HUMANOID 2.0

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Aly bemerkte einen hellen Schimmer aus den Augenwinkeln. Es war weißes Licht, das sie spürte, weißes Licht, das sie sah, reines Licht, ganz anders als die schmutzig roten Flammen oder das letzte trübviolette Aufflackern. Sie hob den Kopf, um genauer zu sehen. Am Horizont war eine Gestalt aufgetaucht, hell leuchtend. Und dort, wo ihre Füße die Erde berührten, richteten sich die Halme wieder auf, grün und saftig wie zuvor.

»Kann das sein?«, wollte sie fragen. »Wer bist du?«, wollte sie fragen.

Doch dies war nicht die rechte Zeit für Fragen, also kniete sie weiter auf der Veranda und sah dem Wunder zu, das sich nicht mehr nur auf den Weg beschränkte, den die Erscheinung nahm, sondern sich nach links und rechts fortpflanzte. Wie Elmsfeuer flutete Licht hinweg über die zerstörte Grasnarbe, um das, was krank war, zu heilen und um das, was im Sterben lag, wiederzubeleben.

Die Gestalt hielt auf halbem Weg zu Alys Kate inne.

»Komm zu mir!«

»Ich kann nicht« erwiderte Aly. »Ich traue mich nicht. Wenn ich mich bewege, werde ich zerbersten!«

Das Wesen schüttelte langsam den Kopf. »Du wirst es schaffen, ich weiß es. Vertraue mir!«

»Bist du der, der kommen wird?«

»Ich bin der, der da ist.«

In diesem Moment bemerkte Aly, dass das schwarze Lachen längst verstummt war. Sie sah sich um. Da waren keine Krähen auf dem Feld. Da lag kein Feuerbrausen in der Luft. Alles war still.

»Das ist mein Acker?«, fragte sie leise. »Er wird warten? So wie immer?«

»ER ist bereit für dich.«

Aly erhob sich langsam. Mit der einen Hand stützte sie sich an einem der Holzpfeiler ab, die das Vordach der Veranda trugen, mit der anderen strich sie den Leinenkittel glatt.

»Es war alles gut«, murmelte sie. »Was ist nur geschehen?«

»Es ist alles gut und es wird alles gut. Denn es ist alles so, wie es sein soll.«

Aly hob den Kopf. »Du hast recht. Es ist, wie es ist.«

Bei diesen Worten war es ihr, als ob aller Schmerz abfiele, aller Kummer, alle Trauer.

»Es wird eine gute Ernte!«, rief sie der Gestalt zu. »Wir müssen nur daran glauben!«

Mit diesen Worten sprang sie von der Veranda und lief zu dem Wesen, quer über den Acker, der unter ihren Füßen zu neuem Leben gerufen wurde. Sie hinterließ eine Spur des Wachstums und der Kraft, der Freude und Liebe und alles, alles war von einem roten Licht überhaucht, das von ihr ausging.

Bei ihm angekommen blieb sie stehen, blickte zu ihm hoch. »Du bist der, auf den ich gewartet habe?«, fragte sie lächelnd. »Whiall chomain, willkommen zu Hause. Es ist alles bereit für dich. Aber erst müssen wir ernten!«

Und mit einem Lachen wirbelte sie um ihre Achse, tanzte durch das Feld und strich mit den Händen über die prallen Lichtähren. »Gebt, ihr Lieben, gebt, was ihr habt! Das Warten hat ein Ende!«

Als die Nachtschicht das Schlaflabor erreichte, wurde sie von einem blauen Licht geblendet, das aus dem Zimmer der rotlockigen Frau drang. Übernatürlich sei es gewesen, würden sie später sagen. Unheimlich. Aber da es keine Beweise gab und die betreffende Patientin ebenso hartnäckig schwieg wie der Student, der für die Nachtwache eingeteilt war, glaubte man ihnen nicht und der Vorfall geriet bald in Vergessenheit.

Die Frau und der Student trafen sich nicht wieder. Als er zur nächsten Nachtschicht eintraf, hatte sie das Schlaflabor bereits verlassen. Nur manchmal, im Traum, war es ihnen, als wäre da eine verwandte Seele an ihrer Seite, die ihnen den Weg zeigte, Mut machte – und Licht schickte.

