HUMANOID 2.0

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»Was wollen Sie von mir?«

»Ich will Ihnen die Situation bewusst machen. Noch können Sie Einfluss auf Ihr Alter Ego nehmen.«

Die Worte erschienen mir viel zu wohl gesetzt für den schmierigen Block, auf dem sie standen. »Und wenn ich das nicht will?«, entgegnete ich. Warnen, Situation, Alter Ego – nichts als Geschwafel! Was bildete sich diese heruntergekommene Karikatur eines Heilsbringers ein? Ich knirschte mit den Zähnen.

»Dann werde ich Sie töten.« Er sah nicht aggressiv aus, als er diese Feststellung schrieb. Es schien ein unabänderlicher Fakt zu sein.

Ich starrte ihn einen Moment lang ungläubig an. Der Zorn fiel innerhalb eines Wimpernschlages schwachbrüstig in sich zusammen. Dann allerdings begann etwas anderes, sich in mir zu regen. Es brodelte, wogte und schwappte ihm schließlich in die pazifistische Miene: Ich lachte! Ich konnte nicht aufhören. Die ganze Zeit stand er dabei, lächelte unverbindlich, nahm aber keines der Worte zurück, die zwischen uns lagen.

Irgendwann verebbten die hysterischen Laute. Ich winkte dem Wirt, dass er zwei Bier bringen sollte. Diese Show war einen Drink wert. Ich war erschöpft und gleichzeitig geschmeichelt, dass gerade ich, der friedfertigste Mensch unter dem weiten Himmel, eine derartige Gefahr darstellen sollte.

Er schob das Bier von sich fort.

»Zu fein, um eine milde Gabe anzunehmen?« Ich kehrte den Großkotz raus. »So schnell kommst du nicht wieder an Stoff!«

»Sie können sich selbst täuschen, aber nicht mich.«

Inzwischen konnte ich die grau auf schmutzigweiß gekritzelte Antwort kaum noch erkennen. »Pisser«, dröhnte ich neustark. »Hau ab. Ich will deine Visage nicht mehr sehen.« Diese Gossensprache wurde langsam vertraut. Das Bier floss meine Kehle hinunter, als ob es das schon immer getan hatte, und langsam verwuchs ich mit dem Barhocker.

Warum noch nach Hause? Ich hatte Zeit, sehr viel Zeit. Es wartete niemand auf mich. Das war gut so, unproblematisch. Keiner, der meine Wege störte. Weiber. Schrien nur rum, kommandierten ihre Männer wie Hunde. Ich fragte mich, warum die das erduldeten. Das Unaussprechliche zwischen den Schenkeln ihrer Dompteurinnen konnte doch nicht so viel Macht haben, dass sie ihre Freiheit dafür opferten. Arrogante Zicken. Irgendjemand hatte mal erzählt, dass man früher dachte, dass die Frau aus der Rippe eines Mannes entstanden sei. Schön blöd.

Mein Nachbar stieß mich erneut mit dem Block an. Ich überflog die Zeilen nachlässig, bis ich schließlich an ein paar Sätzen hängen blieb.

»… mehr sein, als Sie sind. Ich kenne das gut, ich war genauso. In uns schlummert ein Gott. Ein zorniger, gefallener Gott, vertrieben aus dem Paradies, der nur darauf wartet, sich die Welt untertan zu machen. Wir sind lediglich Werkzeuge für ihn. Wir selbst zählen keinen Deut. Haben Sie sich gefragt, warum ich schreibe, statt zu sprechen? Ich zeige es Ihnen.«

Er rüttelte an meinen Arm, da ich noch immer gebannt auf das Papier sah. Als ich den Kopf hob, öffnete er den Mund. Dort wo die Zunge sitzen sollte, gähnte eine rotschwarze Höhle, in deren Tiefe sich ein verquollener Fleischstummel in krankhaften Zuckungen wand. Ein Schauer rann mir durchs Mark. Ich blickte angeekelt weg.

»Ich habe den Kampf gewonnen. Ich musste dafür bezahlen, aber ich habe gewonnen. Meine Zunge konnte nicht mehr verkünden, was ER wollte. Ich hätte mir sogar das Herz herausgerissen, wenn es mir möglich gewesen wäre. Aber lebend bin ich für die Welt, in der wir leben, eine größere Hilfe. Und wir wollen doch leben, nicht wahr? Sie wollen doch auch morgen noch aufstehen, hinausgehen, arbeiten und sich mit Freunden treffen. Oder nicht?«

Ich schwieg. Er tippte nachdrücklich mit seinem Zeigefinger auf den letzten Satz.

