte sich an der Arbeit.

»Sag mal«, begann Jenny mit spürbarem Zögern, »bekommt denn nun diese Anna Brettschneider ihre Nähmaschine?«

»Das hoffe ich schon«, erwiderte Clara und gab einen ausführlichen Bericht darüber, wie sie die Fremde zu Annas Kellerwohnung gebracht hatte.

Jenny seufzte erleichtert auf. »Und ich hatte schon befürchtet, ich hätte die wohltätige Dame so vergrault, dass sie wieder umgekehrt wäre, und meinetwegen ginge nun die arme Frau leer aus«, gestand sie. »Manchmal geht wohl der Gaul mit mir durch.«

Clara lachte. »Das kann man wohl sagen!«

»Aber recht hatte ich doch!«, beharrte Jenny und stimmte in das Lachen ein. Nebenan weinte Stine. Kaum war Jenny in der Kammer verschwunden, um die Kleine zu stillen, da klopfte es leise und verstohlen an der Küchentür.

Verwundert öffnete Clara und sah sich einer ihr unbekannten Frau in einem abgewetzten Wintermantel gegenüber, die sich ängstlich umblickte und hastig in die Küche drängte. »Ist Jenny nicht da?«, fragte sie gehetzt.

»Doch, schon. Sie stillt gerade. Setzen Sie sich doch!«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich muss mit Jenny reden! Es ist dringend!«

Eine solche Angst sprach aus dem fremden Gesicht, dass Clara in die Kammer ging und Jenny Bescheid sagte. Mit dem Säugling an der Brust kam diese in die Küche. »Gerda! Was ist passiert?«

Nun endlich ließ die Frau sich auf den Stuhl fallen. »Eine Razzia«, erwiderte sie erregt. »Die Polizei führt eine Razzia durch. Und zu mir kommt sie bestimmt auch und ich hab doch die Bücher und …« Vor Aufregung konnte Gerda nicht weitersprechen.

»Bei wem waren sie schon?«

»Bei Ottilie Baader und bei Emma Ihrer und ich weiß nicht, bei wem noch«, antwortete Gerda nach Atem ringend. »Es geht gegen das Frauenagitationskomitee. Dabei ist es doch von Rechts wegen erlaubt, eine Frauenagitationskommission zur Vorbereitung auf eine öffentliche Versammlung zu gründen, und wir haben immer aufgepasst, der Polizei keinen Anhalt für die Behauptung zu geben, dass wir ein politischer Verein wären, damit sie uns nicht verbieten können. Aber anscheinend haben die Volksversammlungen, in denen Bebel, Liebknecht, Ihrer und Baader für die Rechte der Frauen gesprochen haben, viel Staub aufgewirbelt und nun wittert die Obrigkeit wieder einmal den Umsturz. Ottilies Vater hat unbemerkt einem Nachbarjungen einen Zettel für mich zustecken können, der Junge hat ihn zu mir gebracht. Ich habe doch die Bücher mit den Mitgliedern und den eingezahlten Beiträgen, wenn das der Polizei in die Hände fällt, nicht auszudenken!«

Jenny nickte. »Das muss verschwinden«, sagte sie nüchtern. »Hast du die Bücher dabei?«

Gerda klopfte sich an die Brust. Dann knöpfte sie ihren schäbigen Mantel auf und holte zwei dicke Hefte hervor, legte sie auf den Küchentisch.

Jenny sah die Hefte mit gerunzelter Stirn an. »Bei mir sind sie auch nicht sicher«, sagte sie nachdenklich. »Es ist bekannt, dass ich in die Arbeiterinnenschule gehe und meine Beziehungen zu dem Frauenagitationskomitee habe und bei keiner Volksversammlung fehle, wo es um Frauenfragen geht. Bei einigen Versammlungen habe ich sogar was gesagt – und die Polizei hat natürlich alles mitgeschrieben, bestimmt auch meinen Namen, darauf kann man Gift nehmen. Und Heinrich ist in der Partei und in der Gewerkschaft und Gott sei Dank auch keiner, der den Mund hält.« Nachdenklich strich sie über das Köpfchen ihrer kleinen Tochter, die von aller Aufregung unbeeindruckt an Jennys Brust nuckelte. Dann schaute Jenny Clara an.

