HOFFNUNG UND TOD (The End 4)

Text
Aus der Reihe: The End #4
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

24. Juni 2015

»Die Versprechungen dieser Welt sind größtenteils Trugbilder …«

Michelangelo

McCall, Idaho, Vereinigte Staaten

Gordon und Samantha lächelten. Gleich hinter dem Haus lag nun ein Stück frisch bestellte Erde – der erste Ansatz eines Gartens. In der Nähe spielte Haley in einem Sandkasten, der von ihrem Vater gebaut worden war, nachdem sie sich an ihr neues Leben in McCall gewöhnt hatten. Der intensive und angenehme Geruch des umgegrabenen Bodens lag in der Luft, während sie diesen Moment des Stolzes und der Zufriedenheit miteinander teilten.

Bis Mitte Mai waren die Straßen so weit enteist, dass die Gruppe von Eagle aus aufbrechen konnte, um ihre Reise fortzusetzen, die in San Diego begonnen hatte. Fast auf den Tag genau fünf Monate, nachdem sie losgefahren waren, erreichten sie ihr Ziel. Bei ihrem Aufbruch in Kalifornien hatte ihr Zug aus sechs Familien bestanden, doch aufgrund von Widrigkeiten während der Fahrt und vorschnellen Beschlüssen einiger Gruppenmitglieder war nun nur noch die Hälfte übrig geblieben, als sie McCall erreichten. Unterwegs hatten sie viele verloren – Menschen, die ihnen lieb und teuer gewesen waren –, aber auch Zuwachs bekommen, unter anderem von Sebastian, Annaliese und Luke. Am ersten Kontrollpunkt in McCall waren sie mit gemischten Gefühlen zusammengetroffen. Der Verlust von Hunter, Frank, Mack und Holloway lastete schwer auf ihnen, doch sie waren fest entschlossen, etwas aus ihrer zweiten Chance zu machen.

Furchtbare Schrecken und Entbehrungen lagen hinter ihnen, doch nun waren alle zuversichtlich, dass McCall ihr sicherer Hafen abseits der neuen Welt war. Hier konnten sie noch einmal ganz von vorne beginnen und wieder zueinanderfinden, was vor allem Gordon und Samantha am Herzen lag. Ihre traumatischen Erfahrungen hatten ihnen stark zugesetzt und auch ihrer Beziehung Schaden zugefügt. Beiden war bewusst, dass sie beheben mussten, was im Argen lag, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch für Haley. Irgendwo im tiefsten Kern befand sich ihre Ehe auf einem festen Fundament der Liebe, doch darüber taten sich erhebliche Risse auf.

Samantha hatte Gordon verzeihen wollen, dass er sie nach Hunters Tod alleingelassen hatte, aber sie konnte es nicht. Er hatte seine Haltung eindrücklich dargelegt, und sie verstand, warum er Hunter hatte rächen wollen, wurde aber das Gefühl nicht los, er habe Haley und sie durch sein Verschwinden in Gefahr gebracht. Eines Abends war er schließlich eingeknickt, seine harte Schale aufgeweicht und darunter ein Mann zum Vorschein gekommen, der sich dafür schämte, seinen Sohn in eine Situation gebracht zu haben, die Gefangenschaft und Tod nach sich gezogen hatte. Er räumte ein, dass sich einige seiner Beweggründe dafür, nicht sofort zurückzukehren, daraus ergeben hatten, dass er nicht in der Lage gewesen war, ihr unter die Augen zu treten. Er hatte geglaubt, sie im Stich gelassen und ihren einzigen Sohn durch seine Entscheidungen getötet zu haben. Das bisschen Seelenfrieden, das sie vielleicht noch haben konnten, hing nun von der Gewissheit ab, dass Rahab tot war und niemand anderem mehr schaden konnte, erklärte er ihr.

Samantha fühlte sich trotz seiner hingebungsvollen Erklärung aber immer noch verletzt. Sie sah die Welt mit anderen Augen als Gordon, wusste jedoch auch, dass sie genau deswegen mit ihm harmonierte. Sie teilten ähnliche Wertvorstellungen, packten das Leben aber auf unterschiedliche Weise an. Nach seinem Nervenzusammenbruch und dem tränenreichen Geständnis nahm sie sich vor, ihm unbedingt zu verzeihen, denn andernfalls würden sie nicht imstande sein, in Frieden weiterzuleben. Jemand hatte ihr einmal gesagt, niemand könne gesund werden, solange seine Wunden unbehandelt bluteten, und mit diesem Gedanken im Hinterkopf beschloss sie, man dürfe der Vergangenheit nicht länger nachtrauern.

