HUMANOID 2.0

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HUMANOID 2.0
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Gabriele Behrend

HUMANOID 2.0
SF-Geschichten

AndroSF 144

Gabriele Behrend

HUMANOID 2.0

SF-Geschichten

AndroSF 144

Fehlerbereinigte, neu gesetzte und um fünf Geschichten erweiterte Neuausgabe des im Februar 2013 erschienenen Titels »HUMANOID. SF-Geschichten«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: April 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild & Illustrationen: Gabriele Behrend

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 240 9

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 857 9

Infusion


Ich komme aus der Wüste. Das schrillende Knirschen des Sandes dringt direkt in mein Hirn. Die Hülle ist brüchig und porös. Schmerz, da ist Schmerz – zu grell, zu stark. Die Stacheln richten sich gegen mich selbst. Das ist nicht zu ertragen. Ich spüre den Riss, der sich mit jedem Augenblick fortpflanzt. Die Ahnung des Untergangs manifestierte sich vor Moronen schon. Bis jetzt konnte ich es ignorieren. Wie kann man mit Gewalt etwas zusammenfügen, das auseinanderbricht? Ich kann es nicht mehr. Ich bin geflohen. Ich bin gerannt. Dünen warfen mich zurück, immer wieder, rieben mich wund und hohl. Nun ist nichts mehr da, das die Leere füllt. In den Überbleibseln meiner Silikatkonglomerate tobt ein Sturm. Dunkelrot pulsierend, rau, schuppig. Zermürbend wie die Sonne, die einst Schutz war. Lebensspenderin – trocknet sie mich nun bei lebendigem Leib aus. In den früheren Episoden unbestimmter Sinneszustände sah ich Bilder vor mir. Lichtgraue Visionen kaltklafternder Steinwüsten. Ihr Tau benetzte meine Stacheln, richtete sie auf. Damit konnte ich leben – überleben. Aber diese tröstliche Melancholie ist mir seit dem Tag verwehrt, da ein hohles Knacken an mein Ohr drang. Es war unspektakulär. Ich nahm es am Rande wahr. Ich dachte mir nichts dabei. Ich war mir nicht einmal bewusst, dass ich es war, die da brach. Die Sonne rief mich in die Aktivzeit zurück. Ich fuhr die Stacheln aus und machte mich gehorsam in den Kampf auf, der mir von jeher bestimmt war. Doch dann drang der schmirgelnde Sand in mein Inneres. Ein unbestimmtes Ziehen und Reißen begleitete mich seit diesem Mor. Noch kein wirklicher Schmerz, mehr eine Ahnung, die von den Instinkten überlagert wurde. Aber Reflexe können nicht auf Dauer schützen.

Ich komme aus dem Wasser. Die Wellen sind ölig, ich bin ölig geworden. Schimmernde Schlieren, die sich schwer auf die Leichtigkeit legen, die mich sonst ausgemacht hat. Wo sind die anderen? Früher suchte ich sie nicht, denn sie waren immer da. Doch nun verschlammt die Einsamkeit mein Wesen. Trübe sind die Wasser geworden, die mir Heimat sind. Und ich möchte fliehen. Ich möchte über die Steine springen, fort von diesem Ort. Doch der Boden kommt mir zu nah. Er hat vor Kaskaden begonnen, nach mir zu greifen. Unmerklich, nachlässig. Ich begriff es nicht gleich. Dachte, es wäre Zufall, der mich vor die Barriere aus Steinen trieb. Dachte, ich könnte mich befreien, wenn ich trotzig meinen eigenen Weg wählen würde. Doch nach ungezählten Kämpfen und Befreiungsschlägen komme ich kaum vorwärts, denn der Untergrund hat mich fest in seiner tumben Umklammerung. Er ist nicht offen für Worte, er ist geistlos. Er versteht mein Flehen und mein Bitten nicht. Jetzt bleibt mir nicht mehr viel. Jetzt bleibt mir nur noch, zu sterben. Also richte ich mich in diesem Tümpel ein, der noch geblieben ist und träume von flüssigklarer Transparenz vergangener Zeiten. Welch Hohn …