»ODER NICHT?«

Etwas in mir zerbrach. Scherben dunkler, weggeschobener Träume fielen klirrend in mir zu Boden. Sie rissen mit ihren salzscharfen Kanten Löcher in mein Fleisch. Ätzende Säure pulste durch meine Adern, und ehe ich es mich versah, lagen meine Hände um seinen dürren Hals. Er zitterte leicht. Trotzdem schrieb er, ohne hinzusehen, weiter.

»Wir sind nicht allein. DU kannst uns nicht stoppen.«

Mein Griff verstärkte sich. Ich spürte den Widerstand seines Kehlkopfes und ich wusste, dass er bald brechen würde. Nur noch etwas mehr, dann würde er nicht einmal mehr schreiben können. Hatte er sich nicht ohnehin in seinem Wahn verstümmelt? Ich würde nur zu Ende bringen, was er nicht geschafft hatte, der dreckige Verlierer. Denn ich war nicht wie er!

»Hast du noch eine Kippe über?« Ruckartig drehte ich meinen Kopf zu der bittenden, verhuschten Stimme. Das Mädchen hatte sich wieder zurück geschlichen, doch jetzt war keine Unterwürfigkeit in ihrem Blick. Sie trat blitzschnell in meine Kniekehlen. Während ich wegknickte, folgte ein harter Schlag in den Nacken. Dann wurde es dunkel um mich.

Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in einem weiß getünchten Raum wieder. Ich saß in aufrechter Stellung in einem Sessel und sah mich in einem großen Wandspiegel. Ich versuchte, Arme und Beine zu bewegen, doch mein gespiegeltes Ebenbild log nicht: Ich war gefesselt. Ich begann zu zittern. Ein Winseln brach sich an den kalkweißen Wänden, das ich nur allzu gut kannte. Es war das angstvolle Fiepen, das mich in den letzten Jahren immer wieder aus dem Schlaf gerissen hatte und das mir umso mehr Angst einjagte, als ich feststellen musste, dass es aus meiner Kehle drang. Ich wandte den Blick ab. Ich wollte das Wrack nicht sehen, das mir von der Wand entgegenblickte. Das war ich nicht, das war nicht ich, das war ich nicht! Ich verbiss mich in dem groben weißen Stoff, in den man mich gekleidet hatte, und verharrte so, blind, taub, abwesend. Die Augen waren gegen jenen Wahn fest verschlossen. Das Hirn: leergespült. Nur nicht nachdenken! Bald würde ich aus diesem Traum aufwachen. Ich würde aufstehen, duschen, mich ankleiden und in die Sicherheit des Stahls fliehen. Bald schon …

Ich verlor jegliches Zeitgefühl. Da gab es kein tickendes Maß mehr, nur das eckige Schaukeln meines Körpers und das Knarren der breiten Lederriemen, die Arme und Beine fixiert hielten.

Irgendwann hörte ich das leise Zischen einer hydraulischen Tür, dem das Klacken flacher Absätze folgte. Sie stoppten in meiner Nähe, aber ich biss nur noch fester in den Stoff. Noch immer blind – aber nicht länger taub.

»Gute Arbeit, Kröger. Nicht jeder kann einen kontrollierten Ausbruch so gekonnt provozieren, wie Sie.« Die Stimme klang tief, fest und souverän. »Wie haben Sie es diesmal geschafft?«

Papier raschelte, ein Stift kratzte. Die erste Stimme lachte dröhnend auf.

»Die alte Masche also, gut, gut. Dabei sollte man meinen, dass in unserer aufgeklärten Zeit niemand mehr an den Teufel glaubt. Grüßen Sie mir Ihre Partnerin. Einen besseren Katalysator kann man sich nicht wünschen. – Na, dann wollen wir mal.«

Die Schritte näherten sich mir. Ich hörte ein behäbiges Schnaufen. Dumpfer Atem strich kurz über mein Gesicht. Übelkeit winkte fröhlich vom Rand meiner Befindlichkeit herüber. Ich presste die Augen noch fester zusammen, sodass ein grellrotes Feuerwerk in meinem Hirn explodierte. Dann zwangen grobe Finger meine Lider auseinander. Ich starrte in zwei blaugraue Augen, von tiefen Augenringen umwuchert.

»Sie können sich entspannen, Freund. Wir werden Ihnen helfen. Alles wird gut.«

Er richtete sich wieder auf. »Erinnern Sie sich an den letzten Vorfall?« Nachlässig schob er einen Stuhl heran und ließ sich schwer hineinfallen. Dann verschränkte er abwartend die Arme. Ich starrte ihn stumm an, unfähig zu sprechen, geschweige denn zu denken. Dann drehte ich langsam den Kopf und sah den anderen, den schmierigen Propheten aus dem Lokal. Kröger hieß er also. Das musste ich mir merken.