Soft Skills, Hard Days


Ich schlafe. Ich wache. Ich träume. Ich bin. Einatmen, ausatmen – tief dringt der Duft des weed in meine Lunge, bringt Bilder mit sich; Bilder, die sich aus einem Nebel heraus klären, fokussieren. Mit nadelspitzen Stichen werden sie fieberhaft hinter meine Lider gestickt. Welten entstehen, greifbare Universen. Ich kann sie riechen, fühlen, schmecken. Meine Nerven summen, die Muskeln spannen sich an, mein ganzer Körper ist auf dem Sprung. Alles, was eben noch weich war, biegsam und sanft, wird hart und unnachgiebig. Ich suche nicht länger den Kompromiss, ich suche die Konfrontation.

Da sind Hände auf mir; zarte Hände, warme, weiche Hände; die Finger lang und schmal. Ich spüre sie, möchte sie packen, möchte mein Gesicht in ihnen vergraben, doch meine Arme sind festgebunden. Sie hat es getan, sie hat mich gefesselt, als es noch nicht nötig war. Als ich eben so weich und nachgiebig und reif war wie sie. Küss mich, denke ich. Schenke mir Erlösung. Doch sie streichelt nur; langsam und quälend. Hin und wieder lässt sie ihren Fingerspitzen freien Lauf, lässt sie verspielt tänzeln, Muster auf meine Haut zeichnen, die tief in mein Fleisch einsinken. Das Sehnen in mir wächst und wächst, es wird mich zerreißen, doch ich will nicht, dass sie aufhört.

Ich presse die Augen hinter der Seidenmaske zusammen. Es ist die Seidenmaske, die ich vor einer gefühlten Ewigkeit übergestreift habe; damals, als ich diesen Raum betrat; damals, als ich meine Kleider abgelegt habe, mich auf diesen Stuhl gesetzt habe, mit klopfendem Herzen und trockener Kehle. Die Zeitspanne im Niemandsland, zwischen meinen ersten wirren Erwartungen und ihrem Eintreten schärft alle Sinne, macht das innere Auge weit. Die Fantasie treibt ihre Blüten.

Kein Lichtstrahl der hiesigen Realität soll mich stören. Allein den Reizen ihrer Hände ausgesetzt, strecke ich mich fern von Zeit und Raum, werde groß und mächtig. Das Sehnen verleiht mir Beine, lange, gestreckte, kraftvolle Beine. Ich steige mutwillig auf die Hinterhand, lasse mich auf den Sandboden zurückfallen, scharre mit den Hufen und sprinte unvermittelt los. Laufen, Laufen, nur Laufen. Der Wind umgibt mich. Für einen Moment ist er Kamerad, doch nur einen Herzschlag später wird er zum Konkurrenten.

Ich strecke mich, spanne jeden Muskel dieses Körpers, der mir inzwischen so vertraut ist. Und schon bin ich dem Wind voraus. Eine Nasenlänge, zwei – ich laufe und laufe. Ihre Hände, diese unschuldigen, nachgiebigen Hände, begleiten mich, fordern mich, zwingen mich hinein in diese Raserei. Ich sehe den Horizont hinter der Klippe auftauchen, die ich entlang presche. Er kommt mit jedem Atemzug näher. Nach der Klippe folgt eine gähnende Leere, hintendran das Meer. Doch vorher viele Felsen, scharfkantig und gnadenlos. Aber ich habe keine Angst, die kenne ich hier nicht; nicht hier, nicht in meiner Welt. Mit einem Lachen werfe ich den Kopf zurück, stoße mich vom harten Boden ab, springe – hinauf, hinauf! Breite die Flügel aus, die mir gerade jetzt aus den Schultern brechen, wie Schneeglöckchen durch den schorfigen Firn.

Mit dem Wind unter den Schwingen brauche ich die Beine nicht mehr, ziehe sie wieder ein. Noch in der Hetze gefangen, schlage ich mit den Flügeln, hinauf, hinauf, der Sonne entgegen, solange bis ich ruhiger werde, Luft hole, mich treiben lasse auf den Strömen der Thermik. Aller Druck weicht von meinen Schultern. Mein Herz beruhigt sich allmählich, der Atem geht gleichmäßig und ruhig. Ich segle. Ich weine. In diesem Moment existiert der wahre Friede. Die Hände schweigen. Sie ruhen auf meinen Schultern, weißen Friedenstauben gleich, lassen mir Raum und Zeit im Überfluss. Diese Freiheit aber, je länger, je tiefer ich sie erfahre, schnürt mir Herz und Seele zu. Ich bin zu klein, um das hier wirklich zu begreifen. Und doch strecke ich mich gleichzeitig weit hinaus. Meine Schwingen werden raumgreifend. Ich möchte diese Welt umarmen, möchte sie an mein wundes Herz pressen und mich an ihrer Kühle laben.