Die Aktivzeit ist vorüber. Dunkelheit kommt auf. Sie schiebt sich träge über die fernen Dünenkämme, die mir noch im letzten rotgoldenen Aufblitzen den Hohn des nächsten Tages zuzwinkern. Sie haben Zeit. Sie hatten schon immer Zeit. Sie wissen nichts vom Kampf. Ich halte einen Moment inne. Meine Träume führen mich zurück in die feuchtkalten Geröllwüsten. Das Bild ist fester in mir verankert, als ich es zu hoffen wagte. Vorsichtig schiebe ich die Stacheln aus. Zaghaft löse ich mich vom Schmerz. Lasse alles fahren. Wind kommt auf, der mich über den Sand treibt. Ich holpere den Abhang hinunter. Diesmal meint es der Zufall gut mit mir, denn gegen diese Düne werde ich morgen nicht anrennen müssen. Ich weiß schon längst nicht mehr, wohin ich will. Ich weiß noch nicht einmal mehr, woher ich komme. Aber die Bewegung illusioniert ein Vorwärtskommen. Ein Akt des eigenmächtigen Handelns, der mich an die vergangene Stärke erinnert. Damals …

… Damals waren die Kaskaden getränkt von Sonnenstrahlen, die tief in mich eindrangen. Sie griffen nach mir und ich gab mich ihnen willig hin. Türkis, grün, azur – ich trug viele Farben in mir. Ich teilte sie mit den silbrig schimmernden Blitzen schuppigen Bewusstseins. Es gab keine Grenzen, nur Strudel, die sich an Felsen bildeten. Leben bedeutete Freiheit, Leben bedeutete Spiel. Es gab nur die Kaskade des Augenblicks. Es gab kein Halten. Jetzt gibt es nur ein bewusstloses Steinbraun in den Resten meines damaligen Seins. Früher verachtete ich die Steine. Früher verachtete ich alles, das unbeweglich verharrte. Ich trieb mein lachendes flirrendes Spiel mit ihnen. Jetzt wünschte ich, ich wäre mehr wie sie. Ich wünschte mir, ich hätte eine Form. Ich wünschte mir, ich hätte Kraft. Ich wünschte, ich wünschte … Ich will nicht wissend vergehen. Daher blende ich alles aus, was noch an mich herandringt. Gut, dass wir ein Gedächtnis haben. Geschichtenerzähler, das waren wir. Narren, das sind wir. Ich möchte träumen von den Wirbeln, in denen wir uns austauschten. Ich möchte träumen von den Dunkelheiten, in denen wir im Funkeln der Lichter über uns miteinander verschmolzen. Ich möchte träumen von den Momenten, da wir mit unseren Geschichten die Tropfen impften, die wir in die samtweiche, seidenkühle Freiheit entließen.

Ein Stein stellt sich mir in den Weg. Der Schmerz flammt auf, als einer meiner Stacheln mit einem Knirschen an ihm zermalmt. Meine Agonie schreit zum Himmel. Er antwortet nicht. Aber noch will ich nicht aufgeben. Das bin ich mir schuldig. Das bin ich uns allen schuldig. Wer weiß, wie viele es noch von uns gibt. Inmitten meines lodernden Restwillens sehe ich sie vor mir. Wir waren uns nie wirklich nahe, Kämpfer, die wir sind. Aber wir wussten voneinander. Hin und wieder traf man sich und hinterließ Spuren. Spuren, die nach nur wenigen Moronen, den eigenen Instinkten folgten. Wenn es so weitergeht, werde ich nichts hinterlassen. Aber bis dahin werde ich schreien!

Ein heißer Wind streicht über mich hinweg. Und er singt von Qual. Ich spüre ein Brennen dort, wo er mich berührt. Der Schlamm in mir beginnt zu glühen. Rot leuchtet es in mir auf. Wer zerrt mich aus meinen Träumen, wer wagt es? Nehmt mir nicht alles, nicht alles, was mir noch bleibt! Ich bin noch nicht bereit, ich habe noch zu viele Geschichten in mir!

Der Wind treibt mich weiter. In meinem Kopf sind Spiegelscherben, taumelnd stürze ich ins Verderben. Hinunter, hinunter. Der Wind hat mich von meinem stummstarren Peiniger weggezerrt. Er kennt keine Gnade – so wie ich sie nie gekannt habe, wenn meine Opfer in den Stachelkreis gerieten. Ein Flackern in der Tiefe. Wahr oder nicht? Keine Ahnung, da ist nichts mehr, das ich noch bewusst steuern kann. Rot, rot – das sich verbindet mit grünlichem Sprühen. Eine Ahnung von Kühle erreicht mich. Wenn es jetzt soweit sein soll – dann lass mich dort sterben. Von der Erinnerung an die Kälte umarmt. Ich kann nicht mehr kämpfen. Ich will nicht mehr kämpfen. Ich strecke meine Waffen. So ist also das Ende …