»Erinnern Sie sich an den Kampf? Sie haben die Kontrolle verloren, mein Freund.«

Ich war nicht sein Freund. Er war auch nicht meiner.

»Das ist nicht gut, müssen Sie wissen. Das ist gar nicht gut. Sie sind gemeingefährlich.«

Ich verzerrte mein Gesicht zu einem irren Grinsen. »Buh.«

Er zeigte sich nicht beeindruckt.

»Stellen Sie sich vor, was alles hätte geschehen können, wenn wir nicht gewesen wären. Sie hätten jederzeit explodieren können. Und was dann? Dann wäre das Geschrei groß gewesen. Und das zu recht. Es gibt immerhin so etwas wie eine staatliche Aufsichtspflicht.«

Er rieb sich selbstzufrieden das Kinn. »Vielen Dank, Kröger.«

Der zungenlose Lockvogel nickte und wandte sich zum Gehen. Sein skeptischer Blick streifte mich. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, das konnte ich sehen.

»Man wird sich um Sie kümmern.« Mit einem resignierten Ächzen erhob sich der Kerl.

Ich ahnte, dass jetzt die Weichen gestellt wurden – in welche Richtung auch immer. Daher zwang ich mich zu einer Reaktion.

»Wie?«

Er sah auf mich herunter und ich konnte förmlich sehen, wie er die Für und Wider abwog, es doch mit mir zu versuchen – was »es« auch immer sei.

»Wollen Sie wieder nach Hause?«

Ich nickte.

»Dann haben Sie Vertrauen. Wir werden Ihnen ein Implantat einsetzen. Es befindet sich noch in der Testphase, aber es wird Sie soweit stabilisieren, dass Ihre Aggressionen auf das Mindestmaß reduziert werden. Das einzige Messer, das Sie zielgerichtet in die Hand nehmen werden, wird das Buttermesser sein. Nichts und niemand wird Sie je wieder so provozieren können, dass Sie Gewalt anwenden werden – weder körperlich noch geistig. Na, wie klingt das?«

Ich hörte zu, dachte nach. Es klang alles verlockend. Keine Träume, keine Einflüsterungen in einsamen Nächten – alles würde wieder in seine rechte Ordnung fallen. Mein kleines, durchgeplantes Leben zwinkerte mir, dem Rädchen aller Rädchen, zu. Doch eine Frage blieb:

 

»Bin ich wirklich eine Gefahr?«

Er nickte.

»Sie haben es doch selbst erlebt. Aber das wird bald Geschichte sein. Psychologie ist gut und schön. Aber sie hat sich nicht als effizient erwiesen. Sie kann Mängel nicht in dem Maße nivellieren, wie sie entstehen. Diese Mängel manifestieren sich jedoch früher oder später – meist in Aggression, Gewalt und Unzufriedenheit. Aggressionen aber passen nicht in unsere heutige Gesellschaft, darüber sind wir uns alle einig. Sie überleben jedoch länger in uns, als alle Sozialdesigner gedacht haben. Also müssen wir sie bekämpfen. Kommen Sie mit?«

Ich nickte vage. Das reichte ihm, um weiter zu dozieren.

»Die Forschung kommt auf keinen grünen Zweig, während die prozentuale Zunahme von Amokläufen uns geradezu zwingt, neue Wege zu beschreiten. Reden hilft nicht? Dann sind wir gefragt. Es gibt Herzschrittmacher, es gibt Hirnschrittmacher. Wieso nicht das Wissen nutzen, das wir haben? Sehen Sie, unsere Umwelt hat nicht nur ihre guten Seiten. Etwas bleibt immer auf der Strecke. Menschlichkeit richtet sich nach der jeweiligen Definition. Jetzt sind wir in der Lage, die Situation der Definition anzupassen. Wir überwinden unsere Hilflosigkeit. Unterbewusstsein, papperlapapp. Uns ist letztlich egal, was tief in der Seele wühlt, solange wir die Auswirkungen kontrollieren. Und Sie, Sie werden das berühmte Ass im Ärmel sein, wenn wir unsere Methode dem Komitee vorschlagen werden.

Letztlich«, flüsterte er, »können Sie sich glücklich schätzen, Kröger über den Weg gelaufen zu sein. Nehmen Sie es ihm also nicht übel. Wir wollen nur das Beste.«

Ich lächelte versonnen.

Das Beste. Die Bestie.

Draußen knurrt es.

Im Innern ist es totenstill.

Sonnenstrahlen, die durch spiegelnde Fensterfronten fallen.

Feierabend.

