HUMANOID 2.0

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Als die Tür hinter dem letzen Mitarbeiter ins Schloss gefallen war, widmete sie sich endlich ihrem Alter Ego. Wie schon beim ersten Mal war sie fasziniert von der Perfektion der Imitation. Seltsam, dachte sie, in diesem Körper habe ich die letzten zwei Wochen verbracht. Er ist mir so vertraut wie mein eigener. Vorsichtig legte sie eine Hand auf die Brüste des Avatars. Die synthetische Haut war samtweich, hier und da schimmerten die Adern leicht blau. Sie war nicht hübsch, stellte sie fest. Die jugendliche Straffheit war dahin. Man sah es unter den Armen, an den Schenkelinnenseiten, am Hals. Versonnen berührte sie sich selbst, während sie mit einer Hand ihren Avatar, ihr Alter Ego, streichelte. Nicht hübsch, wiederholte sie in Gedanken. Aber schön. Neugierig beugte sie den Kopf vor, schnupperte leicht. Der Kunstkörper glich ihr sogar im Geruch. Mutig, verlegen, konfus erforschte sie mit ihren Fingern die künstliche Vagina. Auch hier fühlte sich soweit alles echt an. Doch genau an dieser Stelle offenbarte sich der Unterschied zwischen Natur und Nachahmung. Sie musste schmunzeln. Oh ja, diese Braut konnte immer, wollte immer. Da gab es kein Problem mit ausgedörrten Wadis bei mangelnder Attraktion des Gegenübers.

Der Sex mit Thomas hatte immer gut geklappt. Ob er deshalb so von sich überzeugt war? Patrizia trat einen Schritt zurück. Sie runzelte die Stirn. Egal, was er gesagt oder getan hatte, bisher hatten sie sich immer im Bett versöhnt. Würde ihm diese künstliche Hitze und Nässe nicht signalisieren, was für ein geiler Hengst er war? Auch wenn er mich grün und blau geschlagen hat, das Fleisch ist willig? Ob er es als Anreiz sehen würde? Mit einem Ruck zog Patrizia die Hand zurück.

Dann sah sie auf die Uhr. Er würde bald zurückkommen. Für einen Moment zögerte sie. Dann aber legte sie sich auf die pneumatische Liege, schob den Mindstreamer über den Kopf und schloss den Apparat an. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie ihren Körper auf dem Bett liegen. Sie übernahm die Kontrolle über den Avatar, schloss ihren Körper an Kanüle und Katheter an, legte die Nährlösung und die Elektroden für das Dauer-EKG, das über eine Computerstandleitung mit dem medizinischen Dienst von Humanoids verbunden war.

Als sie das Appartement verließ, fühlte sie sich im Avatar heimischer als in ihrem eigenen Körper.

»Liebling?« Die Tür fällt ins Schloss. Sie atmet erleichtert durch. Er ist gut gelaunt, anscheinend kein Stau, keine inkompetenten Mercedesfahrer – alles ist gut.

»Im Wohnzimmer, Schatz!«

Er steht in der Tür, reißt die Arme auf. »Willst du mich nicht ordentlich begrüßen?«

Sie fliegt ihm in die Arme.

»Anscheinend bist du wieder gesund. Das ging ja schneller, als ich dachte. Oder wolltest du dich etwa nur um den Besuch drücken?«

»Nein«, versichert sie ihm hastig, den Kopf an seinem Hals, seinen Duft in sich aufsaugend. Es sei ihr schlecht gegangen und nur die Freude, ihn wiederzusehen, ließe sie jetzt so übermütig erscheinen. Er freut sich auch auf sie, sie spürt es in seinem Schritt.

Nach der Wiedersehensparty liegt er erschöpft neben ihr, die Hand auf ihrer linken Brust und lächelt sein Sonnenscheinlächeln.

»Ich liebe dich«, flüstert sie. »Ich liebe, liebe, liebe dich.«

»Wie schön«, erwidert er. »Das Gleiche gilt für mich.«

Zufrieden kuscheln sie sich aneinander und für einen kurzen Moment denkt sie, dass es schierer Wahnsinn ist, dieses Erlebnis ihrem wahren Körper vorzuenthalten. Vielleicht, denkt sie weiter, vielleicht, wenn es so bleibt, brauche ich den Avatar nie wieder und er wird nie etwas davon erfahren. Doch eine dunkle Stimme flüstert im Hintergrundrauschen, dass es nicht so friedlich bleiben wird. Denn wenn auf etwas Verlass wäre, dann auf seine Unberechenbarkeit. Doch sie hört es nicht, zu sehr konzentriert sie sich auf den Strom der Liebeserklärungen, die er in ihr Haar flüstert.