Der Wind treibt in heißen Schwaden ein körniges, raues Sterben heran. Ich spüre es. Ich empfange es. Es gleicht zu sehr meinem eigenen Sterben. Das letzte Aufbäumen hat mich fast alles gekostet, das ich noch besaß. Es bleibt keine Kraft mehr zum friedlichen, unbewussten Hinübergleiten. Ob es den anderen, die vor mir gegangen sind, ähnlich ergangen ist? Doch was würde mir eine Antwort jetzt noch bedeuten? Könnte sie mir Trost spenden? Nein, denn dies ist mein Erleben. Niemand der mir nahe steht, könnte jetzt noch etwas ändern. Aber bitte, bitte, lasst mich nicht allein … spürt ihr nicht, dass ich bereit bin zu empfangen?

Alles ist stumm. Alles ist Schweigen. Bin ich tot? Ich spüre Feuchtigkeit unter mir. Ich spüre ein schlammiges Nest unter meiner Hülle. Die lauwarme Nässe dringt durch den Riss meiner Hülle in mich ein. Es ist nicht der kristallene Tau meiner inneren Steinwelt. Es ist ein dunkles, glattes Laken, das sich an meine geschundenen Stacheln schmiegt. Ich bin zu schwach, um mich dagegen zu wehren …

Ich umarme dich, Fremder. Ich kenne dich nicht. Aber du bist hier. Wer weiß, wer dich geschickt hat, wer weiß, wozu es gut sein soll. Nimm mich auf, beschütze mich, denn ich bin zu schwach, um in diesem Moment allein zu sein.

Was bist du? Ich kenne dich nicht. Willst du mein Leben? Das gebe ich dir, denn ich bin zu schwach, um es noch länger zu beschützen.

Ich will nicht dein Leben. Ich will deine Nähe. Nur für einen Moment.

 

Warum?

Damit ich geben kann, was ich zu geben habe …

Ich bin kein Freund.

Ich bin kein Feind.

Die Sonne küsst die Dunkelheit zum Abschied. Sie schiebt sich über die Kämme der Dünen, die sich friedfertig zum Horizont hin öffnen. Ich lebe noch. Vorsichtig fahre ich die Stacheln heraus. Der Schmerz ist verschwunden. Der Riss ist geheilt. Der Sand in mir ist gebunden, eingehüllt. Und alles, was bleibt, ist ein Lachen in mir, das mir fremd ist. Und gleichzeitig so vertraut, als ob es schon immer in mir gewesen wäre. Ich weiß, dass der Tod um mich war. Ich weiß, dass der Tod in mir ist. Doch es ist nicht der meine. Die Nacht hat ihre Spuren hinterlassen. Ich frage mich, wann sie in mir wirken werden.

Feierabend


Ich streckte mich ausgiebig, lehnte mich entspannt in meinem Sessel zurück, und sah zufrieden aus der dreizehnten Etage des Stahlturms, den ich nun schon seit acht Jahren pünktlich morgens um neun Uhr betrat, um ihn ebenso pünktlich um siebzehn Uhr fünfzehn wieder zu verlassen. Ich liebte dieses Gebäude. Es war mit seinen klar definierten Linien ein Muster, das sich tief in meinem Leben verankert hatte. Die Größe, die Klarheit, die Stahlstreben, an denen sich das Sonnenlicht fing, um in die Fensterfronten einzufallen – das war eine Umgebung, in der ich mich wiedererkannte. Inzwischen hatten sich meine Wege unsichtbar und unabänderlich in die Marmorplatten der Eingangshalle eingegraben. Die Fahrstühle brachten mich freiwillig zu den Ebenen, auf denen ich mich mit festem Schritt bewegte. Die Rezeption grüßte mich mit dem gewissen Hauch Vertraulichkeit, den man nach soviel Jahren der Beständigkeit erwarten durfte. Die Damen waren stets auf eine humorvolle Art freundlich. Dabei blieben sie jedoch herrlich distanziert, sodass ich mich immer erkannt, aber niemals belästigt fühlte. Die Dame vom Buffet las meine Wünsche vom Wochentag ab, und so war es nicht verwunderlich, dass ich mich in diesem Glaspalast wohlfühlte.