Clara wurde heiß. Sie begriff, was die Freundin wollte, ohne dass diese es aussprechen musste. Und sie begriff, dass sie, würde sie zustimmen, in etwas hineingezogen würde, was sie nicht überblickte. Was verstand sie schon von Politik!

Sie war noch nie bei einer Volksversammlung gewesen, sie las keine Zeitung und sie wollte mit der Polizei nichts zu tun haben.

Und wenn es herauskam, dann zog sie auch noch ihre Familie hinein, und wenn sie verurteilt wurden, dann mussten sie alle ins Gefängnis, denn das Geld, eine Strafe zu zahlen, hätten sie nicht.

Aber Jenny sah sie an. Und nun auch Gerda.

Clara schluckte. Ihr Hals war trocken und rau.

»Bei euch würde keiner die Bücher vermuten«, sagte Jenny leise. »Dein Vater ist nicht in der Partei. Heinrich sagt, dein Vater redet nicht einmal am Stammtisch über Politik – und wenn, dann für das Zentrum. Und deine Mutter und du – ihr seid völlig unbeschriebene Blätter. Bei euch wäre es sicher.«

»Bitte!«, flehte Gerda. »Bitte!«

Da nickte Clara und schob die Hefte zwischen die Kaschmirschals, schlug das Tuch um den Packen, stand auf und nahm ihn sich unter den Arm. »Dann bring ich sie jetzt lieber weg«, sagte sie mühsam. Und wusste, sie würde es bereuen.

2

Und was so eine braucht, das ist gottverdammt noch mal keine Wohltätigkeit, sondern Gerechtigkeit …

Dieser Satz ging in Margarethes Kopf herum wie ein Mühlrad, verwob sich mit dem Violinsolo, das der polnische Virtuose mit dem völlig unaussprechlichen Namen zum Besten gab. Ge-rech-tig-keit, skandierten die harten Striche in wütendem Fortissimo, mit denen das Presto endete, Ge-rech-tig-keit!

Höflicher Applaus, der weniger dem bravourösen Spiel des Künstlers galt als der Gastgeberin Baronin von Zug, Margarethes Mutter, in deren Salon genauer gesagt im großen Musiksaal der Villa – sich wie jeden Donnerstagabend Damen und Herren von Geburts- oder Geldadel nach einem fünfgängigen Menü vielversprechende junge Künstler vorführen ließen: schüchterne oder schwärmerische Dichter, die aus ihren Werken lasen, linkische Maler, die stets eine Mappe ihrer Arbeiten unter dem Arm trugen, Bildhauer mit olympischem Blick und einem Album mit Fotografien ihrer Werke, oder Musiker aller Provenienzen. Heute also dieser junge Pole mit seiner wenig eingängigen Musik.

Ermutigt durch den Beifall begann er zu allem Überfluss noch ein weiteres Stück. Es erschien Margarethe wie eine einzige Anklage. So wie das Gesicht dieser kleinen einfachen Frau, die ihr im Hof der Mietskaserne ihren Zorn entgegengeschleudert hatte.

Margarethe versuchte das Bild zu verscheuchen. Sofort war da ein anderes, weit schlimmeres: dieses unsägliche Kellerloch, die bleichen Kinder und die verzweifelte alte Frau – die gar nicht so alt sein konnte, hatte sie doch noch ein Baby. Diese unterwürfige Art, fast hündisch. Kaum hatte sie verhindern können, dass Anna Brettschneider ihr die Hände küsste, und das nur, weil sie in ihrer Rat- und Hilflosigkeit den Inhalt ihres Geldbeutels zwischen die Tütenstapel auf den verklebten Tisch gekippt hatte, nicht mehr als sieben, acht Mark, wenn es hoch kam zehn. Sie hatte nicht mehr Geld eingesteckt, schließlich hatte sie ja nicht geahnt, wie dringend ihr Wunsch sein würde, Geld zu geben. Oder sollte sie ehrlicher sagen: sich loszukaufen?