»Ich habe ganz vergessen, dir zu sagen, dass Michael Rutledge genügend Holz für uns hat, also können wir die Räucherkammer bauen, die du wolltest«, erzählte Gordon. »Er wollte morgen irgendwann damit vorbeikommen.«

»Das ist toll, ich mag die Rutledges«, erwiderte Samantha strahlend.

»Ja, sie sind gute Menschen. Ich habe bemerkt, dass ihr, Tiffany und du, ein Herz und eine Seele seid«, feixte Gordon.

Samantha warf ihm einen strengen Blick zu. »Ein Herz und eine Seele? Den Ausdruck habe ich ja seit Ewigkeiten nicht mehr gehört. Meine Güte, es kommt mir vor, als sei er irgendwann einmal wichtig gewesen.«

»Freunde sind immer noch wichtig.«

»Natürlich sind sie das, bloß war ich in San Diego derart darauf versteift, Freunde – in Anführungszeichen – zu finden und mit den braven Frauchen Dinge zu unternehmen, die sich für Mamas schickten, dass ich ganz aus den Augen verloren habe, was echte Freunde sind. Du weißt schon: Verabredungen zu Spielrunden, gemeinsame Abendessen, zusammen mit anderen Müttern ausgehen, bla, bla, bla. Will man ständig mit anderen mithalten, wird man vom Wesentlichen abgelenkt. Ich frage mich, was mit ihnen allen passiert ist.«

»Also, ich bin mir sicher, dass Marilyn und Irene nicht überlebt haben.«

»Irene vielleicht schon. Sie würde ihre eigenen Kinder essen, um zu überleben! Am besten hätte sie wohl zuallererst ihren Schluckspecht und Versager von Ehemann ausgeschaltet, das wäre womöglich eine Chance für sie und ihre ungezogenen Gören gewesen.« Samantha lachte.

»Oh, und Marilyn, diese arrogante Kuh und ihr Gehabe, von wegen Seht mich an und schaut, was für tolle Sachen ich habe.« Gordon grinste. »Zu köstlich, ihr affektiertes Gehabe. Hoffentlich lockte ihr Versace-Täschchen nicht die Villistas an.«

»Ach was, genug von ihnen. Ich bin einfach nur dankbar für die guten Freunde, die wir gefunden haben.«

»Ich mag Michael sehr gerne, würde er nur bloß nicht ständig über Politik reden wollen«, meinte Gordon.

»Mach dir nichts vor, ich weiß doch, du liebst es selber, über Politik zu philosophieren.«

»Was? Ich halte überhaupt nichts von Politik!«

»Ja, schon klar. Du gibst nichts auf Politiker …«

Gordon grinste breit. »Hast recht«, räumte er ein. »Aber kennt er auch andere Gesprächsthemen als Kasadonien?«

»Kaskadien meinst du.«

»Was auch immer, ich war kein großer Freund der alten US-Regierung, kenne jetzt aber zumindest einige Vertreter der neuen. Separatismus und Versuche, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen, ziehen nur Probleme nach sich.«

»Moment mal, hast du mir nicht erzählt, andere Staaten hätten sich ohne Schwierigkeiten abspalten können?«, hakte Samantha nach.

»Ja, aber ich kann immer noch nicht glauben, dass Präsident Conner es einfach so zulässt, und außerdem: Was verstehen Michael oder die anderen, die für Kaskadien sind, denn schon von Staatsführung?«

»Irgendwelche Argumente muss Michael haben, sonst hätte er Sebastian nicht davon überzeugen können, sich anzuschließen.«

»Erinnere mich nicht daran«, klagte Gordon. Er war bei einigen Treffen derer zugegen gewesen, die sich für die Unabhängigkeit Kaskadiens einsetzten. Er hatte ihren Ausführungen gelauscht und das Meiste davon sogar gutgeheißen, aber er konnte sich einfach nicht mit dem Gedanken der Separation anfreunden, besonders weil es Gleichgesinnte in Cheyenne gab. Für ihn ergab es keinen Sinn, doch Sebastian hatte sich bekehren lassen und war auch noch stolz darauf.