Es hatte nur einmal Unannehmlichkeiten gegeben. Das war vor fünf Jahren, als die gesamte Abteilung vom achten in den dreizehnten Stock umgezogen war. Ich hatte volle vier Tage gebraucht, um mich zu akklimatisieren. Noch Jahre später erinnerte ich mich nur ungern an die verschiedenen Male, in denen ich der Gewohnheit folgend im achten Stock ausgestiegen war. Es war enervierend gewesen – nicht jeder Mitarbeiter des Hauses verfügte über die Souveränität, die einen respektvollen Umgang miteinander gewährleistet.

Nichtsdestotrotz, ich hatte Feierabend und was vergangen war, war vorbei. Schnee von gestern. Im Übrigen war es ein wunderschöner Spätnachmittag, und alles in mir drängte hinaus. Das verwunderte mich inzwischen nurmehr geringfügig, denn dieser nicht näher bezeichnete Trieb hatte schon seit ein paar Tagen in mir gewühlt. Bislang hatte ich ihn geflissentlich ignoriert, denn Triebe waren nur bei Tieren, die es nicht besser wussten, akzeptabel. Ich war kein Tier. Ich war ein denkendes Individuum, gesegnet mit den Gaben der Logik und der Planung. Da dieser ungefragte Drang in mir jedoch recht angenehm – wenn auch ungewohnt – war, beschloss ich in einem Anflug von Leichtfertigkeit, ihm an diesem Tag nachzugeben.

Wir wissen ja seit geraumer Zeit, dass nur die Balance zwischen Ratio und Anima Produktivität gewährleistet. In kleinen Dosen ist die Unvernunft also der geistigen Gesundheit durchaus zuträglich. Diese Binsenweisheit und der Umstand, dass zwei freie Tage vor mir lagen, ließen mich vielleicht etwas überreagieren. Also zog ich in gespannter Vorfreude mein Sakko an, knöpfte es ordentlich zu – so wie jeden Tag –, ergriff meine Aktentasche und verließ das Büro. Auf dem Weg zum Fahrstuhl sah ich noch einmal bei Frau Statzer vorbei, um ihr ein ruhiges Wochenende zu wünschen und um einen letzten Blick auf sie zu werfen.

Ich stellte an ihrem Verhalten fest, dass mein befremdliches Ansinnen nicht den Weg in meine Gestik oder Mimik gefunden hatte. Sie sah in mir immer noch denselben soliden Kerl, der ihr am Morgen höflich die Tür geöffnet hatte. Sie hatte keine Ahnung, was ich vorhatte. Das trieb meine Erregung auf ein höheres Niveau, und ich fantasierte mich in die Rolle eines Geheimagenten, der per se ein Meister der Täuschung war. Draußen, auf dem menschenleeren Flur, gestattete ich mir ein verhaltenes Grinsen. Selbst die Hand in der Hosentasche ballte sich kurz zu einer Siegesfaust, aber diese Regung unterband ich, so schnell ich konnte. Aggressive Gesten gehörten einfach nicht zu meinem Repertoire.

Als ich aus dem Gebäude trat, lockerte ich als Erstes meine Krawatte. Das war mir eigentlich zuwider, doch heute genoss ich diesen Anflug rebellischer Freiheit. Sodann knöpfte ich das Sakko auf und labte mich an einem Luftzug, der sich verspielt in das Futter verirrte. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wohin ich mich wenden sollte. Ich kannte mich mit den verwegenen Flecken dieser Stadt nicht gut aus. Aber dann erinnerte ich mich an die prahlerischen Geschichten meiner Kollegen, die sie auf dem Flur wie Trophäen herumreichten. Dabei war die Adergasse immer wieder genannt worden: Sie schien das neue Babel zu sein. So war es nur logisch, dass ich sie zum Ausgangspunkt meiner Mission erkor. Meine Nerven spielten ein schnelles, grelles Tremolo. Ich war bereit.