Am nächsten Morgen wacht sie erst spät auf. Die Sonne scheint grell in ihr Fenster, und nach einem Moment des Sichsortierens bemerkt sie Thomas auf dem Stuhl neben ihrem Bett sitzen. Seine Miene ist düster und angespannt. Was denn sei, fragt sie verwirrt. Warum ist er nicht bei der Arbeit, was macht er hier? Er antwortet nicht.

»Bitte«, fleht sie ihn an. »Bitte sprich mit mir!«

Er dehnt den Augenblick, lässt sie zappeln im Angesicht des Sturms. Schließlich hält er ihr ein Bündel Papier entgegen. Nach ein, zwei Blicken lässt sie die Seiten sinken.

»Warum hast du eine Wohnung angemietet?«

Sie schweigt.

»Willst du mich verlassen? Ist es das, was du willst?« Er spricht leise, konzentriert.

Sie schüttelt stumm den Kopf.

»Patrizia, gibt es etwas, das du mir sagen willst?«

»Nein, Tom. Das hat gar nichts … das ist nichts.«

»Wer ist es?« Thomas ist inzwischen kalkweiß, seine Hände krampfen sich um die Armlehnen.

»Niemand, Tom, da ist niemand!«

»Wen willst du für dumm verkaufen? Das ist ein Mietvertrag – entweder wolltest du in aller Heimlichkeit verschwinden oder das ist dein kleines Liebesnest. Lohnt es sich denn? Hat er mehr Kohle, ist es das? Oder fickt er besser als ich, hä?«

»Da ist kein anderer, glaub mir doch!«

Mit einem Satz ist er neben ihr. Reißt ihr den Kopf nach hinten, die Hand in ihren Locken verkrallt. »Lüg mich nicht an, du Schlampe!«

»Tom, bitte!«

»Willst du mich überzeugen, Patty? Willst du mich wirklich überzeugen?« Seine Stimme ist zu einem heiseren Flüstern herabgesunken. »Willst du mir zeigen, dass Patty-Maus nur ein dummes, dummes Kind ist, das in fremden Wohnungen spielen geht?«

Sie versucht, zu nicken.

»Dann zeig sie mir. Jetzt, sofort!« Mit einem Griff schnappt er sich den Mietvertrag. »Du hast es ja gar nicht weit, wie ich sehe. Faul auch noch, was? Andere Nutten würden ihre Affären wenigstens vor ihren Männern geheim halten, aber selbst das kannst du nicht. Und jetzt raus aus dem Bett, sonst setzt es was!« Sein Fußtritt verfehlt sie nur knapp.

Als Thomas das Appartement gesehen hatte, war er so befremdet und geschockt, dass er zum ersten Mal ganz leise geworden war. Er war nicht wütend, nicht entsetzt. Er war sprachlos. Und zum ersten Mal hatte er ihr wirklich zugehört.

Sie erzählte ihm, was es mit dem Avatar auf sich hatte. Sie erzählte ihm von ihrer Liebe, völlig irrational unter den gegebenen Umständen, aber trotzdem unauslöschlich in ihr verankert. Sie erzählte ihm von ihrer Kindheit, dass sie Schläge schon von früher gekannt hatte und daher damit umgehen konnte. Sie erzählte ihm von ihrem Glauben an das Gute in ihm, von ihrem Vertrauen. Dass sich alles zum Guten wenden würde, wenn er sich nur einer Therapie unterziehen würde. Sie fragte ihn, ob er sie liebe. Warum er sie schlug. Warum er ihr immer wieder wehtat.

An diesem Abend rollten sie ihre Beziehung neu auf. Sie sezierten die guten wie die schlechten Dinge, und am Ende lagen sie sich weinend in den Armen.

Trotzdem wechselte Patrizia nicht wieder in ihren Körper zurück. Der Avatar war ihr Schutzschild in der Zeit, die Thomas brauchte, um das Ganze zu realisieren. Sie gab ihm die Codes der Alarmanlage nicht, als Selbstschutz, denn sie wusste nicht, wie weit sie ihm in dieser Phase des langsamen Begreifens trauen konnte. Zu groß war die Angst, dass er in einer unbeobachteten Minute in das Appartement schlüpfen und in einem Anfall unkontrollierter Raserei ihren biologischen Körper töten würde. Da sie sich vorstellen konnte, wie befremdlich die Situation für Thomas sein musste, aber auch wie demütigend, ertrug sie seine Ausbrüche und erklärte ihm immer wieder, dass sie das Ganze für ihn geplant hatte, weil sie ihm helfen wollte, einen anderen Weg einzuschlagen, und auch, dass sie die Schläge kaum spüren würde, die er dem Avatar verabreichte.