Ich atme tief – ein, aus, ein, aus. Der Nebel lichtet sich etwas. Meine Augen wollen wieder klar sehen. Ich merke, wie die Spannung von ihnen abfällt. Ich kehre zurück, bin sicher gelandet hinter den Blindfolds.

Ich weiß, dass sie jetzt hinter mir steht. Ich spüre ihren warmen, weichen Körper, der sich unaufdringlich an meinen Rücken schmiegt. Ich möchte mich nach hinten fallen lassen, hinein in ihre Arme, möchte ihr erzählen, was ich erlebe, was ich empfinde, möchte wieder so weich werden wie sie. Doch wir werden uns nie näher sein als in diesem Moment, auch später nicht. Dieser kurze Moment, in dem sie hinter mir steht und ihre Brust sich im Gleichklang meines Herzens hebt und senkt.

Gerade als ich mich dem Rhythmus ihres Seins hingeben will, begeben sich ihre Hände wieder auf Wanderschaft, streichen an der Außenseite meiner Arme hinunter, streifen an der Innenseite wieder hinauf.

»Vertraust du?«, flüstert ihre Altstimme in meinem Kopf. »Kannst du das? Willst du das?«

Das wohlbekannte quälende Ziehen meldet sich wieder, diesmal direkt aus meinen Lenden.

»Vertraust du?«

Die Stimme zwingt zu einer Antwort, immer noch leise, doch hart wie Stahl. Die Fingerspitzen halten inne, bohren sich leicht in meinen Muskeln. Ihre Nägel dringen ein in meine Haut, die daraufhin schlagartig aushärtet, kristallisiert. Mich kann nichts verletzen, niemand wird mir ein Leid antun. Ich nicke.

Eine frische Wolke weed trifft meinen Geist mit voller Wucht. Ich ertrinke in der Dunkelheit, meine Lungen stehen kurz vor dem Zerbersten. Die Spannung steigt, potenziert sich, alles potenziert sich, alles wird möglich. Ich sterbe, ich kämpfe. Mir wird niemand ein Leid antun, das wird niemand wagen. Ich wüte, ich rase. Die Fesseln halten mich zurück, die Ketten klirren, die Welt ist schwarz um mich und rot und feuerstrahlend.

Allein bin ich jetzt, sie steht nicht mehr hinter mir. Stattdessen greifen Wirbel nach mir, ihre Hände, ihre schlanken, quälenden Hände spielen Fangen und Tauziehen mit meiner sterblichen Hülle. Die Reize kommen von überall, anschwellend, abschwellend in ihrer Stärke. Mein Körper schafft es nicht, sich daran zu gewöhnen. Die Nerven liegen blank, spielen verrückt, mein Hirn will explodieren, doch es geht nicht, es geht nicht, es will nie gehen. Für einen Moment werde ich schwach, will um Erlösung flehen, um Vergebung. Will nicht mehr kämpfen, will nicht mehr siegen. Doch sie lässt es nicht zu. Sie ist der Puppet-Master, sie weiß, an welchem Nervenstrang sie ziehen muss. Arme, Beine, Brust, Bauch – ich spüre sie auf einmal überall, spüre ihren Atem auf mir, ihr Haar, ihren Duft, der immer körperlicher wird, spüre ihre Lippen, ihre Zunge und immer, immer ihre Hände. Sie beherrscht die Klaviatur meines verräterischen Körpers, die empfindlichsten Stellen, die Untiefen und die Meeresgräben. Sie ist die Perlentaucherin und ich bin ihr Weidegrund. Und als sie schließlich mit beiden Händen zupackt, als sie den letzten unversehrten Nerv trifft, bäume ich mich auf. Wachse über meine Grenzen hinaus. Mein Geist erstrahlt in gleißendem Licht, ergießt sich in das Chaos, schlägt die Feinde nieder, die Namenlosen, und lässt mich schreiend triumphieren.

 

Die Wirbel ziehen sich zurück, die Schwärze vor meinem inneren Auge wird brüchig. Dort wo sie aufreißt, entsteht das Bild, das ich mir stets von ihr mache, machen muss, denn ich habe kein anderes. Für mich ist sie die inkarnierte Madonna, von Munch vorhergesehen und auf eine ahnungslose Leinwand gebannt.

Still steht sie da, lichtbekränzt, bereit zur Hingabe und Ekstase. Sie ist der Preis, die Belohnung. Was sind Tränen? Diesmal will ich nicht weinen. Es gibt nichts zu beweinen. Der Stuhl, auf dem ich bis eben noch ein hilfloses Wesen war, ihrem Wollen ausgeliefert, dient mir jetzt als Thron.