Bereits nach einer Stunde begann mein Enthusiasmus, bedenklich zu bröckeln. Ich sehnte mich nach der kühlen Luft meines Büros zurück. Der Lärm brandete an mein Trommelfell, das an nur wenig mehr denn das Summen des Ventilators oder das Flüstern meiner Hi-Fi-Anlage gewöhnt war. Selbst in meinem Elfenbeinturm hatte ich manchmal ein Problem mit den Menschen um mich herum, doch normalerweise war die Schar dort übersichtlich, und ich hatte meine Wege mit Bedacht eingerichtet, um ihnen nicht in Rudeln zu begegnen. Zudem hasste ich es, in der Menge unterzugehen – und genau das geschah, als ich mich zwang, so gelöst durch die Innenstadt zu schlendern, wie es alle anderen scheinbar waren. Ich hatte den Verdacht, dass die namenlose Menge daran mehr Spaß hatte als ich. Kurz überlegte ich, ob ich umkehren sollte. Noch waren die Häuser und Gassen halbwegs bekannt. Aber dann dachte ich an diesen namenlosen Trieb, dem ich Raum geben wollte. Ich dachte an die Entscheidung, die ich gefällt hatte. Damit war die Frage beantwortet: Ich würde weitergehen.

Nach einer weiteren Dreiviertelstunde und der Konsultation zweier Informationstafeln drang ich in das berüchtigte Viertel vor. Bei dem Anblick der ungepflegten Gegend schrillte mein spezieller Nerv grell auf. Hier begann das Abenteuer, welches ich freudig erwartete. Der Schweiß schien vergessen. Die Sohlen der italienischen Maßschuhe aus dem Versand schienen wieder fester zu werden. Die Schmerzen pflastermüder Füße schwanden. Ich spürte, wie das Adrenalin durch meine Adern pulsierte. Das war das Leben, ja – und ich war mittendrin!

Aber je länger ich der Stichstraße folgte, die mich in das Herz meines Babylons bringen sollte, desto mehr widerte mich an, was ich sah. Schmutz quoll aus Mülltonnen, dreckiger Putz bröckelte entgegen jeder Bauvorschrift auf den Gehweg, und die Schatten häuften sich. Sie lebten, dessen war ich mir schon bald sicher. Ich wollte nicht genau hinsehen, aber dort wo ich die Augen verschloss, roch ich die Realität. Dort, wo ich den Atem anhielt, um den Pesthauch erfolgreich zu ignorieren, hörte ich unflätige Worte ungewaschener Frauen, die ihre Körper obszön an Straßenlaternen rieben. Ich wollte flüchten. Ich wollte zurück in die geheiligte Einsamkeit meiner Welt, in der alles entlang unsichtbarer Linien ausgerichtet war. Ich beschloss, umzuplanen. Als rationelles Wesen war ich schließlich flexibel genug, die Situation meinen geänderten Bedürfnissen anzupassen, und das bedeutete für mich: heim, nur heim.

Doch ich musste feststellen, dass ich mich verirrt hatte. Die Straßen – verwinkelt, verdunkelt, verschlagen – taten sich verschwörerisch zusammen. Häuser flossen zu festen Wällen zusammen, die mir den Weg und die Luft zum Atmen nahmen. Die Hitze verstärkte sich. Der Schweiß tropfte von meiner Stirn. Er sammelte sich im Hemdkragen, um von dort aus den Rücken hinunterzufließen. Ich spürte, wie sich der Filz der Gegend auf mein Gemüt legte. Er griff mit Spinnwebfingern nach mir, und alles, was mir blieb, war der nächste Schritt: weitergehen, weitergehen. Sonst würde ich in ihm versinken. Es gab kein Entrinnen.

Ich konzentrierte mich auf zwei Dinge. Das eine war die Suche nach einer Bushaltestelle, von der aus ich hinausgelangen würde – das andere war die Sprecherin der Hauptnachrichten. Auf sie griff ich immer zurück, wenn Unordnung, Schmutz oder Chaos mich zu übermannen drohte. Ich dachte an die Symmetrie ihres Haarschnitts, den ungeduldigen, unnachgiebigen Schwung ihrer Lippen, die glasklare Intensität ihrer Augen, und schon hatte ich ihre strenge, eiskalte Stimme im Ohr. Es war egal, welche Meldungen sie verlas. Das war schon immer egal gewesen. In meiner Fantasie waren es stets andere Worte, die sie zu mir sprach, nur zu mir.

Für einen Moment ging es mir durch diese Gedanken besser. Dann prallte ich erneut gegen die Mauer aus Schmutz und Verwahrlosung. Dabei bemerkte ich, dass die Gassen in diesem Bezirk menschenleer waren. Der Lärm war zurückgetreten, als ob selbst er sich nicht an diesem gottverlassenen Flecken aufhalten wollte. Ich fühlte mich wie ein kleiner Junge, den seine Eltern im Kaufhaus aus den Augen verloren hatten. Es war beklemmend. Und peinlich. Nebenbei bemerkt hielt ich nichts von den Kaufhäusern mit ihrem Überangebot, das nur darauf ausgelegt war, den Geist in kleine Stücke zu zerschlagen. Das war keine Jagd mehr. Da wurden die Trophäen zu Seelenfressern.