Puppenspieler


»Ich liebe dich«, sagt Patrizia, nachdem er ihr die erste Schelle des Abends verpasst hat. »Ich möchte nur das Beste für dich. Lass dir bitte helfen!«

Ihre Stimme ist nicht von Angst verzerrt. Den schrillen Ton, der die Hysterie verrät, die sonst in solchen Situationen in ihr tobt, kann er heute nicht hören. Ihre Ruhe macht ihn rasend. Mit einer Hand greift er in ihr Haar, zieht sie hoch, bis sie nur noch auf den Zehenspitzen balanciert.

»Willst du mir immer noch sagen, was ich zu tun habe?«

Sie sieht ihn an, lächelt – nachsichtig, gütig. Als wenn er ein Kind wäre, dessen Feuerwehrauto kaputtgegangen ist. So darf sie ihn nicht ansehen. Verdammt, wer hat ihr erlaubt, ihm zu vergeben? Frustriert schüttelt er sie wie eine Lumpenpuppe. Warte nur, das Grinsen wird dir noch vergehen! Ich will dich schreien sehen. Ich will dich leiden sehen, du Schlampe, dreckige Hure, verblödetes Nichts. Ich mach dich fertig!

Doch sie schreit nicht. Sie jammert nicht. Manchmal schließt sie die Augen, für einen Moment nur, wenn ihr Kopf gegen die Wand hinter ihr schlägt. Doch dann sieht sie ihn wieder an. Ihre grünen Augen suchen seinen Blick, und dieses Scheißlächeln bleibt auf ihrem Gesicht haften, als sei es mit Zweikomponentenkleber fixiert. Wieso will sie nicht endlich nachgeben? Wieso missgönnt sie ihm die Herrschaft in den eigenen vier Wänden? Wieso … wieso … wieso?

Das Blut hämmert in seinen Ohren, der Atem geht schwer. Er ist so müde. Es war ein langer Tag gewesen, lang und unerfreulich. Er hat längst abschalten wollen. Die Abendnachrichten sind bestimmt schon vorbei – verdammt, sie weiß doch, wie wichtig sie ihm sind! Eine Viertelstunde nur, eine beschissene Viertelstunde! Aber nein, Madame muss ja wieder ihre Anwandlungen haben. Geh! Geh, geh. Such dir Hilfe. Denn du bist Müll. Das ist es doch, was sie ihm ständig aufs Neue deutlich macht, aus welchem Grund auch immer. Sie hat es gut bei ihm. Sie könnte den Himmel auf Erden haben, wenn sie ihn nur nicht immer so reizen würde! Meinte sie etwa, das hier würde ihm SPASS machen? Wie kam sie nur darauf, mein Gott, er LIEBTE sie. Wenn er doch nur seine kleine kurze Viertelstunde haben könnte!

Seine Wut flammt erneut auf, lässt seine Fäuste härter schlagen, ungebremst, unkontrolliert. Niere, Magen, Rippen, Bauch. Sie krümmt sich unter der Wucht der Schläge, sackt zusammen, kauert irgendwann auf dem Boden, die Hände zum Schutz erhoben. Als er auf sie hinunter sieht, kann er endlich wieder Luft holen. Beiläufig bemerkt er einen Speichelfaden, der zäh aus dem Mundwinkel tropft. Sorgfältig wischt er ihn weg. Dann geht er vor ihr in die Hocke, hebt die Hand vorsichtig, beinahe schon zärtlich, an ihr Gesicht und streicht eine dunkle Strähne aus der Stirn.

»Willst du mich immer noch fortschicken?«

Sie sieht ihn nicht an, ist erstarrt in der perfekten Pose des Opfers. Schon glaubt er, sie zittern zu sehen. Sein Blut fließt wieder ruhig in seinen Adern. Das Herz wird ihm weit und großzügig.

»Du musst jetzt nichts sagen, Liebling. Du warst verwirrt. Ich verzeihe dir. Na, wie wäre es mit einem Kuss?«

Jetzt sieht sie ihn endlich an. Die grünen Augen sind verschleiert, das Lächeln wirkt daher etwas dümmlich, aber die Worte sind klar und deutlich.

»Geh zu einem Psychiater. Du schaffst es nicht allein.«

Er muss feststellen, dass sie auch noch lächelt, nachdem sie bereits kalt geworden ist.

Der Drink, der ihn von diesem Anblick erlösen sollte, schickte ihn in eine bodenlose Schwärze.

Die Jalousien surrten leise, als sie nach dem Ende der Vorführung wieder hochgezogen wurden. Ein entsetztes Schweigen lastete schwer auf dem Raum. Zähflüssig kroch es über die blinkenden Edelstahlflächen der Büroeinrichtung, floss an den großen Glasfenstern hinauf, legte sich über einen chiffonumhüllten Oberschenkel und sammelten sich schließlich in ausdruckslosen, unaufgeregten Augen. Sie waren grau.