Dieser Schmutz und dieser unglaubliche, Übelkeit erregende Gestank! Keinen Augenblick länger hätte sie es in diesem Keller ausgehalten. Als sie sich wieder in den Hof gerettet hatte, geschüttelt von Ekel und Entsetzen, hatte sie sich erbrochen. In die Villa zurückgekehrt, hatte sie sich alle Kleider vom Leib gerissen und Emma eingeschärft, sie samt und sonders zu waschen, Mantel, Hut und Muff zum Lüften über Nacht ins Freie zu hängen und die Handschuhe aus feinem Baumwollgarn zu kochen, hatte sich ein Bad zubereiten lassen und sich dreimal eingeseift. Nur zum Haare Waschen war keine Zeit mehr gewesen, die langen Haare brauchten Stunden, um zu trocknen, und an ihrem Salon-Abend bestand Maman auf Margarethes Anwesenheit, da gab es kein Entkommen. So hatte sie die Haare nur von Emma am offenen Fenster ausbürsten und danach mit Parfüm bestäuben lassen. Ihr schien, dass man durch den Rosenduft hindurch den Mief immer noch roch.

Und in einer solchen Luft, in diesem feuchten Moder lebten Tag und Nacht fünf kleine Kinder mit ihrer Mutter. Und klebten Tüten.

»Die Mädchen können beim Kleben noch nicht recht mitarbeiten, sie sind noch zu ungeschickt, aber beim Falten helfen sie auch schon!«, hatte Anna Brettschneider entschuldigend gestammelt – als bedürfe es einer Rechtfertigung, dass die beiden blassen kleinen Geschöpfe tatenlos im Bettzeug vergraben auf dem Strohsack kauerten! Zu immer weiteren Rechtfertigungen hatte sie ausgeholt: »Trotzdem reicht es nicht. Bisher hab ich jeden Monat was von meinem Hausrat ins Leihhaus getragen, aber jetzt hab ich nichts mehr, den Topf und den Eimer brauch ich doch und das eine Bett auch, sonst kündigt mir meine Schlafgängerin und ich verlier auch noch die paar Pfennige, die sie für den Schlafplatz zahlt. Aber wenn ich eine Nähmaschine hätte, eine Singer, mit der man Damenkonfektion nähen kann …«

Dieser flehende Blick – der ließ sich nicht abwaschen wie der Gestank.

»Sie werden Ihre Nähmaschine bekommen«, hatte sie hastig versprochen, »darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Dabei war sie zu so einem Versprechen überhaupt nicht berechtigt. Sie hatte in dem Wohltätigkeitsverein, dessen Vorsitzende ihre Mutter war, nichts zu entscheiden. Nur auf deren beharrliches Drängen hin – es sei Zeit, mit ihren dreiundzwanzig Jahren endlich einmal Interesse an christlicher Nächstenliebe und sozialer Verantwortung unter Beweis zu stellen und den ihr angemessenen Platz in der Gesellschaft auszufüllen – war sie zur letzten Sitzung des Komitees mitgekommen und hatte den Auftrag übernommen, eine gewisse Anna Brettschneider zu besuchen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, worauf sie sich einließ.

Die Bittschrift Anna Brettschneiders hatte ganz passabel gewirkt, sehr devot zwar und reichlich altertümlich im Ton, aber die Handschrift war ordentlich gewesen und die Orthografie auch nicht schlimmer, als zu erwarten war. Sie habe eine Lehre als Damenschneiderin gemacht, hatte Frau Brettschneider ausgeführt, vor ihrer Ehe und bis zum ersten Kind in einer Werkstätte für Damenoberbekleidung der besseren Kreise gearbeitet und sei unverschuldet in Not geraten, weil ihr Ehemann sie verlassen und unversorgt mit fünf kleinen Kindern zurückgelassen habe. Wenn sie eine Singer-Nähmaschine hätte, so würde sie hoffen, durch Heimarbeit ihre Kinder ernähren zu können, was derzeit gänzlich unmöglich sei. Als alleinverdienende Ernährerin sei es auch ganz ausgeschlossen, die Raten zu erwirtschaften, um eine Nähmaschine abzustottern. Deshalb bitte sie um der christlichen Barmherzigkeit willen untertänigst darum, von den hochwohlgeborenen wohltätigen Damen eine selbige gestellt zu bekommen …