»Egal was du tust, sei nett zu Michael. Ich mag ihn und Tiffany.«

»Du verlangst also tatsächlich von mir, dass ich nicht so etwas sage wie: Michael, bitte höre auf mit dem dummen Geschwätz über eine Republik Kaskadien

Samantha neigte sich zu ihm, küsste ihn und entgegnete: »Du bist ein ziemlich kluger Kerl, denn genau das verlange ich von dir.«

»Schau mal, wie glücklich sie ist.« Gordon wies mit einer Kopfbewegung zu Haley. Erneut grinste er.

»Ja, sie hat sich schnell eingelebt. Hier zu sein, tut ihr gut. Ich weiß, dass nicht alles perfekt ist, aber dass es so schnell ging, wäre mir im Traum nicht eingefallen.«

»Stimmt, nach allem, was passiert ist, hätte ich darauf gewettet, dass auch McCall ein Reinfall ist.« Gordon strahlte immer noch. »Sie haben wirklich großartige Arbeit geleistet, um hier alles zusammenzuhalten. Das sind gute Menschen.«

»Es war auch eine Frage des richtigen Zeitpunkts. Du hast ja gehört, was sie von den Wochen danach erzählt haben. Auch sie haben mit Problemen gekämpft.«

»Klar, aber sie konnten sie schnell aus der Welt schaffen. Bürgermeister Waits und Chief Rainey waren Gottes Geschenke an diese Gemeinde.«

»Wann beginnt eigentlich deine nächste Schicht?«, fragte Samantha.

»Erst morgen, und ich weiß zu schätzen, dass du mir erlaubst, sie nach draußen zu begleiten. Das bedeutet mir eine Menge.«

McCalls Polizeichef Rainey hatte gefragt, ob Gordon ehrenamtlich als Ordnungshüter arbeiten wolle. Gordon hätte diese Gelegenheit sofort ergriffen, doch Samantha hatte sich zunächst dagegen gesträubt. Aber nach ein paar Wochen Eingewöhnung war ihr klar geworden, wie wichtig es war, dass ihr Mann eine aktive Rolle in der Gemeinschaft übernahm.

»Sicher, ich habe mich zunächst dagegen gewehrt, aber diese Stadt hat es gut mit uns gemeint, also müssen wir uns auch erkenntlich zeigen, nur sollte es dich nicht zu lange davon abhalten, bei mir zu sein.«

Nun drückte Gordon fest ihre Hand. »Hey, ich liebe dich. Ich werde nichts tun, ohne es vorher mit dir besprochen und deinen Rat eingeholt zu haben.«

»Ich wollte dir etwas vorschlagen, aber ich glaube, dass ich es mir gerade selbst wieder ausrede.« Sie hielt inne. »Im Stadtrat wird ein neuer Posten besetzt. Ich dachte, dass …«

 

»Du möchtest, dass ich zur Wahl in den Stadtrat antrete?« Gordon klang ein wenig verdutzt.

»Ja, ich finde, das solltest du.«

Gordon lehnte sich zurück und überlegte. Er verachtete Politik, doch man kam im Leben nicht an ihr vorbei.

»Außerdem wärst du dann häufiger zu Hause. Wenn du Nachtschicht hast, fühle ich mich immer so einsam im Bett.«

»Sam, mir fehlen die Worte. Lass mich erst einmal darüber nachdenken.«

»Na, dann mal los, denn die Wahlen sind Ende August.«

Er lächelte sie an. »Ich muss schon sagen, du steckst voller Überraschungen.«

Sie schaute in sein kantiges, vernarbtes Gesicht. »Mir ist bewusst, dass die Zukunft ungewiss ist, doch ich möchte dich gerne bei uns haben, wenn sich das Ungewisse anbahnt.«

»Ich werde da sein.«

Als sie in McCall eintrafen, unterhielt sich Polizeichef Brent Rainey eingehend mit ihnen. Neuankömmlinge waren willkommen, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllten. Zum Glück erfüllten sie gleich das wichtigste: Sie besaßen ein Grundstück innerhalb der Stadtgrenzen. Nach längerem Hin und Her mit Rainey durften auch Nelson, Gretchen, Eric, Seneca und Beth bleiben. Sebastian, Annaliese und Luke wurden als Gordons Angehörige angesehen und ebenfalls aufgenommen. Der Einlass der anderen erfolgte unter der Bedingung, dass sie sich aktiv an Wachpatrouillen und anderen Tätigkeiten beteiligten, die von den städtischen Behörden veranlasst worden waren, darunter auch das Unterrichten an Schulen, Erntearbeiten auf kommunalen Bauernhöfen und Straßenreparaturen. Gordon und sein Tross trugen nur zu gern ihr Scherflein bei, um dafür sicheres Obdach zu erhalten.