Aber das war mir in jenem Moment herzlich egal, denn plötzlich verspürte ich zu allem Überfluss, den heftigen Drang zu urinieren. Meine erste Reaktion war Scham. Auch wenn alles um mich herum so roch, als sei ich der einzige Mensch, der mit der Absenz einer öffentlichen Bedürfnisanstalt ein Problem hatte, wollte ich dieser Regung nicht nachgeben. So tief sinkt kein Schwein, dass es seinen Stall beschmutzt. Das hatte ich irgendwo einmal gelesen. Die Geschichte vom sauberen Schwein. Sie hatte mich beeindruckt.

Ich hatte also keine Wahl. Ich musste eines der Lokale aufsuchen. Es war ein Hohn – die Aussicht, genau das zu erleben, hatte mich noch vor ein paar Stunden elektrisiert. Jetzt widerte es mich an. Aber ein Zwang ist ein Zwang und dem muss man sich beizeiten beugen. Also klemmte ich meinen Schritt ein und ging die Straße weiter hinunter, während ich mich gleichermaßen verfluchte und bedauerte.

Es war schwer, hier eine Lokalität zu finden, die noch betrieben wurde. Ich passierte mehrere Spelunken, die, wollte man dem Gilb der Anzeigen glauben, seit Jahren zur Vermietung ausgeschrieben waren, bis ich schließlich vor einem Lokal mit blinden Fenstern stehen blieb. Meine ausgedörrte Kehle japste nach Wasser, meine Blase schrie ihren Protest in mein Hirn, und ich selbst halluzinierte von einem bescheidenen Kartentelefon, von dem aus ich ein Taxi rufen könnte. Busse schienen hier nicht zu verkehren.

Als ich hineinging, lavierte ich am Rand des klaren Denkens. Mir war nur eben so viel bewusst, dass ich einen schlampigen Anblick bieten musste, und ich nicht darauf erpicht war, dass man mich so sah. Aber diese Gedanken kapitulierten angesichts meiner Nöte, als ich in das Halbdunkel der Kneipe eintauchte. Ich murmelte einen höflichen Gruß Richtung Tresen und schob vorsichtshalber eine Bestellung hinterher. Das war die Daseinsberechtigung in diesen Räumen – ein Glas Wasser sollte mir als Eintritt dienen. Umsonst war nur der Schlaf. Irgendwie torkelte ich in das versiffte Klo. Irgendwie schaffte ich es, den Reißverschluss zu öffnen. Mit einer Hand stützte ich mich an der Wand ab, die andere lenkte den Strahl dorthin, wo er gut aufgehoben war. Erleichterung durchflutete meinen Körper, als ich mich in das vor Dreck starrende Pissoir ergoss. Sie sprang kalt an meiner Wirbelsäule hoch und ließ mich zittern, bevor sie, in ein seltsames Glücksgefühl transformiert, mir ein tumbes Grinsen in die Züge meißelte. Es war alles gut.

In meiner sanften Euphorie veränderte sich meine Wahrnehmung. Ich wurde friedlich, richtiggehend salbungsvoll. Meine Gelassenheit kehrte mit jedem Atemzug zurück. Die Umgebung war nicht länger beklemmend. Ich schaffte es, über den Dreck hinweg zu sehen. Ich vollbrachte das Kunststück, den Geruch weitestgehend zu ignorieren. Ich atmete tief in der Gewissheit durch, die einzige rustikal-malerische Oase gefunden zu haben, die den Schlüssel zu meiner Misere und obendrein etwas Seelenfrieden als Gratisbeigabe bereithielt. Als ich die Tür in der Absicht öffnete, geläutert in die menschliche Gemeinschaft zurückzukehren, begleitete der von innen steckende Toiletten-Schlüssel mein Ansinnen mit einem fröhlichen Scheppern.