Wie hatte sie, Baronesse Margarethe von Zug, da ahnen können, in welch einen Sumpf von Elend und Grauen sie geraten würde? Die Schneiderin, die zum Maßnehmen und Anprobieren in die Villa kam, sah immer sauber und adrett aus und duftete angenehm nach Lavendel.

Sie war naiv genug gewesen, eine Person zu erwarten wie diese Schneiderin – und fünf rotwangige reizende Kinder.

Warum hatte ihr niemand gesagt, dass es solch entsetzliche Zustände gab, im Deutschen Kaiserreich, 1895, in der Reichshauptstadt, praktisch vor ihrer Haustür?

Nun gut, gelesen hatte sie schon hin und wieder von Wohnungsnot und Wohnungselend, vom Unwesen des Schlafgängertums und unsittlichen Zuständen, aber das waren Worte gewesen, mit denen sich keine Vorstellungen verbunden hatten. Nun waren es Bilder. Und schlimmer noch: Gerüche.

Sie wusste nicht, wie sie die wieder loswerden sollte.

Ob die Mutter auch solche Wohnungen kannte und solche Verhältnisse? Als Vorsitzende des Wohltätigkeitsvereins Misericordia sollte sie das wohl. Wie konnte sie dennoch jede Woche eine Gesellschaft mit fünfgängigem Menü geben und sich mit jungen Künstlern schmücken?

»Wie modern«, flüsterte ihre Mutter nach Beendigung des Stückes der neben Margarethe sitzenden Generalin von Klaasen zu. »Das ist die Musik der Zukunft, deren Geburtsstunde wir hier miterleben dürfen.«

»Die Sterbestunde der guten alten Klassik wäre mir lieber«, gab diese trocken zurück, während der höfliche Applaus einsetzte, und blinzelte Margarethe zu. »So blass, meine Liebe? Lösen diese schrägen Töne bei Ihnen auch Migräne aus?«

»Ich muss zugeben, dass ich kaum zugehört habe«, erwiderte Margarethe. »Ich habe heute eine arme Frau besucht, die in einer Bittschrift um eine Nähmaschine eingekommen ist. Die Bilder wollen mir nicht aus dem Kopf. Dieses Elend.«

 

»So schlimm?«, fragte Frau von Klaasen.

»Über alle Maßen grauenerregend«, stöhnte sie.

»Sei nicht so überspannt, Margarethe«, gab die Mutter zurück. »Diese Menschen empfinden ihr Elend nicht so, wie wir das tun. Sie kennen es nicht anders.« Damit stand sie auf und trat nach vorn, dankte dem Künstler mit einer souverän vorgetragenen kleinen Rede, schloss mit einem Sinnspruch und lud die Anwesenden zu zwanglosem Gespräch in die dem Musiksaal gegenüberliegenden Räumlichkeiten ein – den Salon und das Herrenzimmer.

»Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen?«, fragte Hauptmann von Klaasen und hielt Margarethe mit einer knappen Verbeugung den Arm hin. »Da sowohl Ihr Adel als auch Ihre Schönheit außer Frage stehen, habe ich hoffentlich mit einer Abfuhr nicht zu rechnen?« Er lächelte, als sei er selbst erstaunt darüber, wie geistreich er sich durch seine Bemerkung als Goethe-Kenner erwiesen hatte. Wenn er wüsste, wie oft sie schon mit dergleichen Anspielungen auf ihren Namen malträtiert worden war!