Während der ersten Wochen hatte die ganze Gruppe erst einmal bei ihm und seiner Familie bleiben müssen, letztendlich aber irgendwann woanders eine Unterkunft gefunden. Gordon mochte seine Leute sehr gerne, freute sich aber trotzdem, als sie alle in eigene Häuser gezogen waren. Dass so viele Häuser leer standen, lag an McCalls früherer Rolle als Erholungsort. Viele Auswärtige hatten Eigenheime gebaut oder gekauft. Nach dem Totalausfall standen aber nun viele dieser Häuser leer. Einige der Besitzer hatten es noch nach McCall geschafft, doch viele sollten ihre Zweitwohnsitze nie wiedersehen. Für Gordons Gruppe war diese Situation ein Segen. Natürlich würde man sie bitten, die Gebäude sofort zu räumen, falls die Eigentümer eintrafen, doch dies war bisher noch nicht geschehen.

Obwohl der Polizeichef Gordons Leuten erlaubt hatte, zu bleiben, zeigte er sich nicht jeder Einzelperson oder Gruppe gegenüber so offen, die es nach McCall verschlug. Brent Rainey war kein Mann, der lange fackelte. Er war ein ehemaliger Cop aus New York, der irgendwann hierhergezogen war. Seine Frau war Jahre zuvor an Krebs gestorben, doch in McCall konnte er Abstand von seinen schmerzhaften Erinnerungen gewinnen und einen Schlussstrich ziehen. Auf jedes fremde Gesicht, das hier auftauchte, ging er vorbehaltlos zu, in der Annahme dahinter stecke ein ehrlicher Mensch, allerdings waren ihm auch die gegenwärtigen Zustände ringsum nur zu gut bewusst, und die Stadt konnte niemanden gebrauchen, der für zusätzliche Unruhe sorgte.

Seit ihrer ersten Begegnung hielt Gordon Rainey für einen Mann, mit dem man reden und dem man vertrauen konnte.

Gordon, Samantha und Haley hatten gerade zum Abendessen Platz genommen, als ein lautes Klopfen an der Tür sie störte. Er schaute seine Frau besorgt an. Nach dem, was sie in den vergangenen Monaten erlebt hatten, waren sie immer beunruhigt, wenn sich unerwarteter Besuch einstellte.

»Bin sofort wieder da«, versprach Gordon, stand vom Tisch auf und ging zur Haustür. Dort stand eine Kommode, an der er eine Schublade öffnete, um eine Pistole herauszunehmen.

Dann trat er vorsichtig zur Tür, schaute durch den Spion und sah erleichtert, dass es Rainey zusammen mit einem anderen Beamten war. Er entriegelte das Schloss und öffnete. »Hi, Chief.«

»Gordon, bitte entschuldigen Sie die Störung, aber ich wäre nicht hier, wenn es sich nicht um etwas Dringendes handeln würde«, begann Rainey mit seinem breiten Brooklyner Akzent, der auch nach vielen Jahren in McCall immer noch nicht ganz verschwunden war.

»Kein Problem, kommen Sie rein«, erwiderte Gordon und öffnete die Tür ganz.

Die Männer traten in den Flur. Beide hielten ihre Mützen in den Händen. »Nett haben Sie es hier«, bemerkte Rainey.

»Danke. Also, was liegt an?«

»Vor einer knappen Stunde haben wir an unserem südlichen Checkpoint einen Wagenzug angehalten. Wir möchten, dass Sie uns begleiten, um die Identität dieser Menschen festzustellen.«

»Die Identität feststellen?«

»Ja, es handelt sich nämlich um Militärfahrzeuge, und ein Mann fragte ganz gezielt nach Ihnen.«

»Im Ernst?«

»Sie kennen mich, ich erzähle Ihnen keinen Unsinn. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mit mir zu kommen? Ich setze Sie hinterher auch wieder hier ab. Das Ganze sollte nur geklärt werden.«

Gordon zögerte einen Moment, in dem er darüber nachgrübelte, wer nach ihm gefragt haben könnte. »Äh, klar. Warten Sie kurz, ich schnappe mir nur meine Jacke und die anderen Sachen. Hat der Mann seinen Namen genannt?«

»Er gab an, Smitty zu heißen.«

Elko, Nevada

»Bitte, bitte, tun Sie uns nichts!«, jammerte eine Frau. Ihr Gesicht war blutüberströmt, weil sie eine tiefe Schnittwunde am Kopf davongetragen hatte.