Die Frau fröstelte. »Wird er sich nie ändern?«

Ein Blick in die grauen Augen ihres Gegenübers und das Frösteln verstärkte sich. Das Schweigen eroberte erneut den Raum.

»Ihr Hobby wird langsam teuer«, sagte der Geschäftsmann schließlich. »Was erwarten Sie sich eigentlich davon, Frau Heussler? Warum leben Sie nicht einfach Ihr Leben?«

Ein Ruck ging durch die Frau. Für einen kurzen Moment spiegelte sich der Stahl des Zimmers in ihrer Stimme.

»Ich will ihn nicht aufgeben.«

»Wir haben Ihnen schon beim ersten Besuch versichert, dass wir keine Therapeuten sind. Ich möchte Sie nur noch einmal darauf hinweisen, damit Sie nicht in Versuchung kommen, diese Firma zu verklagen, falls sich der gewünschte Erfolg nicht einstellt.« Nach einer kurzen Pause räusperte er sich. »Um ehrlich zu sein, kann ich keine Besserung feststellen. Im Gegenteil, er hat Sie gestern zum ersten Mal getötet. Sie haben es ja selbst erlebt.«

Sie nickte leicht. Merkwürdigerweise war es schmerzhafter, das Video anzusehen, als die Szene am eigenen Leib zu erleben. Es musste an der gedämpften Reizübertragung liegen. Schock würde man beim Menschen psychologisieren. Sie wurde wieder weich, durchlässig für das, was einst war. Wahrscheinlich war die ganze Sache an sich für keinen Außenstehenden zu verstehen. Vielleicht nur für den, der wusste, wie Thomas früher gewesen war.

Angelegentlich sah sie zum Fenster hinaus. Ein schöner Tag. Doch er war nichts im Vergleich zu dem Sonntagnachmittag vor vier Jahren, als sie ihn kennengelernt hatte. Es war im Frühherbst gewesen, zwischen rot glühendem Laub, Pilzduft und Sonnengefunkel. Sie hatte am Schwanenteich pausiert und dem bunten Treiben von Stockenten, Möwen und Graugänsen zugesehen, als er höflich gefragt hatte, ob auf der Bank noch ein Platz frei wäre. Er war in den mittleren Jahren, sehr sorgfältig gekleidet, charmant, zuvorkommend. Sie kamen ins Gespräch und sie ertappte sich später bei dem Gedanken, dass sie sich lange Zeit nicht mehr so wohl gefühlt hatte. Bald sahen sie sich öfter – ging spazieren, ins Kino. Essen. Irgendwann kam es zu den ersten Berührungen.

Versonnen strich sie mit dem Daumen über ihre Lippen. Es war erstaunlich gewesen. Sie hätte damals nicht gedacht, dass Sex so aufregend sein konnte. Was ihrem ersten Mann an Leidenschaft gefehlt hatte, machte Thomas gleich doppelt wett.

»Möchten Sie trotzdem einen weiteren Versuch starten?«

Sie schluckte. Irgendwann fing er an, sie anders anzufassen. Die vorsichtige Zärtlichkeit machte einer verhohlenen Grobheit Platz, die sie zunächst genoss. Doch als sie sich an die erste Ohrfeige erinnerte, die er ihr aus irgendeiner Nichtigkeit heraus verpasst hatte, prickelte ihre Wange, als ob ein Insekt seine ätzenden Exkremente darauf ablud. Ein Schauer durchfuhr sie. Warum tat sie das alles?

Mit zitternden Händen unterschrieb sie den Folgevertrag.

Van Fromm mit den grauen Mephisto-Augen schmunzelte. Die Katze war im Sack. »Wenn er so weiter macht, muss ich Ihnen bald Rabatt gewähren.«

Er widerte sie an. Patrizia war sich schon lange bewusst, dass er sich insgeheim über sie lustig machte, und jedes Mal, wenn sie die Schwelle zu seinem Büro überschritt, überlegte, welche Jacht er sich als nächste aussuchen würde. Aber letztlich war ihr das egal.

Mit einem höflich-professionellen Shakehands warf er sie aus seinem Büro, hinaus in das hochwertige Entree, in dem sie für einen Moment wie benommen stand. Dann ordnete sie ihren Mantel und klemmte die Tasche mit den Videos unter den Arm. Sie musste noch sehr viel üben. Doch für’s erste musste sie sich auf den Heimweg machen – und Brötchen besorgen.