Mit einem leisen Klirren fallen die Fesseln zu Boden, die mich bislang zurückgehalten haben. Sie nimmt meine Hände und birgt ihr Gesicht darin. Sie führt mich die wenigen Schritte bis zum Bett, lässt sich auf die Laken sinken und zieht mich mit sich. Ruhig bin ich geworden, ruhig aber unnachgiebig. Und so nehme ich mir, was des Siegers ist, beschlafe diese Frau, wie es schon immer Brauch war. Es geht nicht mehr um Befriedigung – die habe ich vorher umfassend erfahren. Das hier ist einzig die Demonstration meiner Kraft.

Ich bin nicht mehr die Frau, die ich zu Beginn dieses Intermezzos war. Ich bin Herrscher. Ich bin Mann, in allem Tun und Denken. Systematisch erkunde ich ihren Körper, ihre Haut, sauge ihren Duft in mich ein, erforsche ihre dunkle, triefende Höhle. Widerstand? Gibt es nicht! Und wenn schon – es hätte keinen Sinn. Sie bäumt sich unter meinen Händen auf, ihr Schoß zuckt und krampft, und die Musik ihrer Ekstase wird zu meinem Wiegenlied …

… das zurückhaltende Zirpen des Filotops auf dem Nachttisch bahnt sich seinen Weg durch die weedgeschwängerten Nachbilder. Einen Moment lang lausche ich ihm mit geschlossenen Augen, dann streife ich widerwillig die Seidenmaske ab und richte den Blick zur Decke. Über mir kann ich direkt ins helle, leichte Blau eines Frühlingstages sehen, so wie ich es zu jeder Jahres-, Tages- oder Nachtzeit tun könnte.

Das Filotop zirpt weiter. Es wird unermüdlich so weitermachen, bis ich – und nur ich – meine Hand auf sein Display lege, um ihm sein digitales Mundwerk zu verschließen.

Der Platz neben mir ist leer, wie immer. Für einen Moment bereue ich es, doch dann erinnere ich mich an das, was ich gespürt, erlebt, getan habe – und bin froh über die Einsamkeit.

Ich hebe die Hand, betrachte meine Finger, die nicht die ihren sind, schließe noch einmal die Augen und atme tief den Duft ein, der meiner Haut anhaftet, ihren Duft. Ich küsse meine Fingerspitzen, die kurz zuvor noch ihr Innerstes erforscht und in Besitz genommen haben, und es ist mir, als würde ich sie küssen. Ich weiß letztlich nicht, ob meine Hände ihr soviel Vergnügen bereiten, wie es umgekehrt der Fall ist. Auf der anderen Seite ist es auch gar nicht mein Job. Sie ist die Socialista, nicht ich. Ich bin nur eine Frau in diesem alltäglichen Haifischbecken, die gleich in einem wichtigen Meeting bestehen muss, und sich vorher die Stärke geholt hat, die sie dafür braucht.

Sauber, diskret, auf Kostenstelle.

Mit einem Seufzen erhebe ich mich, lasse die Seidenlaken hinter mir und ziehe mich wieder an. Bringe das Filotop endlich zum Schweigen, das seine Zurückhaltung inzwischen verloren hat. Richte mich mit ein paar Handgriffen her, verweigere den Blick in den Spiegel – ich weiß, wie ich nach einer solchen Sitzung aussehe, weiß, wie sich wahre Größe in meiner Ausstrahlung ausdrückt – und schlendere zur Tür. Lege meine Hand auf das biometrische Abrechnungsfeld, zögere nicht, den Extra-Obolus zu berechnen. Die Stimme des allgemeinen OMS bedankt sich höflich-neutral.

Am Anfang hatte es mich irritiert, dass man kein Bild von ihr zu Gesicht bekam, nicht mit ihr sprechen konnte, noch nicht einmal per Mono-Sprachleitung – aber inzwischen habe ich den Grund verstanden. So wie wir Mitarbeiter vor ihr geschützt werden, vor einer persönlichen Beziehung, einer emotionalen Abhängigkeit, so wird auch sie vor uns geschützt. Das ist nur fair. Schließlich bleibt unsere Socialista nicht mehr als eine gesichtslose Berufsbezeichnung.

Woher bezieht sie ihre Stärke?, frage ich mich für einen Moment. Wer gibt ihr Kraft? Wer …?