»Mama, Mama!«, rief ihre Tochter.

»Schaff sie mit den anderen Frauen ins Haus«, befahl ein junger Unteroffizier aus Pablos Armee.

Zwei Soldaten packten ihre Arme und zwangen sie grob zum Aufstehen.

»Meine Tochter! Bitte tun Sie meiner Tochter nicht weh!«, flehte sie.

»Stopp!«, brüllte General Alejandro beim Aussteigen aus dem Wagen, der gerade vor dem Haus stehengeblieben war, in dem sich das Drama abspielte.

Nach General Pasquals Tod war Alejandro – damals noch Major – an dessen Stelle getreten und somit auch zum Kommandanten von Pablos Streitkräften befördert worden. Da er nicht zu den Menschen zählte, die viel redeten, hörten seine Männer umso genauer hin, wenn er einmal das Wort ergriff. Diese Eigenart hatte ihn davor bewahrt, Pablo ein Dorn im Auge zu werden. Alejandro war klein und dünn, doch was ihm an Statur fehlte, machte er durch seinen Ruf wieder wett. Da er nie vor einem Kampf zurückschreckte, hatte er sich unter Freunden den Spitznamen »El Luchador« also »Ringer« eingehandelt.

Die beiden Soldaten blieben auf der Stelle stehen.

»Was geht hier vor sich?«, fragte der General.

Der Unteroffizier trat sofort näher und salutierte.

Alejandro erwiderte die Geste nicht. Er verzog sein Gesicht in Anbetracht der Unwissenheit des Mannes. »Im Kampfeinsatz salutieren Sie gefälligst niemals vor mir, verstanden?« Der General bezog sich auf eine Order, die er gegeben hatte, sobald er an Pasquals Stelle getreten war. Ihr Guerillakrieg gegen die Amerikaner nötigte sie dazu, andere Methoden anzuwenden und auf typische Militärsitten zu verzichten. Aufständischen Gegnern war es gelungen, Befehlshaber unter Beschuss zu nehmen, nachdem sich diese durch Kleinigkeiten wie einen Salut zu erkennen gegeben hatten. In diesen Zeiten war es unabdingbar, alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.

»Verzeihung, Sir«, antwortete der Unteroffizier, der augenblicklich seine gesunde Gesichtsfarbe verloren hatte.

»Was geht hier vor sich?«, wiederholte Alejandro.

»Sir, wir bringen diese Frau ins Haus zu den anderen, die wir gefangen genommen haben.«

Der General ging zu ihr hinüber und schaute sie intensiv an. Ihre Augen waren rot und verquollen, Tränen vermischten sich mit dem Blut auf ihrem Gesicht. Als er eine Hand nach ihr ausstreckte, zuckte sie zusammen, weil sie mit einem Schlag gerechnet hatte. »Sssch, ich tue dir nichts.« Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

Die Frau konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Sie schaute Alejandro an, doch ihr Blick schnellte immer wieder zu ihrer Tochter.

»Was ist hier passiert?«, fragte er.

»Wir … meine Tochter und ich, wir versteckten uns und …«

»Ihr Ehemann war ein Rebell, wir haben ihn umgebracht«, warf der Unteroffizier ein.

»Stimmt das?«, fuhr Alejandro in sanftem Tonfall fort.

Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Nun packte Alejandro sie fest am Kinn und versuchte es noch einmal: »Stimmt es, was der Corporal sagte?«

»Wir haben uns nur verteidigt!«

Eine andere Tür an Alejandros Wagen ging auf und Pablo stieg aus. Gleichzeitig sprang einige Männer aus dem Fahrzeug, das dahinter parkte, und umringten ihn. Er zog alle Blicke auf sich, während er raschen Schrittes zu ihnen kam. Nur ein paar Fuß vor der Frau entfernt blieb er stehen.

»Dein Mann war also ein Rebell?«

»Bitte, wir hatten keine andere Wahl«, rief die Frau wimmernd.

Pablo betrachtete sie genauer; ihr dunkles Haar, die olivfarbene Haut und ihre braunen Augen. »Du stammst aus dem Süden, oder?«

»Oh ja, ja«, antwortete die Frau in der Hoffnung, einen Vorteil daraus zu gewinnen, dass sie sich zu ihrer Herkunft bekannte.

»Warum also habt ihr euch gegen uns gewehrt?«, fuhr Pablo fort.

»Mein Mann …«

»Er kam nicht aus dem Süden?«

»Nein – ich meine doch, kam er, aber er dachte bloß …«

»Bloß was?«, bohrte Pablo nach.