Um seiner Mutter willen, der liebenswerten Generalin von Klaasen, bemühte sie sich um ein strahlendes Lächeln und stand auf.

Alle Welt schien verschworen, den Hauptmann und sie zusammenzubringen, seit Jahren wurde er auf den verschiedensten Gesellschaften zu ihrem Tischherrn bestimmt. Die Themen, über die sie mit ihm zu reden wusste, grenzten sich mit jedem Gespräch mehr ein. Weder gehörten der Militäretat noch die deutschen Kolonien in Afrika oder die Vision einer mächtigen deutschen Kriegsflotte zu den Gesprächsstoffen, die sie bevorzugte. Dennoch hatte ihre Mutter ihn heute schon wieder neben sie gesetzt.

Ihr schien, die Augen ihrer Mutter und die der Generalin ruhten voller Spannung auf ihnen. Fast als sei ihre Verlobung schon beschlossene Sache.

Es schien ja auch alles zu passen: der alte Adel auf beiden Seiten, seine Aussicht auf eine glänzende Militärkarriere als Sohn eines verdienten Generals und ihre auf eine nicht weniger glänzende Mitgift als einzige Tochter eines reichen Bankiers. Aber man wollte doch aufsehen zu seinem Mann – und dies nicht nur im wörtlichen Sinne.

Sie nahm den ihr angebotenen Arm. Wie immer kam sie sich neben ihm zu groß vor. »Ich hoffe nur, Sie erwarten nicht von mir, dass ich Ihnen nun getreu meiner berühmten Namensvetterin die Gretchenfrage stelle«, sagte sie lächelnd.

Seinem Gesicht war anzusehen, dass er, verzweifelt um die richtige Antwort bemüht, seinen Faust durchging. »Wie halten Sie's mit der Religion«, half sie ihm mit einem kleinen Lachen auf die Sprünge und ging neben ihm her in den Salon.

»Oh!«, meinte er ebenso überrascht wie ratlos. Fast tat er ihr leid und sie suchte schon nach einer eleganten Form, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, da sprang er an, als habe sie die Frage ernst gemeint. »Als Hofprediger Stoecker noch im Dom amtierte«, begann er mit Emphase, »war es ein Erlebnis, den Gottesdienst zu besuchen. Zu schade, dass er sich bei Hofe in Ungnade gebracht hat – und in die Kirche der Stadtmission will ich denn doch nicht zu ihm gehen, man muss schließlich wissen, wo man hingehört. Aber dieser Mann wusste zu Herzen gehend zu predigen. Pastor Stoecker ist, wenn ich so sagen darf, eine wahre Posaune des Herrn.«

»Stoecker?«, fuhr Margarethes Vater herum, der vor ihnen in den Salon getreten war. »Gehen Sie mir mit dem! Früher, als er mit seiner Christlichsozialen Partei die Arbeiterschaft von den Sozialisten trennen und für die Treue zu Kirche, Monarchie und Vaterland retten wollte, da hat er mir insgeheim nicht schlecht gefallen – auch wenn man das vor Bismarck nicht zu laut sagen durfte. Aber mit dem Programm hat Stoecker ja leider Schiffbruch erlitten: Die Arbeiter sind ihm nicht in Massen zugeströmt, trotz Schrippenkirche und Kaffeepott. Doch was er sich in den letzten Jahren leistet – diese Anbiederung an das Kleinbürgertum in all seiner Beschränktheit!«

»Ich will Ihnen nicht widersprechen – Sie als Reichstagsabgeordneter, ich weiß, ich habe nicht Ihren politischen Weitblick«, warf der Hauptmann ein, »aber die Leitung der Stadtmission, die Diakonie, das soziale Engagement!«