»Ihr Meeting beginnt in fünf Minuten, das Office Shuttle steht bereit.« Das OMS tönt zwischen meine Gedanken. Erinnert mich an die anstehende Aufgabe, erregt meinen Unmut.

Die weiße Flamme meines Geistes lodert auf. Ein, zwei Herzschläge lasse ich das Licht durch meine Adern kreisen. Trete dann in den Flur hinaus.

Ich bin bereit.

Schreizimmer


Ich sitze hier nun schon seit Stunden. Dabei weiß ich nicht, ob es sich um Viertelstunden, halbe Stunden, ganze Stunden oder Doppelstunden handelt. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was eine Stunde ist, allein der Begriff ist so vertraut. So wie das Zimmer, in dem ich sitze. Das Zimmer sieht aus wie mein Zimmer zu Hause, nur in Kalkmilch getaucht, sodass nun alles weiß ist. Opak. Es leuchtet von innen heraus. Es wirkt kalt, so kalt.

Ich weiß nicht, warum ich hier sitze. Vordergründig ist es ein Geschenk. Meine Frau hat mir den Gutschein zum Geburtstag überreicht. Wie alt ich geworden bin? Ich bin mir nicht mehr sicher.

Nun ja. So kann es kommen, und nun sitze ich hier stundenlang und weiß, dass es noch stundenlang so weitergehen wird. Wenn Stunden sich zu Tagen neigen, so lange wirst du bei uns bleiben. Bei uns bleiben. Bleiben. Blei …

Vielleicht habe ich mir einmal zu oft Ruhe ausgebeten. Nun habe ich sie. Ruhe. Massenhaft Ruhe. Da weiß man gar nicht, wohin damit. Ich frage mich, ganz allmählich, ganz verborgen, irgendwo im Hinterkopf, warum diese Räumlichkeit so heißt, wie sie nun einmal heißt: Schreizimmer.

Wo es doch so ruhig hier drinnen ist.

Wenn ich weiter so vor mich hinstarre, werde ich blind. Ich merke, wie die Adern hinter meinen Augäpfeln krampfen. Ich will nicht mehr starren, will nichts mehr sehen, will meine Augen schützen, entspannen, will sie in Sicherheit bringen vor dieser stummen, grellweißen Aggression. Doch dazu müsste ich sie schließen. Aber das – das geht beim besten Willen nicht. Die Verklebung der Lider am Stirnhautlappen gehört zum guten Service, genauso wie der weiße Papieranzug, in den man hineingesteckt wird, wie ein zu groß geratener Säugling. Ich stiere auf meinen linken großen Zeh, der sich in die Freiheit gebohrt hat. Er mag nicht in weißem Zellstoff stecken. Als ich ihn so betrachte, fällt mir auf, wie sauber er ist. Diese Sterilität hier ist überirdisch. Als ich nach der Reinigung und dem Umverpacken scherzhaft nach meinen Flügeln gefragt habe, hatte man mir unverbindlich zugelächelt, so, als wollte man den guten Eindruck des Instituts nicht zerstören, indem man so unpassende Dinge wie »Freak!« oder einfach nur »Hä?!?« sagte oder dachte.

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es sich überhaupt um Menschen handelte, die mich hier betreuten. Vielleicht, wahrscheinlich, waren es Androiden. Androiden, ja. Androiden müssen keine Schäfchen zählen, nicht einmal elektrische, die können sich einfach abschalten. Androiden müssen das nicht erst mühselig lernen, das Abschalten.

Ich glaube, das Abschalten ist der wahre Grund, warum ich hier bin. Ich soll abschalten, einen Gang runterschalten. Warum eigentlich? Warum will meine Frau nicht mehr, dass ich unter Strom stehe? Der aktive Mensch ist das Credo unserer Gegenwart. Phlegma macht sich gar nicht gut im Gemüt unserer Zeit, ich kann Ihnen ein Lied davon singen.

Früher war ich nämlich ein ausgemachter Phlegmatiker, ja. Es war ein schönes Leben. Alles war weit entfernt, unaufgeregt. Still und ruhig. Aber wenn ich mir heute vorstelle, wie ich mich lethargisch durch den Tag geatmet habe, dann könnte ich mir aus Abscheu vor meiner damaligen Trägheit sofort die Fingernägel durchs Gesicht ziehen. Einfach nur SEIN ist gänzlich UNMÖGLICH geworden.