»Bitte tun Sie uns nichts.«

»Meine Liebe, ich tue dir nichts«, beteuerte Pablo und musterte sie ausgiebig. »Was also dachte er bloß … dein Mann?«

»Er … ach«, fing sie an und brach wieder ab. Sie wollte eine ehrliche Antwort geben, wusste aber nicht, wie sie es genau ausdrücken sollte.

»Dann vergiss es eben«, sagte Pablo lapidar.

»Nein, bitte lassen Sie uns in Ruhe.«

»Dein Mann hat gegen uns gekämpft, und du vermutlich auch, also …«

»Nein, bitte, nein!«

»Liebte dein Mann sein Land?«, stichelte Pablo. »Liebte er Amerika?«

Die Frau erstarrte vor Angst. Sie sperrte den Mund weit auf, fand aber keine Worte.

»Na? Antworte mir!«

»Doch, ja, er liebte Amerika, aber ich – ich liebe Mexiko! Viva México!«, rief die Frau.

Pablo sah sie finster an, ehe er sich dem General zuwandte. Er prustete los. Sein Gelächter jagte der Frau noch größere Angst ein.

Ihre Tochter wimmerte so laut, dass Pablo auf sie aufmerksam wurde. Ein anderer Soldat hielt sie an den Schultern fest. In ihrem schmutzigen Gesicht hatten sich durch die Tränen Schlieren gebildet.

Als Pablo das Kind anschaute, empfand er nichts. Er war frei von jeglicher Reue oder Anteilnahme. »Halt den Mund«, sagte er zu ihr. Sie verstummte sofort.

Dann trat er ein paar Schritte zurück und betrachtete das Blutbad, das man im kurzen Gefecht mit den Widerständlern angerichtet hatte. Die einst ansehnliche, mittelständische Wohngegend war zerstört. Zahllose Gewehrkugeln hatten die Fassaden der Häuser entlang der Straße durchsiebt, die Fenster zersplittert oder ganz gesprengt. Die Leichen von Rebellen und Soldaten lagen verstreut in Vorgärten, Einfahrten oder auf dem Asphalt. Der Kampf war schnell vorüber, jedoch erbittert gewesen, aber Pablos Männer hatten sich in der Überzahl befunden. Nun stürmten sie die Häuser oder kamen heraus, nachdem sie erbeutet hatten, was es zu holen gab. Aus einem der Häuser hörte Pablo die Schreie mehrerer Frauen, die den Zorn seiner Leute auf die grausamste und persönlichste Weise zu spüren bekamen. Wie er auch Isabel in der Nacht kurz vor ihrem Tod gesagt hatte, kannte er keine Gnade, außer jemand nahm das Angebot an, auf seine Seite zu wechseln.

Sein Vorstoß von Sacramento nach Elko hatte länger als zwei Monate gedauert. Er war Mitte April dort aufgebrochen, sobald sich seine Villistas überall in der Stadt eingenistet hatten. In jeder weiteren Stadt, die unter ihm gefallen war, hatte er dafür gesorgt, eine feste Führungsstruktur seiner Leute dort anzusiedeln; in Elko würde es nicht anders laufen.

Die Eroberung der einzelnen Städte auf dem Weg würde seinen Feldzug nach Cheyenne zwar aufhalten, doch was Pablo am meisten frustrierte, waren die ständigen Flugangriffe der Überreste der US Air Force. Ohne Luftunterstützung waren seine Einheiten leichte Ziele, wenngleich sie ihre Gegenmaßnahmen zum Glück bündeln konnten, um den Schaden zu begrenzen, den sie durch den Beschuss erlitten. Außerdem hatte Pablo seine Kernarmee in zwei Heere aufgesplittet; er selbst führte eines entlang der Interstate 80 in Richtung Salt Lake City in Utah, während das andere parallel dazu auf dem US Highway 50 marschierte. Er hoffte, dies mache die Truppe zu einem schwierigeren Ziel für die Luftangriffe und vergrößere zugleich seine Reichweite. Die Streitkräfte im Süden waren von den Bombardements verschont geblieben und kamen ungehindert voran. Die beiden Flügel würden irgendwann im Juli wieder vereint, um dann einen koordinierten Angriff gegen Salt Lake City zu wagen.