»Ich will ihn nicht aufgeben«, hatte sie gesagt. Das traf es recht genau. Nach den ersten Schlägen hatte sie ihre Tasche gepackt und war zu einer Freundin gezogen. Doch er hatte sie dort aufgespürt, hatte sich tränenreich entschuldigt. Es sei der Stress gewesen, er könne es sich selbst nicht anders erklären. Er würde sie aufrichtig lieben. Niemals würde sich diese Situation wiederholen.

Sie war schwach geworden. War zurückgekommen. Bald waren die Schläge vergessen. Für die nächsten drei Jahre hatte alles geklappt. und die Welt war rosarot und watteweich und zeitlos. Sie liebte und wurde geliebt und wollte dieses Gefühl nicht mehr missen.

Dann verlor er seinen Job. Man hatte ihn wegrationalisiert, die Quoten stimmten nicht mehr. Er war frustriert. Sie wollte ihm helfen, übernahm in ihrem Job mehr Arbeit, blieb daher länger weg, verdiente den Lebensunterhalt für sie beide. Sie spürte seinen Zorn sehr deutlich, auch wenn er alles tat, um ihn vor ihr zu verstecken. Sie wusste um seine Angst. Daher war es nicht unerklärlich, als er sie eines Abends an der Haustür abfing und zusammenschlug.

Als sie wieder bei Besinnung war, versuchte sie, mit ihm zu sprechen. Sie schlug eine Therapie vor, versicherte ihm, dass sie ihn liebte und an ihn glauben würde. Und wachte erst im Krankenhaus wieder auf.

Sie tauchte erneut unter. Doch ihre Gedanken waren immer bei ihm. Seltsamerweise verspürte sie keinen Zorn. Stattdessen verlor sie sich in den Erinnerungen, träumte von ihm, idealisierte ihn und war über ihre eigene Hilflosigkeit wütend. Jeder sagte ihr, dass er ein Schwein sei, ein brutaler Schläger mit kleinem Ego, getrieben von Angst und Minderwertigkeitskomplexen, doch anstatt ihn endgültig zu verlassen, suchte sie nur umso intensiver nach einer Lösung. Diejenigen, die ihr davon abrieten, ließ sie im Regen stehen. Wer kritisierte, war nicht auf ihrer Seite, warum also Zeit auf die Zweifler verschwenden? Sie hatten doch keine Ahnung.

In dieser Zeit starb ihre Mutter, die sie jahrelang nicht mehr gesehen hatte. Sie hinterließ ein tiefes Loch in ihrer Seele und ein Erbe, von dessen Höhe Patrizia keine Ahnung gehabt hatte. Nachdem sie sich in diese neue Situation hineingefunden hatte, suchte sie verstärkt nach Möglichkeiten, ihm zu helfen. Schließlich las sie von Mephistos Horrorkabinett, wie sie die Firma bei sich nannte. Technical Humanoids for better Realities – Highclass avatars for enlarged joy. Sie musste nicht lange überlegen.

Verwirrt und mit dröhnendem Schädel wacht er aus einem komatösen Schlaf auf. Er weiß nicht sofort, wo er sich befindet oder welcher Tag es ist. So etwas ist ihm früher mal passiert, als er noch Student war. Damals hatte es keine Auswirkungen gehabt, aber jetzt? Er hat gerade erst wieder einen Job gefunden. Nicht die gut dotierte Stelle, aus der man ihn hinauskomplimentiert hat, aber besser als nichts. Noch ist seine Probezeit nicht vorbei, er sitzt auf einem wackligen Posten. Er kann nur hoffen, dass er wegen dieser Fehlzeit nicht hinausgeworfen wird. Langsam ist er zu alt für die Verzögerungstaktik der Arbeitsagentur.

 

»Liebling?« Sie ist wohl schon bei der Arbeit, nur ein Hauch ihres Parfums hängt wie ein leiser Gruß in der Luft. Mit einem Stoßseufzer vergräbt er das Gesicht in ihrem Kissen, saugt ihren Duft ein, warm und weich. So unendlich vertraut. Er hat geträumt, dass er sie getötet hätte. Allein die Erinnerung an diese Bilder lässt sein Herz krampfen und ihm die Luft knapp werden. Was hat er nur getan?

Doch als er aufsteht und im Badezimmer ihr Badetuch findet, sauber über die Stange des Duschvorhangs gehängt, noch feucht, als er in der Küche den letzten Tropfen Kaffee aus ihrem Becher leckt, sind die Trugbilder des Schlafes für den Moment vergessen. Ein Blick in die Fernsehzeitung versichert ihm, dass es Sonntag ist. Er hat also keinen Tag Arbeit versäumt, Glück gehabt. Entwarnung. Und Patty wird beim Bäcker um die Ecke sein und ganz bestimmt gleich nach Hause kommen. Fröhlich pfeifend setzt er einen frischen Kaffee an und geht ins Badezimmer.