Nachdem er sich an die Situation gewöhnt hatte, verstrich ein weiterer Monat, der erstaunlich friedlich verlief. Thomas hatte sich im Griff, vergewisserte sich aber immer wieder, ob ihr die Schläge wirklich nichts ausmachten, ob es ihr gut ginge. Diese Fürsorge erinnerte sie an den Mann, den sie damals kennengelernt hatte, und ließ sie vor Freude weinen. Sie fühlte sich wieder so sicher, dass sie in ihren Körper zurückwechselte.

Eines Abends kam er mit der guten Nachricht nach Hause, dass er einen Therapeuten gefunden hätte. Der Haken daran war, dass der nächste Platz erst in sechs Monaten frei würde. Aber er hätte sich als dringender Fall ganz oben in die Warteliste eintragen lassen. Vielleicht – wenn ein anderer Klient absprang – würde er schon früher anfangen können. An diesem Abend schlossen beide aus einer Sektlaune heraus ein Abkommen, das Thomas die Wartezeit erleichtern sollte.

Wann immer er einen Wutausbruch heraufziehen spürte oder in eine Situation kam, die ihn die Kontrolle verlieren ließe, wollte er ein Codewort sagen, sodass Patrizia gewarnt war und in ihren Avatar wechseln konnte. Es sollte nur für absolute Notfälle sein, versicherte Thomas. Aber so weit wollte er es gar nicht kommen lassen. Schließlich liebte er sie mit jeder Faser seines Seins.

Doch diese Liebe allein konnte ihn letztlich nicht vor den gefürchteten Wutausbrüchen heilen. Also schlüpfte Patrizia immer wieder in ihren Avatar, so wie es besprochen war. Sie wusste, dass die Schläge nicht persönlich gemeint waren. Insgeheim liebte er sie, und was er mit seinen Fäusten malträtierte, war letztlich nichts weiter als eine Puppe. Eine teure, eine lebensechte, eine perfekt gebaute Puppe, aber eben nicht sie. Glaubte sie. Hoffte sie.

Je mehr Zeit verstrich, desto mehr gewöhnte sie sich daran. Am Anfang dachte sie noch voller Hoffnung, dass dieser Zustand nicht von Dauer sei. Er wollte etwas ändern, ihr zuliebe. Weil sie ihm wichtig war. Und eben doch mehr als ein Stück Scheiße, auch wenn er sie oft genug so behandelte. Letztlich würde ihr Plan aufgehen.

 

Irgendwann vergaß sie, die Tage zu zählen. Irgendwann wechselte sie nicht mehr in ihren wirklichen Körper. Das An- und Abschließen an die Lebenserhaltungssysteme war zu mühselig. Und mit dem Avatar erfüllte sie ihre Aufgaben so gut, wie mit ihrem Körper. Wozu die Mühe? Also begnügte sie sich damit, ihren Körper zu pflegen. Sie wusch ihn, salbte ihn ein, kümmerte sich liebevoll um ihn. Er sollte rein sein, wenn es endlich soweit war.

Irgendwann, dachte sie in einem dieser Momente, irgendwann werden wir wieder vereint. Wir alle drei – du, Tom und ich.

Was sie nicht wusste, war der Umstand, dass Thomas nicht mehr vorhatte, die Therapie anzufangen, die er ihr versprochen hatte. Denn auch er hatte sich sehr schnell an die Vorzüge des Avatars gewöhnt. Er liebte die Imitation. Es war viel einfacher, das Codewort zu sagen, kurz auf die Einwilligung zu warten und sich dann auszutoben. Er musste sich nicht mehr mit seinen Ängsten und Defiziten herumschlagen, er musste seine Schwächen nicht mehr vor einem anderen Mann oder, noch schlimmer, vor einer Frau offen darlegen. Psychologenschweine glaubten immer, dass sie dich ganz genau kennen. Einen Furz kennen sie!