 

Pablo nahm sich vor, Ende August gegen Cheyenne aufzumarschieren. Ihnen stand ein harter Kampf bevor, doch er wusste, der einzige Weg, die Vereinigten Staaten schlagen zu können, bestand darin, die Hauptstadt dem Erdboden gleichzumachen und den Präsidenten zu beseitigen. Er wollte es auf die altmodische Tour versuchen, mit Straßenkämpfen und Mann gegen Mann, falls es nicht anders ging, aber sollte sich der Sieg nicht auf diese Weise erringen lassen, hatte er noch eine Überraschung parat, die ihm den Erfolg garantieren würde. Laut letzten Informationen befand sich dieses Ass in seinem Ärmel bereits in Cheyenne. Er brauchte zum richtigen Zeitpunkt also nichts weiter zu tun, als Order zu geben.

Nun drehte er sich abermals zu der Frau um und war mit den Gedanken wieder bei der Sache. Sie fürchtete sich und flehte ihn an, er möge sie und ihre Tochter verschonen.

»Vor Monaten sagte mir einmal jemand, Gnade zu zeigen sei der größte Beweis von Stärke überhaupt. Jetzt kann ich jedem versichern, dass das nicht stimmt, denn diese Lüge kostete mich beinahe das Leben. Vorgestern befahl ich diesem armseligen Kaff, sich geschlagen zu geben oder unterzugehen.« Er machte eine Pause und trat einen Schritt auf die Frau zu. »Dein Mann traf seine Wahl. Er glaubte an etwas. Ich habe Respekt vor jemandem, der bereit ist, für die Sache zu sterben, von der er überzeugt ist. Solche Menschen brauche ich, doch leider kämpfte er auf der falschen Seite. Du hingegen bist bereit, deine Treue zu überdenken, nur um nicht zu sterben. Du wärst dazu imstande, jeden zu verraten, um ein weiteres Mal die Sonne aufgehen zu sehen. Dein Gatte war ein tapferer, aber dummer Mann und ist gestorben. Du hingegen bist feige und dumm, und das ist wesentlich schlimmer, also wirst auch du sterben, allerdings im Wissen darum, dass deine Tochter vor dir gestorben ist«, brüllte Pablo. Er zog die Pistole aus seinem Schulterhalfter, zielte auf das kleine Mädchen und drückte ab.

Die Frau kreischte auf, brach in Tränen aus und fing an, sich gegen die Männer, die sie festhielten zu wehren, um zu ihrer sterbenden Tochter zu gelangen.

»Sieh mich an!«, rief Pablo.

Das Geschrei der Frau übertönte seinen Befehl.

Er hielt ihr den Lauf an die Stirn.

Sie schrie auf: »Nein! Sie sagten, Sie würden mir nichts tun!«

Pablo wollte den Abzug betätigen, doch diese Bemerkung hielt ihn zurück. »Du hast recht.« Er drehte sich zu General Alejandro um und sah ihn an.

Dieser kannte den Blick und reagierte sofort, indem er seine Waffe zückte und an ihren Kopf hielt.

»Nein, nein, nein!«, stammelte sie.

Der Schuss brachte sie augenblicklich zum Schweigen. Ihr Körper sackte gegen die Soldaten, die sie festhielten.

»General Alejandro!«

»Jawohl, Imperator!«

»Zeit zum Aufbruch.«

»Jawohl, Imperator!«

Pablo kehrte zu seinem Wagen zurück, blieb aber vor der Tür stehen. Er drehte sich noch einmal um und sagte: »Gute Arbeit, General. Ein weiterer Sieg für die panamerikanische Armee

Cheyenne, Wyoming

Einmal pro Woche verließ Conner die ›Grünzone‹, welche den Innenstadtbereich von Cheyenne umfasste. Er fuhr mit bewaffneter Eskorte, um die neu errichteten Zeltstädte zu besichtigen, die an den Rändern der Stadt entstanden. Die Neuigkeit, dass die Regierung der Vereinigten Staaten eine neue Hauptstadt ernannt hatte, war zügig verbreitet worden. Menschen kamen über die Berge und aus den Staaten in der Mitte des Landes, weil sie sich hier eine bessere und sicherere Zukunft erhofften.

General Baxter sah diese wöchentlichen Abstecher ungern, doch Conner wies seine Bedenken stets zurück. Die Tage, in denen der Präsident jedes Sicherheitsprotokoll einhalten musste, waren vorbei. Conner wusste, dass er nicht aus dem sprichwörtlichen Elfenbeinturm heraus regieren konnte. Seit beschlossen worden war, den Bunker zu verlassen, hatte er es sich zur Pflicht gemacht, sich unter die Menschen zu mischen, die zu beschützen er geschworen hatte. Ihm war klar, dass er nun wie einer der Herrscher aus vergangenen Zeiten wirken musste.