»Schatz?« Patrizias Stimme tönt durch das Rauschen der Dusche.

Er stellt das Wasser ab und steckt den Kopf aus der Dusche. »Wieder zurück, Liebling?«

Sie lehnt sich entspannt lächelnd in die Badezimmertür. »Hast du gut geschlafen?«

»Ja, leidlich.« Mit einem jungenhaften Grinsen streckt er den Arm zu ihr aus. »Komm her zu mir.«

»Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, weißt du. Du wolltest gar nicht wieder aufwachen. Aber dann habe ich gedacht, dass du es wohl nötig hast, also habe ich dich gelassen.« Sie lächelt entschuldigend.

Er winkt ungeduldig ab. »Nun bin ich ja wach.« Dann lächelt und lockt er erneut: »Kommst du jetzt zu mir?«

»So wie ich bin?« Sie deutet lachend auf ihren Chiffonrock und die Seidenbluse. »Ich fürchte, ich muss das Angebot ausschlagen!«

»Bist du dir sicher?« Er schmollt.

Sie zwinkert ihm zu, dreht sich auf dem Absatz herum und schreit einen Moment später spitz auf, als ein Schwall Wasser ihren Rücken trifft.

»Na, jetzt solltest du aber schnell aus den nassen Klamotten heraus. Du holst dir ja sonst den Tod, Liebling.«

»Warum hast du nicht wenigstens warmes Wasser genommen?«, mault sie, als sie sich aus den eiskalten Fetzen schält. »Mir ist kalt!«

»Komm her, dann mach ich dir Feuer unterm Hintern«, murmelt er.

Als sie später durch den Park bummeln, merkt er, wie sie tief Luft holt, als ob sie sich für irgendetwas Mut machen müsste. »Rück damit raus, Liebling, was immer dir auch auf der Seele brennt.«

Ein schneller Blick von ihr, ein Umgebungsscan. Wie viele Menschen sind da? Wird jemand helfen können, wenn … Dann kuschelt sie sich wieder in seinen Arm und fragt leise: »Erinnerst du dich an irgendetwas vor dem Einschlafen?«

Er runzelt die Stirn. »Nicht richtig. Eigentlich gar nicht. Habe ich etwas gemacht? Auf dem Tisch getanzt und schmutzige Lieder gesungen?« Er lacht gezwungen. Der Morgen holt ihn wieder ein. Sein Magen windet sich in einem stählernen Griff. »Was ist passiert, Liebling? Haben wir uns … gestritten?«

Streiten, so nennt er das. Man streitet mit Fäusten, man diskutiert mit Worten. Immerhin ist er konsequent in seiner Begrifflichkeit.

Sie vergewissert sich noch einmal, ob es genügend potenzielle Zeugen gibt. Öffentlichkeit hält ihn in Schach, das hat sie schon vor Langem herausgefunden. Sie schluckt trocken, dann endlich flüstert sie erstickt: »Du hast mich umgebracht.«

»Was hast du da in deinen Schal gemurmelt?«

»Du, du hast …«

»Ein bisschen lauter, Liebling.« Er neigt den Kopf zu ihr hinunter, lauscht angestrengt.

»DU HAST MICH UMGEBRACHT!«

Jetzt ist es heraus, sie bleibt stehen, zittert. Sieht ihn voller Angst an, leicht geduckt. Wer weiß, woher die Faust kommen mag?

Er sieht sie fassungslos an, schüttelt verwirrt den Kopf. »Das meinst du nicht ernst, oder? Du stehst doch vor mir, hm? Ziemlich lebendig, wie ich finde.«

Sie nickt. Schweigt. Beißt sich auf die Lippen.

»Meinst du das metaphorisch, oder wie?« Langsam wird er ärgerlich. Wie sie dasteht, als sei er ein Monster. Wie ein furchtstarres Karnickel – und behauptet solch einen Scheiß. Er würde sie doch nie – der Magen presst sich zusammen, das Blut beginnt zu rauschen.

»Antwortest du nicht mehr, oder wie? Das ist ziemlich billig, weißt du das? Einfach so eine Behauptung aufzustellen und dann nichts mehr dazu zu sagen. Klär mich mal auf! Was geht in deinem kranken Hirn denn vor sich?«

Sie zittert. Wird blass. »Entschuldige, ich hätte nicht davon anfangen sollen.«

Er zieht ein Gesicht. »Jetzt ist es zu spät. Das hättest du dir früher überlegen sollen.«

»Ich dachte doch nur …«

»Denken, denken. Kannst mal sehen, was dabei rauskommt.« Er knurrt, er ist beleidigt. Er würgt an der eiskalten Angst, die wie ein Gummiband seinen Magen abschnürt. Da ist etwas hinter seiner Stirn, es pocht und klopft gegen die Schädelknochen. Es sind Bilder, Ahnungen, die aus irgendeinem modrigen Versteck an die Oberfläche seines Geistes wollen. Es kostet Kraft, sie aufzuhalten, sehr viel Kraft. Der Schweiß sammelt sich auf seiner Stirn.