Mit der Zeit begann er, Voranmeldungen zu platzieren. Er erzählte beispielsweise, dass er in eine stressige Situation geraten würde, ein wichtiges Meeting, vor dem ihm schon jetzt am Frühstückstisch graute. Er wüsste nicht, wie es ihm abends gehen würde, obschon er versuchen wolle, sich zusammenzureißen. Patrizia lernte schnell. Sie war bereits in ihren Avatar geschlüpft, wenn er abends nach Hause kam. Schlagen, schreien, quälen, ficken. Das entspannte ihn. Er liebte es, nach einer solchen Sitzung in Patrizias Armen zu liegen, und ihre Stimme zu hören, wenn sie ihn tröstete. Manchmal fragte sie ihn, wann die Therapie anfangen würde. Nachdem er das ein halbes Jahr hatte hinauszögern können – du weißt doch, Liebling, die Warteliste – begann er, ihr von Sitzungen vorzulügen. Es sei sehr interessant gewesen, er wüsste ein bisschen besser über sich Bescheid. Nur heute, heute seien die Pferde mit ihm durchgegangen, aber er wolle sich bessern. Schließlich liebte er sie.

Patrizia liegt auf der Couch und grübelt. Vormittags ist sie zum Chef herein gerufen worden. Lohnerhöhung, Beförderung. Man bietet ihr einen Job in Hamburg an. Es ist ein Karrieresprung – doch was wird Thomas dazu sagen? Gerade jetzt, wo bei ihm alles gut läuft. Die Therapie, sein Job. Endlich scheint er ein Bein auf den Boden zu bekommen. Er wird nicht wegziehen wollen. Wie sag ich’s meinem Kinde? Patrizia seufzt. Dass die Wäsche nicht fertig ist, wird ihm nicht gefallen, auch wenn seine Hemden gebügelt im Schrank hängen. Vielleicht hat sie ja Glück. Vielleicht hat er gute Laune und greift ihr bei der Hausarbeit unter die Arme – wovon träumst du nachts? Aber vielleicht kann sie ja doch alles schaffen, wenn sie nur fünf Minuten die Augen schließt und sich entspannt.

Die Lider werden schwer. Ihr Atem geht tief und regelmäßig.

Sie hört nicht, wie die Tür aufgeht. Sie hört nicht, wie er seine Aktentasche auf den Garderobentisch schmeißt. Sie sieht nicht, wie er sich sammeln muss, um nicht sofort aus der Haut zu fahren.

Die Küche, träumt sie. Ich muss unbedingt aufräumen.

Sie spürt Thomas erst, als er vor ihr in die Hocke geht und über ihr Haar streicht.

»Aktion Reiner Tisch?«, fragt er leise, gepresst, hungrig.

»Tisch«, murmelt sie im Halbschlaf. »Ja, ja, der Tisch.«

Er wundert sich zwar, warum sie nicht nachfragt, wie sonst immer. Doch nur für einen Moment. Denn eigentlich ist es ihm recht, dass er vorher nicht reden muss. Reden kann man ja später. Das, was vorher kommt, ist ihm bedeutend wichtiger.

Patrizia weiß nicht, wie ihr geschieht, als er sie an den Haaren vom Sofa zerrt. Sie kann die ersten Schläge nicht abwehren, schlaftrunken, wie sie ist. Danach explodiert der Schmerz in ihrem Körper. Ihr Fleisch brennt, in den Ohren gellen seine Schreie. Seine Wut tropft geifernd in ihr Gesicht. Nein, will sie rufen, halt, stopp! Doch sie kommt nicht dazu. Ein Schwinger presst ihr die Luft aus dem Magen. Hör auf, will sie schreien. Heute nicht, bitte, bitte nicht.

Gnadenlos treibt er sie durch die Wohnung, steckt ihren Kopf in die Kloschüssel, die seiner Meinung nach nicht sauber genug ist, schlägt ihr die Schmutzwäsche um die Ohren, stößt ihr den Besenstiel in die Rippen, weil er nicht dort steht, wo er hingehört. Schlampe, Dreckstück, Hure. Du blödes Stück Scheiße, ich werd’s dir zeigen! Faul auf dem Sofa liegen, während mein Chef mich rundmacht, dieses inkompetente Arschloch, dieser Flachwichser! Soll ich dir zeigen, was ich mit ihm machen will?

Sie taumelt durch die Wohnung, ist auf der Flucht. Tränen blenden sie. Doch es gibt keinen Schutz vor diesem Monster. Es hängt ihr an den Fersen, ist hinter ihr, neben ihr, vor ihr. Überall. Sie hat keine Grenzen mehr, keine Distanz. Alles, was er sagt, ist persönlich gemeint, jeder Schlag trifft allein sie.

Irgendwann hört er auf. Sie hockt vor ihm, die Arme zum Schutz um den Kopf gepresst.

»Na«, sagt er. »Das hat sich doch mal richtig gelohnt, nicht wahr?«

Sie sieht ihn nicht an, ist das perfekte Opfer.