Aber das geht ja nicht, das mit den Nägeln. Die Hände liegen fest auf den Oberschenkeln und können von dort auch nicht weg. Noch ein Dienst am Kunden. Er muss nicht selber Haltung bewahren, das übernehmen diverse Gurte, Halterungen und Geschirre, lammfellgefüttert und stabil. Sie sorgen auch dann noch für eine straffe, gerade Haltung, wenn der Körper sich nur noch in abgeschlafften Kurven winden will. Durchhänger. Ein antiquiertes Wort. Wer hat denn heute noch einen Durchhänger in unserer allzu straffen Welt? Wir ziehen unsere innere Unruhe gegenseitig auf, jeder dreht den Schlüssel, der im Rücken des anderen steckt. Um und um, um und um. Spaß regiert die Zeit. Das joviale Grinsen hat seine Spuren in unsere Gesichter eingegraben. Alles lacht. Alles zeigt Zähne. Jeder hat Angst.

Meine Gedanken spielen, weißen Mäusen gleich, Fangen um meine Knöchel. Ich blecke meine Zähne, bleich schimmernder Speichel tropft auf den weißen Boden.

Ich starre auf den Fleck und denke an Magda, das Hausmädchen, zurück. Ihre Augäpfel hatten zeitlebens einen ähnlichen Schimmer gehabt. Ich dachte immer, es wären Glasaugen. Bei einem Androiden, der sie meiner Vermutung nach war, hielt ich das für normal. Aber als ich sie dann anfasste, damals, als sie auf dem weiß gefliesten Küchenboden lag, und mich über die Wärme ihrer Haut wunderte, und als ich sie weiter erforschte, da machte ich die Erfahrung, dass Augäpfel, so sie denn einem Menschen gehörten, weder aus Glas noch aus Kunststoff sind, sondern eher gehäuteten Weintrauben gleichen. Rein taktil gesehen. Seltsamerweise glaubte ich erst ihren Augen, den einfallenden, nachgebenden Glaskörpern, und nicht dem Blut, das ich vorher aus ihrem Körper sprudeln sah, aus den verschiedenen Stellen, in die ich das Messer gerammt hatte, damals.

Magda hatte in den wenigen Minuten vor ihrem Tod versucht, mich vom Gegenteil meiner Annahme zu überzeugen. Aber ich glaubte, dass da eine Art Schutzprogramm am Werke war, das den Androiden vor der menschlichen Zerstörungslust bewahren sollte, indem es eine Menschlichkeit vortäuschte, der sich der gemeine Mensch nicht entziehen konnte. Der gemeine Mensch war allerdings auch nicht mit meiner Forscherlust geschlagen. Der gemeine Mensch ist nicht so besonders oder so vielschichtig wie ich – wenn ich meinem Erzeuger Glauben schenken wollte. Und das wollte ich. Da gab es noch nie auch nur eine Spur des Zweifels.

Je länger ich auf den Fleck starre, desto deutlicher sehe ich sie vor mir. Magda. Sie war kühl und distanziert gewesen. Ihre weiße Weste war stets makellos. Die Glacéhandschuhe, mit denen sie Tag für Tag den Tisch eindeckte, trug sie immer am eckigen, schmalen Körper. Ihr Busen hingegen war nicht schmal. Er stand in einer seltsam anmutenden Proportion von ihr ab, ein Betonbalkon, den sie unbeirrt und unbewegt vor sich hertrug, der aber nichts von der wogenden Wärme oder knospenden Unschuld hatte, wie ich es bei den anderen Brüsten meiner Umgebung wahrnehmen konnte. Ihre Bewegungen waren sparsam, exakt, abgezirkelt, effizient – wie sollte ich sie als Menschen wahrnehmen, wenn sie sich nicht so gab?

Magda.

Sie hatte schwarze Haare. Lange, schwarze Haare, die abends, wenn der Zopf gelöst war, ihren weißen Rücken hinunter wallten und so einen Großteil der Ecken und Kanten verdeckten. In diesen Momenten, allein auf ihrem Zimmer, war sie menschlich. Sie wusste nichts von der Kamera, mit der ich sie beobachtete. Dachte ich. Dass dem nicht so war, erfuhr ich erst, als es zu spät war, viel zu spät. Als das Leben sie bereits im Stich gelassen hatte.

 

Ich erinnere mich an die Abende, an denen sie auf ihrem Bett lag, starr, steif, knochig. Ich erinnere mich, wie ihre rechte Hand ihren Schoß um- und umpflügte, mechanisch, entschlossen, unbeirrt, bis sie einmal tief einatmete und der Arm schlaff neben sie auf das weiße, weiße Laken fiel. Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt, noch heute, als sei es erst gestern gewesen, da ich ihres Blickes gewahr wurde, der sich unverwandt durch die Kamera, durch den Monitor, direkt in mein Hirn bohrte. Sie lächelte nicht. Sie lächelte niemals.