 

In gehobener Stimmung betrat ich den Gastraum und schlenderte lässig zum Tresen hinüber. Das Etablissement war spärlich besucht. Kaum jemand schien meine Anwesenheit zu registrieren. Das Wasser wartete bereits auf mich. Der Wirt hatte den Eichstrich ignoriert – vielleicht hatte er ihn der schmierigen Abdrücke wegen nicht erkennen können. Doch statt auf meinem Recht zu bestehen, empfand ich diesen Versuch der Bilanzschönung in seiner Unschuld direkt erheiternd. Und so nahm ich demonstrativ einen großen Schluck, in dem Wissen, dass ich wohl der einzige liquide Mensch in diesem Raum war – eine Rarität sozusagen. Ich nickte dem Wirt gönnerhaft zu und rückte mich auf dem Barhocker in eine bequeme Position. Gerade als ich – wieder die verlockende Stimme der Sprecherin im Ohr – den Wirt nach einem Telefon fragen wollte, bewegte sich ein Schatten neben mir.

»Hast du eine Kippe über?« Ein Mädchen hatte sich an mich herangeschoben. Ein unschuldiges Gesicht, ein bittender Blick aus schwarzen Augen unter mausbraunen Ponysträhnen schwebte über einer knabenhaften Figur. Natürlich gab ich ihr eine. Ich selbst rauchte zwar nicht, führte als Gentleman aber stets eine Schachtel Zigaretten mit mir. Man konnte ja nie wissen.

»Feuer auch?« Ich nickte und nestelte Streichhölzer aus der Innentasche. Natürlich hätte ich sie auch sofort anbieten können, aber ich wollte noch einmal die Bitte in ihren Augen aufflackern sehen, wollte noch einmal die unterwürfige Stimme hören.

Mit ungewohnter Grandezza riss ich das Streichholz an und gab ihr Feuer. Dabei enthüllte der Flammenschein das ganze Ausmaß ihrer Jugend. Das Streichholz verglühte. Sie zog sich zurück und inhalierte das Nikotin mit geschlossenen Augen. Mir fielen die bläulichen Adern auf, die unter ihrer Haut schimmerten. Das Verlangen sprang mich an, ihnen mit den Fingerspitzen zu folgen. Die ganze Person war so klein, so zerbrechlich. Irgendjemand sollte seine Hände um sie legen, damit das Vögelchen nicht wegflatterte. Besser ein Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an den Tresen, stützte sich auf die mageren Ellenbogen und rauchte konzentriert weiter. Der Rauch stieg in trägen blauen Schwaden auf. Er hüllte sie ein, spann Bögen, verwirbelte, um sich dann im Halbdunkel zu verlieren. Ich schluckte trocken. Es war eher ein Würgen. Schnell nahm ich einen weiteren Schluck der urplötzlich schal schmeckenden Plörre und haderte mit mir. Eben hatte ich noch befreit den Heimweg antreten wollen. Jetzt brauchte ich nur zugreifen. Spatz – Taube, Taube – Spatz? Der Schlüssel der Herrentoilette blitzte verlockend in meinem Gedächtnis auf. Sehr verlockend. Es würde mich die Schachtel Zigaretten kosten, vielleicht noch ein Bier …

Irgendjemand musste ihr zeigen, wie diese Welt war. Irgendjemand musste ihr Bescheid stoßen. Kleine Mädchen hatten in dieser Gegend nichts zu suchen. Meine Gedanken liefen im Kreis und bissen sich gegenseitig in den Schwanz, während mein Schritt pochend eng wurde. Neben mir verglühte ihre Zigarette mit einem leisen Zischen. Sie nickte mir aus scheuen Augen dankbar zu. Ich sah nur das ausgefranste T-Shirt, das sich über kleinen straffen Brüsten spannte. Ich wollte keinen Dank in ihren Augen, ich wollte ihn in ihren Händen, wollte spüren, spüren, wollte …

»Bye.« Ihre Augen waren nicht mehr scheu. Sie waren stumpf. Das Mädchen huschte aus dem miefigen Laden. Die Tür schlug hinter ihr ins Schloss. Jäh kam ich wieder zu mir. Meine Hände umspannten nichts anderes als das Glas vor mir. Die Knöchel traten bereits hervor: Was tat ich hier?

»Sie weiß, wer du bist.« Neben meinem linken Arm wurde ein abgegriffener Block in mein Sichtfeld geschoben. Die Buchstaben marschierten, aufgereiht wie Zinnsoldaten an einer imaginären Front, direkt in mein Hirn.

Ich drehte mich herum. »Was soll …«

Er hatte seine Zähne für ein Lächeln entblößt, das nicht freundlich war. Gefahr, Gefahr, schrillte mein spezieller Nerv und begann, einen kurzen Paniksamba zu tanzen.