Die ersten entstandenen Zeltstädte zehrten bereits an den Ressourcen der Regierung, doch bald kamen Australien, Brasilien und Argentinien einem Versprechen nach, das sie den USA gegeben hatten. Innerhalb eines Monats trafen über Houston erste Hilfsmittel im Land ein. Conners Abkommen mit der Republik Texas hatte sich für alle Parteien ausgezahlt. Zugang zu einem Hafen wie dem in Houston zu haben, war für den Aufbau unabdingbar, und sein Standort immens wichtig. Die Republik arbeitete fieberhaft daran, diplomatisches Vertrauen aufzubauen, kam dabei jedoch nur beschwerlich voran.

Während Conner an Lagerfeuern vorbeiging, freute er sich darüber, dass sich das Volk langsam eingewöhnte. Er stieß überall auf Gelächter. Ihm war klar, dass es nicht von tiefster Zufriedenheit herrührte, sondern dass es Hoffnung war. Diesen Menschen war auf ihren Wegen Entsetzliches widerfahren, viele hatten erleben müssen, was Verlust bedeutete, nicht nur den persönlichen Besitz betreffend, sondern auch den Verlust geliebter Menschen. Der Tod gehörte nunmehr zum Alltag. Der anfängliche Schock war rasch verflogen, als die Menschen erkannt hatten, dass sie sich anpassen mussten oder bald selbst zu den Unglücklichen zählen würden. Wer bis jetzt durchgehalten hatte, durfte sich glücklich schätzen, doch das bedeutete nicht zwangsläufig, dass er auch die nächsten sechs Monate überleben würde.

Conner fand diese Besuche äußerst aufschlussreich und wusste, dass auch die Bürger sie schätzten. Obwohl sie meistens von Herzlichkeit geprägt waren, hatte es auch ab und an Spannungen gegeben. Aber er nahm seinem Volk das kein einziges Mal übel, denn müsste er unter diesen Umständen leben, würde er auch ab und zu durchdrehen. Im Großen und Ganzen hatte er sich im Kontakt mit den Menschen eine Achtung erarbeitet, wie sie nur wenigen Politikern je zuteilgeworden war.

Wenn er es wünschte, begleitete Pat, der Besitzer von Pats Coffeeshop, ihn hin und wieder. Zwischen ihnen hatte sich eine Freundschaft entwickelt. Bei Pat konnte Conner ganz er selbst sein und Abstand vom schier endlosen Treffen von Entscheidungen nehmen. Cruz und er waren zwar immer noch dicke Freunde, doch Conner hatte darum gebeten, sich vorerst nicht mehr zu treffen. Er durfte nicht riskieren, dass ihnen beiden etwas zustieß, falls sie angegriffen wurden, und hatte Cruz deshalb mit seiner Familie eine Woche nach seiner Rückkehr in den Bunker von Cheyenne Mountain abbestellt, wo er selbst auch eine Zeit lang untergekommen war.

Conner weihte Pat nie in vertrauliche Einzelheiten ein und wurde von ihm auch nie danach gefragt. Der Mann wusste, dass es ihm nicht zustand, sich einzumischen. Heute Abend sah die Sache jedoch anders aus.

»President Conner, man hört Gerüchte, dass sich eine fremde Armee Cheyenne nähert. Ist das wahr?«, fragte ein Mann mittleren Alters auf der gegenüberliegenden Seite eines kleinen Lagerfeuers. Zu ihm gesellten sich seine Ehefrau und zwei Söhne im Teenageralter.

»Ich will Ihnen nichts vormachen: Südwestlich von uns bewegt sich eine Streitmacht, die Willens ist, die Überreste der Vereinigten Staaten zu zerschlagen«, antwortete Conner. »Wir gehen erbittert gegen sie vor. Sie wird es nicht bis hierher schaffen. Ich versichere Ihnen, wir tun unser Möglichstes, um sie aufzuhalten.«

Er betrachtete die Familie hinter den orangefarbenen Flammen des Feuers. Ihre Gesichter waren eingefallen und spiegelten die Strapazen des vergangenen halben Jahres wider. In ihren Augen sah er die gleiche Bitte um Erlösung wie in jenen anderer Menschen, denen er begegnet war. Sie waren verzweifelt, und das Wissen um eine gegnerische Armee, die sie bedrängte, führte dazu, dass sie sich noch schutzloser fühlten.