Langsam lässt er sich in die Hocke sinken, umfasst sanft ihr Kinn. »Schau mich an«, bittet er. »Du warst großartig. Soviel Gegenwehr. Schau nur, wie ruhig ich wieder bin.«

Als er sie küssen will, weigert sie sich. »Warum hasst du mich so?«, flüstert sie mit aufgeplatzter Lippe. »Was hab ich dir denn getan?«

Er runzelt verärgert die Stirn. »Was sind denn das für Töne?«

Ihre Tränen berühren ihn, bringen sein Blut zum Kochen.

»Anscheinend hast du noch nicht genug, was? Dann hör mal gut zu, Süße. Ich kann noch viel mehr mit dir machen, Patty-Maus. Du dummes, kleines Ding. Meinst du, es ist ratsam, mir Schuldgefühle einzureden? Meinst du das wirklich?«

Sie sieht ihn nur starr an.

»Wir haben ein Abkommen, Patty. Ich habe das Codewort gesagt, du hast zugestimmt. Also mach nicht solche Zicken.« Er fährt sich durchs Haar. Sein Körper zittert vor Wut.

Kann er nicht einmal nach Hause kommen, ohne dass es Ärger gibt? Kann sie ihm nicht diese Viertelstunde gönnen? Weiß sie nicht, wie wichtig das hier für ihn ist? Aber nein, nur haben wollen, haben, haben. Hast du mich lieb? Liebst du mich? Ganz bestimmt? Bin ich dein Ein und Alles? Nein, verflucht noch mal. Ich hätte etwas ganz anderes haben können, aber ich bin nun mal mit dir gestrandet, du beschissene Kuh, die lügt und betrügt und mich zum Hampelmann macht. Die ihre ganze Kohle in eine Puppe steckt, während ich mich den ganzen Tag abstrampeln darf! Und jetzt will sie Theater machen, weil ich genau das mache, wozu sie mich abgerichtet hat?

»Ich lass mir das nicht kaputt machen«, greint er hilflos vor Zorn. »Ich lass mir das Prügeln nicht verbieten. Nicht von dir!«

Seine Hände legen sich um ihren Hals. »Weißt du, Liebling, ich liebe dich, wirklich. Aber nicht immer. Das kann ich nicht, das kann niemand. Und dann nervst du so entsetzlich. Mit deiner Liebe, mit deiner Fürsorge.«

Er drückt zu, während er sie mit hoher Stimme nachäfft: »Wie geht es dir? Wie war dein Tag? Ist alles in Ordnung? Bist du glücklich? Kann ich irgendetwas für dich tun?«

Sein Blut beginnt wieder zu singen, als er ihre verzweifelte Gegenwehr spürt.

»Klar kannst du was tun! LASS MICH EINFACH MAL FREI ATMEN!«

Patrizia hört nicht mehr, wie es schellt. Patrizia spürt nicht mehr, wie Thomas sie achtlos auf den Boden fallen lässt, um zur Tür zu gehen. Und sie hört auch die fröhliche Stimme des Kuriers nicht mehr.

»Guten Abend, eine Eilsendung für Frau Heussler. Ich bringe den reparierten Avatar. Ist wieder wie neu. Wenn Sie bitte hier einmal den Empfang quittieren?«

Erntezeit


»Das wird eine gute Ernte.« Aly schlug die Augen auf. »Ich weiß, das wird ein richtig, richtig großes Leuchten!« Ein Lächeln bahnte sich seinen Weg, fuhr die vollen Lippen entlang und ließ sich schließlich in den Grübchen nieder.

Draußen war es bereits dunkel, doch das tat ihrer Laune keinen Abbruch. Zu spät? Sie konnte nicht zu spät kommen, denn es war ihr Acker. Er würde warten. Sie sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihren Leinenkittel und wand sich den wirren Haarschopf zu einem losen Dutt. Aussehen! Was galten schon Aussehen oder Ordnung oder Vernunft, wenn es um den ersten Blick ging? Niemand hatte es ihr bislang eintrichtern können und mittlerweile gab es auch niemanden mehr, der das überhaupt versuchte.

Bevor sie allerdings aus der Kate trat, hinaus in die Pracht, sammelte sie sich für einen Moment. Die Hand auf der Klinke, schloss sie die Augen, holte tief Luft und ließ ab von allem, was sie in der kurzen Spanne vom Aufwachen an bislang gesehen hatte, Dann trat sie auf die Veranda und öffnete langsam die Augen. Ganz still ließ sie den Blick über die Felder schweifen, die bis auf wenige Schritte direkt an ihre Kate heranwogten.