Sie tritt einen Schritt näher. »Lass uns nach Hause gehen.«

Er fasst ihre Hand, dreht sich abrupt um, marschiert los.

Kein Schmerzenslaut verlässt ihre Lippen, als der Mittelhandknochen des kleinen Fingers unter dem Druck bricht.

»Im Übrigen verzichte ich im Zuge des Kaufvertrages auf die Video-Überwachung. Das bedeutet, dass Ihre Firma sämtliche Kameras unverzüglich entfernen wird.« Patrizia lächelte kühl. »Irgendwelche Einwände?«

»Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann. Die Sicherheit, Sie verstehen?« Van Fromm war nicht erfreut, aber sie hatte die besseren Karten in der Hand. Sie hatte das Geld.

»Wenn ich mir zu Hause einen Panic Room einrichte, in den nur ich sowie das Servicepersonal hinein- und hinausgehen können, dann denke ich, dass für meine Sicherheit ausreichend gesorgt ist.«

»Es geht aber hier nicht nur um Ihre Sicherheit, sondern auch um die des Produktes!«

Van Fromm fuhr sich erregt über die Stirn, so ganz und gar nicht mehr Mephisto. »Was meinen Sie denn, wenn Ihr Mann herausbekommt, was Sie da machen – glauben Sie wirklich, dass er das locker-flockig hinnehmen wird? In dem Produkt steckt sehr viel Liebe zum Detail, Know-how, bahnbrechende Entwicklungen, Hightech!« Ihm gingen die Worte aus.

»Es ist interessant, wie sehr Sie an Ihren Schützlingen hängen«, erwiderte Patrizia spitz. »Dabei möchte ich Sie an dieser Stelle noch einmal auf den Full-Service-Zusatzvertrag hinweisen, der die technische Funktion auf Lebenszeit sicherstellt, Herr van Fromm. Ich habe ihn bereits unterschrieben und beglaubigen lassen. Meines Wissens haben Sie auch keine Ausschlussklausel eingefügt. Bei dem horrenden Preis könnten Sie sich das im Übrigen auch nicht leisten!«

Van Fromm hob eine Braue.

»Aber man kann Ihr Vorhaben als vorsätzliche und wissentliche Gefährdung des Produktes ansehen«, wandte er ein. »Daher können wir uns das Recht nehmen, die Vertragsleistungen nur unter Vorbehalt zu gewähren. Letztlich können sich die Anwälte darum kümmern.« Er holte tief Luft. »Frau Heussler«, begann er dann von Neuem. »Warum tun Sie sich das an? Sie sind doch auf so einen gar nicht angewiesen. Wieso genießen Sie nicht Ihr Leben?«

Patrizia sah van Fromm kühl an. »Glauben Sie mir, ich habe meine Gründe.«

Kurze Zeit später waren alle Vorbereitungen abgeschlossen. Die Idee eines Panic Rooms hatte Patrizia verworfen, da sie baulich unmöglich machbar war. Doch der Zufall wollte es, dass das Einzimmerappartement nebenan frei wurde. Sie unterschrieb sofort den Mietvertrag. Sie reichte ohne Thomas’ Wissen auf ihrer Arbeitsstelle Sonderurlaub ein und übte in dieser Zeit im Trainingscenter von Technical Humanoids alle nötigen Handgriffe, die sonst die Servicetechniker an ihr verrichteten. Als er dann für ein Wochenende zu seinen Eltern in den Harz fuhr, war es soweit. Kaum war er aus der Wohnung, vergaß sie die Magen-Darm-Grippe, die sie angeblich daran hinderte, ihn zu begleiten und öffnete den Technikern von Humanoids die Tür. Der Samstag war mit dem technischen Aufbau ausgefüllt. Patrizia wunderte sich, wie problemlos das Einrichten verlief. Am Schluss glich das Appartement einer Mischung aus Krankenhauszimmer, Werkbank und Computerstation. Sonntagmorgen wurde dann das frisch überholte Produkt angeliefert. Patrizia gab die Ersatzschlüssel der Wohnung sowie die verschiedenen Codes der Alarmanlage an ihren persönlichen Servicetechniker weiter.