»Was wollen Sie von mir?«, setzte ich erneut an.

Mit knapper Geste zog er den Block zu sich, setzte den Stift auf das Papier und ließ seine akkuraten Soldaten erneut marschieren.

»Sie sind hier der Einzige, der WILL. Aber Sie wissen nicht, was. Sie sollten sich bald darüber klar werden.«

Orakel, nichts als Orakel. Ich pfiff mein trügerisches Alarmsystem wieder zur Ordnung. Der Kerl war ein dahergelaufener Prophet, der nur einen Dummen suchte, der ihm zuhörte. Alles in Ordnung, das würden wir gleich haben. Also setzte ich mein joviales Lächeln auf.

»Ich glaube, Sie verwechseln mich. Ich weiß zufällig sehr genau, was ich will. An meinem Leben ist nichts auszusetzen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.« Danach wandte ich mich wieder dem Wasser zu und beschloss, so bald wie möglich ein Taxi zu rufen. Die Hauptnachrichten würden ohne mich auf Sendung gehen, aber die Spätnachrichten wollte ich nur ungern verpassen.

Der Stift kratzte über den Block, der Block schrammte über das abgelebte Holz hart an meinen Ellenbogen heran.

»Ihre Gedanken werden Sie töten.«

»Die Gedanken sind frei.«

Der Stift tanzte erneut. »Darin liegt die Gefahr.«

»Hören Sie mal, direkte Gefahr geht von festen Körpern aus. Nicht von Träumen. Und wenn Sie mir jetzt erzählen wollen, dass selbst die Gräueltaten der historischen Geschichte allein auf Ideen basierten, dann kann ich nur sagen, dass es immer noch ein weiter Weg vom Traum bis zur Umsetzung ist. Die meisten Gedanken richten rein gar nichts an!«

Wieder rutschte der Block über das zerkratzte Holz zu mir. »Sie entwickeln ein Eigenleben. Sie nehmen Gestalt an.«

Ich wusste nicht, was ich noch erwidern konnte. Der Typ war durchgeknallt. Es würde keinen Sinn haben, mit ihm zu diskutieren. Warum auch? Sollte er sich ein neues Opfer suchen. Ich versuchte, ihn zu ignorieren, aber der Stift zog meine Aufmerksamkeit auf sich, wie er unbeirrt über den Block hastete.

»Sie sind Lebewesen. Sie lauern in uns allen. Gute, leise, schüchterne Ideen – aber auch die brutalen, bösen, zerstörerischen Gedanken. Ich habe Sie beobachtet. Ich habe Ihre Gedanken gesehen.«

Die Worte flossen auf das Papier und von dort aus in mich herein. Er musste sich irren. Was wollte er schon gesehen haben? Keiner wusste, was sich in mir abspielte, das hatte mir Frau Statzer erst vor ein paar Stunden bewiesen. Und das war auch gut so. Etwas Privatsphäre sollte der Mensch haben. Ich wollte seine Worte abtun, doch es ging eine hypnotische Wirkung von ihnen aus. Gegen meinen Willen las ich weiter.

»Die Idee in Ihnen ist schon sehr stark. Sie haben sie nicht mehr im Griff. Ständige Verleugnung ist kein Mittel der Bezähmung. Sie denken, dass Sie die Kontrolle haben? Man könnte Sie für diesen Irrtum bedauern. Aber ich habe die Idee, die Ihnen zugrunde liegt, gesehen. Sie hat eine Form angenommen – einen Körper. Bald wird sie Ihr kleines schwaches Oberflächen-Ich schlucken. Spätestens dann muss man die Welt vor Ihnen schützen.«

Das saß. Seine Worte wanderten durch mein Gehirn und lösten dort die verschiedensten Gedanken aus. Scham, Angst, aber auch eine selbstherrliche Arroganz, die als Spott verkleidet daher kam. Man würde die Welt vor mir schützen müssen. Irgendwie gefiel mir der Gedanke. Wahrscheinlich, weil er der Realität diametral entgegenstand. Es gab nichts, womit ich die Welt bedrohen konnte. Selbst wenn ich auf der Arbeit ein paar Zahlen verdrehen würde, hatte das keinen Einfluss, denn so ein Fehler würde schnell bemerkt und behoben werden. Ich spürte, wie mich diffuser Zorn erfasste. Dabei war ich nicht einmal auf ihn persönlich ärgerlich. Es war ein vages, unbestimmtes Gefühl.