Ein stilles blaues Leuchten glomm in den Ährenspitzen. Dunkelblau, fast violett schimmerte es und das Herz ging ihr auf.

»Whiall chomain, ihr Lieben.« Als sie von der Veranda auf den Ackerboden trat, breitete sie die Hände aus und strich vorsichtig über die überreifen Ähren. »Zeigt mir den Weg.« Die Halme bogen sich beiseite, schufen ihr Gänge, ließen sie passieren. Aly lachte leise, als sie dem Pfad folgte, den das Feld ihr vorgab. Hin und wieder blieb sie stehen, um eine Pflanze zu untersuchen. Dann sah sie genauer hin, folgte dem Lichtfluss in Halm und Blättern mit den Fingern und lauschte auf das kaum hörbare Pochen im Herzen des Fruchtstands. Wo das Licht nur schwach glomm, spendete sie Mut und Zuversicht, bis der Funke wieder heller schien. An anderen Stellen waren die Ähren bereits jetzt reif zur Ernte. Dort wisperte sie etwas von Geduld und Zurückhaltung. »Eure Zeit wird kommen. Doch noch nicht jetzt, nicht jetzt. Allein werdet ihr verglühen.«

Nach ungefähr einer Stunde hatte das Feld sie wieder zur Kate zurückgeführt. Zu jeder guten Ernte gehörte ein guter, starker Tee. Sie sang vor sich hin, lauter nun, denn Stille gehörte nur aufs Feld. Kater maunzte auf dem Ofen, gerade erwacht aus Mäuseträumen. Was sollte es heute sein? Zitronenverbene? Melisse? Engelskraut? Rosmarin? »Ach, Kater, ich kann mich nicht entscheiden!« Sie ließ den Dutt Dutt sein und raufte sich herzhaft die Haare. Kater interessierte sich nicht wirklich für die Kräuter, wusste aber, dass er nicht eher etwas zu fressen bekommen würde, als die Teefrage geklärt war, also sprang er auf das Trockenregal und warf ein paar Bündel auf den Tisch. »Johanniskraut, Baldrian und Mohn?« Sie sah Kater verblüfft an. »Willst du mich einschläfern? Na egal, was soll’s, es wird schon seine Richtigkeit haben.« Sie kicherte, als die Kräuter im Wasser landeten, und hackte Katers Fleisch klein.

Die Frau auf der Liege sah glücklich aus. Entspannt, friedlich. Er fragte sich, warum sie eigentlich hier im Schlafzentrum war. Sie wirkte so gesund, so normal. Für gewöhnlich waren die Probanden älter und schnarchten in der Regel fürchterlich. Fürchterlicher waren allerdings die Momente der Stille. Schlafapnoe ist für den Zuschauer schlimmer als für den Patienten, dachte er bei sich. Aber wer so viele Atemaussetzer gehört hatte wie er, der nimmt sie nicht mehr auf der persönlichen Ebene wahr, der erschrickt nicht mehr, dem ist es egal. Aussetzer – Alarm-Knopf drücken – weiterlesen. Eigentlich waren die Menschen, die jenseits der Glasscheibe schliefen, gesichtslos für ihn. Eigentlich sah er nicht mehr hin. Denn eigentlich gab es nichts Spannenderes als die Bücher, die er in den langen Nächten verschlang, bis die Buchstaben zu tanzen begannen und ihm die Augen schwer wurden.

Heute allerdings lag da eine Frau, die im Schlaf lächelte. Und die dabei nicht im mindestens schnarchte. Und zudem blau leuchtete.

Er rieb sich die Augen. Blau-Leuchten, pah. Irgendetwas musste mit den Leuchtmitteln nicht stimmen, ein Nachglühen der Halogenlampen vielleicht? Er sah genauer hin. Nein, das Leuchten ging vom Bett, von ihr aus, nicht von der Decke. Wenn es real wäre, dachte er, müsste man es auch auf den Monitoren sehen. Wenn es real ist, dann bin ich nicht verrückt. Er kontrollierte die optische Überwachung. Dort war nichts zu sehen, kein Schimmern, kein Leuchten, kein Glühen. »Du spinnst«, stellte er entschieden fest. »Da ist nichts.« Für einen Moment lauschte er seinen eigenen Worten, die in der Luft vibrierten. Dann waren sie fort und er widmete sich wieder seinem Buch.