Magda.

Während ich so auf den Boden vor mir starre, denke ich, dass ich dieses Zimmer nie wieder verlassen will. Alles ist einfach hier. Simpel. Eindimensional weiß. Man muss sich nicht fragen, was hinter dem eigenen Rücken geschieht. Man muss nicht Zeichen deuten oder Farben. Man muss nicht – man muss – man …

Schaltet man auf diese Art ab? Wenn das Hirn immer leerer wird, wenn sich die Kreise enger ziehen? Wenn dem so ist, dann habe ich es bald geschafft. Doch was dann? Ich stelle mir meine Frau vor, wie sie mich abholt. Ich werde vor ihr stehen, in dem Anzug, den ich trug, als sie mich hier abgesetzt hatte. Ich werde das Lächeln tragen, das ich ihr zeigte, als sie in den Wagen stieg, den Daumen erhoben. Alles bestens!

In ihren Augen hatte zu viel Skepsis gelegen, in der letzten Zeit. Oftmals schien sie in sich hinein zu lauschen, musterte mich dann, und es war, als vergliche sie mich mit etwas, das ihr im Kopf herumspukte. Nicht, dass ich einen Vergleich scheuen würde, das musste ich nicht, und das wusste ich auch. Aber allein der Fakt, mit einem nicht greifbaren Gegner im Wettkampf zu stehen, ließ mich kleinlich werden und gemein.

Und nun?

Ich starre wieder auf den Boden, an meinem linken Zeh vorbei, dem die Sensation der Freiheit inzwischen herzlich egal ist. Aber statt des Gesichts meiner Frau, formen sich Magdas Augen aus dem luziden Einheitsbrei.

Sie waren kaltblau, ein Schuss Wintergrau duellierte sich mit dem hellen Blau, das Huskys zu eigen war.

Ich erinnere mich an Albträume, in denen mich Magdas Augen verfolgten. Später, als sie längst nicht mehr da war. Als sie abtransportiert, weggekarrt, entsorgt worden war. Man verlor kein Wort über sie. Ein neues Mädchen wurde eingestellt, ich selber ging fort. Zum Studieren, so erzählten es meine Eltern. Der Junge ist alt genug, er muss flügge werden. Dass ich in Wirklichkeit vor dem Geschehen geflüchtet bin, vor mir und meiner Tat, das wollte keiner aus meinem näheren Umfeld wahrhaben. Ich hatte es nur den Kontakten meiner Familie zu verdanken, dass der Fall nicht untersucht worden ist, dass der Fall Magda als Unfall zwischen zwei Aktendeckeln totgeschwiegen wurde und ich ihre weiße Weste übernehmen konnte. Im Gegenzug ließ ich meine Eltern von meinen Schuldgefühlen, Ängsten und Selbstzweifeln unbehelligt. Was hätte ich auch erzählen sollen? Dass ich nachts aufwachte, in dem Glauben, dass Magda auf meiner Brust hockte? Dass ich ihr Gewicht spürte, ihren Geruch in der Nase hatte? Dass ihr Blick mir zu den unpassendsten Gelegenheiten aus Fensterscheiben und Spiegeln entgegenstarrte?

Was mir in der Folgezeit das Wichtigste wurde, war die Unterscheidung. Wer war Mensch, wer Maschine? Immer wieder hielt ich Menschen für Maschinen, aber mit der Zeit lernte ich, die bisweilen nur minimalen Unterschiede auf den ersten, spätestens zweiten Blick zu erkennen. Ich verbrachte meine Zeit lieber mit den Maschinen. Mein Leben verlief in ruhigen, egozentrischen Bahnen. Die Welt drehte sich, wenn schon nicht um mich, dann wenigstens auch um niemand anderen.

Bis ich meine Frau kennenlernte.