»Schön und gut«, räumte der Vater ein, »Stoeckers soziales Werk ist eindrucksvoll. Die Kirche soll sich der Armen und Schwachen annehmen, alles sehr christlich und respektabel, nichts dagegen einzuwenden. Aber seine antisemitischen Hetzreden, mit denen er an die niedersten Instinkte und Vorurteile der Kleingeister appelliert! Geradezu demagogisch. Und nun hat er in den vergangenen Jahren damit auch noch Einfluss auf das Parteiprogramm der Deutschkonservativen gewonnen! Zersetzender jüdischer Einfluss – was ich darüber am liebsten sagen würde, gehört nicht vor die Ohren einer jungen Dame!«

»Ich meine Stoecker ja auch nicht als Politiker, sondern als Prediger«, versuchte Hauptmann von Klaasen den Redeschwall zu unterbrechen, doch der Vater sprach einfach weiter: »Was wären wir denn ohne die Juden? Wo man hinschaut, allein schon in Berlin, wir könnten doch einpacken ohne sie! Banken und Zeitungswesen sowieso, aber auch die Wirtschaft, man denke nur an die Konfektionsindustrie, daneben die Wissenschaften, die Medizin, die Künste – wo stünden wir denn ohne die Juden? Ich mache meine besten Geschäfte mit ihnen und schäme mich dessen nicht.«

»Sicher, darin bin ich ganz Ihrer Meinung, zumal auch Seine Majestät, ich wollte nicht …«, versuchte Hauptmann von Klaasen Boden zu gewinnen, doch Baron von Zug hatte sich offensichtlich festgebissen. Als hielte er eine Rede im Reichstag, stand er da und überschüttete Margarethes Tischherrn mit weiteren politischen Ausführungen.

Ihr war es nur recht. Mit einem lächelnden »Dann will ich die Herren bei der Lösung der Weltprobleme nicht länger stören« machte sie sich davon. Wenn es nur einen Vorwand gäbe, sich ganz zurückzuziehen! Immer unerträglicher erschien ihr dieser Abend nach den Erlebnissen des Nachmittags, immer stärker sehnte sie sich nach der Abgeschiedenheit ihres Zimmers. Aber in der Forderung nach der Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten war ihre Mutter unerbittlich.

Nun strebte diese auch noch auf sie zu, einen unbekannten jungen Mann in einem Frack, der mit seinen Glanzstellen verdächtig nach Leihhaus aussah, im Schlepptau. »Hier, Margarethe, ich will dir unseren jungen Dichter vorstellen, in einer Woche wird er uns mit seinem Werk erfreuen, heute weilt er schon einmal unter uns, um sich etwas einzugewöhnen. Er ist ein bedeutender Naturalist: Johann Nietnagel – meine Tochter Margarethe.« Damit überließ die Mutter sie ihrem Schicksal.

»Dann will ich uns erst einmal etwas zu trinken ordern«, sagte sie mit jenem antrainierten Lächeln, das sich in Gesellschaft fast ohne ihr Zutun auf ihrem Gesicht einstellte, und gab dem Diener einen Wink. »Nach diesem Musikgenuss« – sie sprach das Wort in unüberhörbaren Anführungszeichen – »haben wir uns das redlich verdient, finden Sie nicht auch?« Zustimmung heischend schlug sie ein kleines ironisches Lachen an.

»Mich hat diese Musik sehr beeindruckt«, erwiderte er, ohne auf ihre Ironie einzugehen. Seine Stimme war tiefer, als sie es sich vorgestellt hätte, und von einer Klangfülle, wie sie es nur von einem Sänger erwartet hätte. Und dass das Erste, was er zu ihr, der umschmeichelten Tochter des Hauses, sagte, ein Widerspruch war, ließ sie aufhorchen.

»Freilich nicht jedermanns Sache«, fuhr er fort, sich anscheinend nicht im Geringsten der Unhöflichkeit seines Verhaltens bewusst. Oder scherte er sich nur nicht darum? »Nicht der leichte Geschmack, nicht eingängig und unterhaltsam. Dafür ganz und gar originär. Aber was ich noch wichtiger finde: Für mich spricht eine Wahrheit aus dieser Musik, ein aufrichtiger Schmerz und eine Leidenschaft, wie sie nur der haben kann, der das Leiden kennt und daran gewachsen ist.«