 

Als der Wecker den nächsten turnusmäßigen Gerätecheck – alle zwei Stunden EEG, EKG, Monitore, Optik – anpiepste, stellte er fest, dass er nichts von dem wahrgenommen hatte, was er in der Zwischenzeit gelesen hatte. Hatte er überhaupt gelesen? Oder hatte er nur abgewartet, um das Leuchten wieder zu sehen?

Er sah durch die Glasscheibe zu der Frau hinüber. Kein Leuchten. Alles in Ordnung.

Oder nicht? Sie lächelte noch immer, schöner als zuvor.

Aly summte vor sich hin. Der Tee zog im Kessel, Kater schmatzte über seiner Schüssel. Die Nacht war endgültig über den Horizont gekrochen und hatte die Sterne mitgebracht. Bald war es soweit. Nach der Ernte sollte es ein kräftiges Wurzelgemüse geben. Sie atmete tief den Duft von Knoblauch und Koriander ein. Zimt Sternanis, Kardamom und Nelken gesellten sich aus dem warmen Ofen dazu, in dem Lebkuchen buk.

Es war Weihnachtszeit. Advent. Advent wird abgeleitet von Adveniat, sagte sie sich, das heißt er kommt. Aly wusste nicht genau, wer dieses Jahr kommen würde, aber dass jemand käme, dessen war sie sich sicher. Und sie freute sich auf den Besuch. Dieses Jahr mehr denn je – warum, wusste sie nicht. Da war nur dieses Ziehen in der Brust, dieses Sehnen. Dieses Jahr würde er es sein. Nicht irgendjemand, sondern er, dachte sie mit einem Mal, viel drängender als sie es beabsichtigte. Erschrocken über die Heftigkeit dieses Gedankens schob sie ihn sofort in den hintersten Herzwinkel. Angst vor Enttäuschung?, spottete eine Stimme daraufhin in ihrem Kopf. Für einen kurzen Moment runzelte sie die Brauen. Sie kannte diese Stimme – und Himmel, sie hatte sie dermaßen satt! Früher einmal hatte diese Stimme sie ständig begleitet. Irgendwann allerdings hatte Aly angefangen sie zu überhören und irgendwann hatte sie tagelang nicht mehr an sie gedacht. Irgendwann einmal würde –

Mit einem Zischen kochte das Wasser über. Aly musste lachen. Manchmal gab es keine schönere Melodie als die Küchengeräusche. Alles lebt. Alles geht voran. »Nicht träumen, Aly!«, rügte sie sich scherzhaft, hängte den Topf mit den Kartoffeln höher und wurschtelte sich durchs Küchenallerlei.

Schließlich sah sie sich in dem Raum um, Es war ein einladender Ort, warm und duftend, gemütlich möbliert, ein Ort, an dem man sich zu Hause fühlte. Sie lächelte. Alles war bereit. Nun wollte sie die Ernte freisetzen und dann warten, dass der Himmel ihr ein wenig von dem zurückgeben würde, was sie in seinem Namen gab. Sie erwartete nichts. Aber sie wusste, dass sie beschenkt werden würde, ob sie es wollte oder nicht. Warum also nicht vorbereitet sein – auf alles und nichts?

Fröhlich lief sie zur Tür. Öffnete. Einen Moment später stolperte ihr Herz.

Das EKG spielte verrückt. Alarm, Alarm. Er musste handeln. Das war kein Atemaussetzer, das war ein Kammerflimmern – war es ein Kammerflimmern? Bitte nicht! – und er ganz allein hier. Verdammt, irgendwann musste es mal schief gehen. Die Anzeige des Geräts flackerte und blinkte, die Werte machten, was sie wollten. Er spurtete aus dem Raum, hinüber zu ihrem Bett, den automatischen Erste-Hilfe-Defibrillator in der Hand. Auspacken, Patches anschließen, Nachthemd hochschieben, Patches laut Anweisung anbringen und sich nicht, NICHT! aus der Ruhe bringen lassen.