Ich starre angestrengt auf den Boden, durch das stahlgraue Trugbild hindurch, das da wie eine Projektion, ohne ein einziges Blinzeln, zu meinen Füßen verweilt. Diese Projektion könnte noch in tausend Jahren leuchten, schimmern, existent sein, wenn sie nicht jemand vorher abschaltete. Aber wer sollte Magda abschalten wollen? Sie war doch schon jenseits von Pixel und Herzschlag. Und wenn ich mich bemühe, richtig bemühe, wenn ich mein Hirn Windungen schlagen lasse, Kapriolen; wenn ich mich freimache von vorgegebenen Bildern, vorgegebenen Bedeutungen, wenn ich alle Erfahrungen fahren lasse und mich nur noch auf das konzentriere, was vor mir liegt; dann werden es nicht länger Magdas Augen sein, in die ich hineingesogen werde, dann werden die Trugbilder zu einem Konglomerat bedeutungsloser farbiger Pixel. Zweidimensionale Pixel, die ich mit den Füßen treten kann, ohne hinterher von einem schlechten Gewissen heimgesucht zu werden.

Magda beginnt, sich aufzulösen. Nun kann ich den Test nicht zu Ende führen, nun werde ich nie erfahren, ob ich unter Ausschluss von nahezu allen Sinnesreizen den Sprung von der Bedeutungsebene zur simplen Sachlage durchführen kann.

Stattdessen könnte ich mir erneut die Frage stellen, warum ich überhaupt hier sitze, warum mein geliebtes Weib mir diese Behandlung angedeihen lässt. Ist sie nicht mehr zufrieden? Soll ich geradegebogen werden? Optimiert? Ich habe lange gebraucht, um die Komplexität zu entwickeln, die ich darstelle. Ich habe lange analysiert, gelernt, meine Erfahrungen gemacht, die Werte extrapoliert – was ist es also, das sie stören könnte? Sie sagte einmal, ungefähr vor zehn Jahren, dass ich spontaner sein sollte. Ich habe mir ihre Klagen angehört, sie in meinem Hirn bewegt und bin dann auf eine Reise gegangen, die ich als ein anderer abschloss. Ich sagte ja bereits, dass ich einst ein Phlegmatiker gewesen bin, ruhig und bedacht. Danach war ich nicht mehr ganz so ruhig. Natürlich war ich in den Grundzügen meiner Persönlichkeit noch immer ausgesprochen sozial, ausgeglichen und berechenbar, nur hatte ich gelernt, all dieses mit genau dem gewünschten Quäntchen Verwegenheit zu kaschieren. Jenem Etwas, das das Leben jeden Tag aufs Neue lebenswert macht, weil die Neugier genug Futter bekommt. Die Balance. Es geht immer um die Balance. Auf der einen Seite die Sicherheit, auf der anderen Seite das Unvorhergesehene. Auf der einen Seite Relaxanzien, auf der anderen Seite das pure Adrenalin, und über allem Endorphine und Serotonin in ausreichenden Mengen.

Ich muss wieder an Magdas tiefen Stoßseufzer denken. Auch wenn alles an ihr mechanisch wirkte, in diesem einen Moment durchflutete sie eine Art urwüchsiges Leben, das ich in ihrem Körper und Sein nie vermutet hatte.

Jetzt, in diesem weißen Zimmer, vertraut und gleichzeitig völlig fremd, möchte ich nichts lieber, als mich neben Magda legen und ihr dabei zusehen. Möchte sehen, wie sie sich fallen lässt. Möchte sehen, wie sie abschaltet. Ich rufe das Bild der Kamera auf den Erinnerungsmonitor, projiziere es auf die weiße Fläche zu meinen Füßen, zoome näher, und auf einmal ist es, als schwebte ich über ihr. Nur um Armeslänge getrennt, mein Körper reagiert auf ihre Nähe. Ich beuge mich tiefer zu ihr hinunter. Das Gesicht wirkt unbeteiligt. Es scheint, als habe sie in den langen Jahren ihres Dienstes ihre individuelle Mimik verlegt. Aufgesaugt, abgestaubt, zurechtgeschüttelt wie eines der Sofakissen. Aber dann sehe ich die Augen, ihre Augen, so nah wie nie zuvor. Der Blick ist nicht starr. Er ist vor allem nicht gesenkt. Hier, auf ihrem Laken, ist sie mit einem Mal in ihrer ganzen körperlichen und seelischen Unzulänglichkeit ihre eigene Herrin und Meisterin. Ich beobachte sie. Natürlich kann ich nicht sagen, was sie dachte. Aber ich erkenne, dass die Unbewegtheit, die ich damals als Mangel empfunden habe, in dieser Situation gewollt ist. Sie ist starrsinnig, will sich nicht der erstbesten Lust hingeben, will weitermachen, wo ihre Geschlechtsgenossinnen längst klein beigegeben hätten. Es ist ein Kampf mit sich selbst in dem Verlangen, vom Besten das Meiste für die eigenen Pfründe zu sichern. Und sie wird gewinnen, in jedem Fall.

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