Sie starrte fassungslos auf das Feld. Die Ähren, die sich noch am Morgen sattsam grün und reif und angefüllt mit verheißungsvollem Leuchten auf starken Halmen gewiegt hatten, waren geknickt, verdorrt. Das Feld lag brach, so als ob ein heißer Wüstenwind darüber hinweggefegt wäre. An manchen Stellen stand es in Feuer, an anderen wiederum versanken die Lichtträger in dunkelbraun brackigem Schlamm. Ein Lachen schwang im Brausen des Feuers und des Windes mit, ein Lachen strich über den Horizont und nahm auch die letzten aufrechten Halme unter seine Faust. Doch dieses Lachen hatte nichts gemein mit Alys Lachen. Oder deinem oder meinem. Dieses Lachen war Hohn und Spott und getränkt mit Schwärze. Es kam auf Krähenflügeln daher und ließ sich in Scharen auf der verwüsteten Krume nieder, derweil Aly das Herz in der Brust zersprang. Als nur mehr Scherben übrig waren, wurde sie von einem gleißenden Licht gepackt und geschüttelt. Als der Blitz sich verzogen hatte, fand sie sich auf der Veranda wieder, die Augen starr auf die Katastrophe gerichtet, doch ohne Schmerz nun. Da war nichts, das sie angriff, nichts, das sie schmerzte. Da war nur mehr eine aus Hilflosigkeit geborene Leere, die ihr die Glieder lähmte.

Die Maschinen schwiegen wieder. Der Defibrillator hatte sein Werk getan. Alles okay. Er atmete tief durch. Die Frau lächelte nicht mehr. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, ihr Körper schlaff. Vorsichtig legte er die Hand an ihr Gesicht. Ihre Haut fühlte sich kalt an, ein leichter Schweißfilm hatte sich gebildet. Normalerweise – bei jedem anderen Patienten – wäre er jetzt wieder in sein Kabuff gegangen, hätte auf den Notdienst gewartet, der eigentlich schon längst hätte hier sein sollen. Hätte das Buch aufgeschlagen und weitergelesen. Doch diesmal – jetzt, wo sie aus der größten Gefahr wieder sicher heraus war – war es ihm recht, dass die Nachtschicht trödelte. Diesmal wollte er sich nicht in die Welt in seinem Kopf flüchten. Diesmal saß er einer Wirklichkeit gegenüber, die ihn mehr faszinierte, als er sich selbst zugestehen wollte. Er hatte die Rechte noch immer an ihr Gesicht gelegt – er spürte dabei den Pulsschlag an ihrer Schläfe – als er mit der anderen Hand die ihre umfasste und an seine Brust hob. Der Kreis war geschlossen.

Aly lag auf den groben Dielen der Veranda, hilflos. Der Geist war gelähmt, die Empfindung gedrosselt, sodass das einzige, das sie zurzeit wahrnehmen konnte, der eigene Atem war. Sie spürte ihn, wie er über ihre Lippen strich, sie hörte ihn, sie spürt das Heben und Senkens des Brustkorbes. Sie hatte die Augen noch immer geöffnet, doch fiel es ihr schwer, die Bilder die sie sah, zu deuten. Da war nichts, wo Ähren hätten stehen sollen. Da war eine chaotische ungeordnete Dunkelheit, zerfetzt von einzelnen Funken oder bekränzt von orangenem Feuerschein.

»Nicht richtig!«, murmelte sie. »Das ist alles nicht richtig!«

Langsam schob sie sich an die Kante der Veranda, zögernd griff sie nach einem geknickten Halm. Sie hielt ihn sich dicht vors Gesicht, schützend zwischen beiden Handflächen verborgen.

»Zeig mir, wie es sein soll«, flüsterte sie. »Ich weiß, du lebst noch. Irgendwo. Irgendwie.« Und sie hauchte auf den Halm, wiegte ihn leicht, dachte an all die Liebe, die sie für ihn fühlte. Ganz allmählich kehrte die Bläue zurück. Aber sie war schwach und flackerte unstet. Schließlich erlosch sie ganz. Aly erschlaffte.

Das Gefühl kehrte in ihren Körper zurück, in ihr Herz. Alles schmerzte. Sie krümmte sich zusammen, die Arme eng um den Leib geschlungen, so als ob sie alles festhalten müsste, was sie ausmachte, was zu ihr gehörte, als ob sie in Stücke zerbersten würde, wenn sie es nicht täte.

Er spürte die Veränderung in ihrem Geist. Er spürte, wie das Leben in sie zurückkehrte, und er spürte, dass ihr das nicht guttat. Er sah ihr Winden, ihre schmerzverzerrte Miene. Nichts konnte sie zurückhalten. Ihr Gesicht war eine Leinwand, doch der Film, der sich hinter ihren Lidern abspielen musste, wollte er nicht sehen. Zuviel Schmerz.

Doch anstatt sie loszulassen, aufzustehen, das Zimmer zu verlassen, legte er ihre Hand, die bis eben an seiner Brust geruht hatte, höher, an seine Schläfe. Warum er das tat? Das wusste er nicht und jetzt war nicht die Zeit für Fragen. Er schloss die Augen. Nur um sich einen Moment später auf einem verwüsteten Feld wieder zu finden.