Buch lesen: «Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke», Seite 57

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Die ir­di­sche Ge­brech­lich­keit und ihre Haup­t­ur­sa­che. – Man trifft, wenn man sich um­sieht, im­mer auf Men­schen, wel­che ihr Le­ben­lang Eier ge­ges­sen ha­ben, ohne zu be­mer­ken, daß die läng­lich­ten die wohl­schme­ckends­ten sind, wel­che nicht wis­sen, daß ein Ge­wit­ter dem Un­ter­leib för­der­lich ist, daß Wohl­ge­rü­che in kal­ter, kla­rer Luft am stärks­ten rie­chen, daß un­ser Ge­schmacks­sinn an ver­schie­de­nen Stel­len des Mun­des un­gleich ist, daß jede Mahl­zeit, bei der man gut spricht oder gut hört, dem Ma­gen Nach­teil bringt. Man mag mit die­sen Bei­spie­len für den Man­gel an Beo­b­ach­tungs­sinn nicht zu­frie­den sein, um so mehr möge man zu­ge­ste­hen, daß die al­ler­nächs­ten Din­ge von den meis­ten sehr schlecht ge­se­hen, sehr sel­ten be­ach­tet wer­den. Und ist dies gleich­gül­tig? – Man er­wä­ge doch, daß aus die­sem Man­gel sich fast alle leib­li­chen und see­li­schen Ge­bre­chen der ein­zel­nen ab­lei­ten: nicht zu wis­sen, was uns för­der­lich, was uns schäd­lich ist, in der Ein­rich­tung der Le­bens­wei­se, Ver­tei­lung des Ta­ges, Zeit und Aus­wahl des Ver­keh­res, in Be­ruf und Muße, Be­feh­len und Ge­hor­chen, Na­tur- und Kun­st­emp­fin­den, Es­sen, Schla­fen und Nach­den­ken; im Kleins­ten und All­täg­lichs­ten un­wis­sen­d zu sein und kei­ne schar­fen Au­gen zu ha­ben – das ist es, was die Erde für so vie­le zu ei­ner "Wie­se des Un­heils" macht. Man sage nicht, es lie­ge hier wie über­all an der mensch­li­chen Un­ver­nunft: viel­mehr – Ver­nunft ge­nug und über­ge­nug ist da, aber sie wird falsch ge­rich­tet und künst­lich von je­nen klei­nen und al­ler­nächs­ten Din­gen ab­ge­lenkt. Pries­ter und Leh­rer, und die sub­li­me Herrsch­sucht der Idea­lis­ten je­der Art, der grö­be­ren und fei­ne­ren, re­den schon dem Kin­de ein, es kom­me auf et­was ganz an­de­res an: auf das Heil der See­le den Staats­dienst, die För­de­rung der Wis­sen­schaft oder auf An­se­hen und Be­sitz, als die Mit­tel, der gan­zen Mensch­heit Diens­te zu er­wei­sen, wäh­rend das Be­dürf­nis des ein­zel­nen, sei­ne große und klei­ne Not in­ner­halb der vier­und­zwan­zig Ta­ge­s­stun­den et­was Verächt­li­ches oder Gleich­gül­ti­ges sei. – So­kra­tes schon wehr­te sich mit al­len Kräf­ten ge­gen die­se hoch­mü­ti­ge Ver­nach­läs­si­gung des Men­sch­li­chen zu­guns­ten des Men­schen und lieb­te es, mit ei­nem Wor­te Ho­mers, an den wirk­li­chen Um­kreis und In­be­griff al­les Sor­gens und Nach­den­kens zu mah­nen: das ist es und nur das, sag­te er, "was mir zu Hau­se an Gu­tem und Schlim­mem be­geg­net".

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Zwei Trost­mit­tel. – Epi­kur, der See­len-Be­schwich­ti­ger des spä­te­ren Al­ter­tums, hat­te jene wun­der­vol­le Ein­sicht, die heut­zu­ta­ge im­mer noch so sel­ten zu fin­den ist, daß zur Be­ru­hi­gung des Ge­müts die Lö­sung der letz­ten und äu­ßers­ten theo­re­ti­schen Fra­gen gar nicht nö­tig sei. So ge­nüg­te es ihm, sol­chen, wel­che "die Göt­terangst" quäl­te, zu sa­gen: "wenn es Göt­ter gibt, so be­küm­mern sie sich nicht um uns", – an­statt über die letz­te Fra­ge, ob es Göt­ter über­haupt gebe, un­frucht­bar und aus der Fer­ne zu dis­pu­tie­ren. Jene Po­si­ti­on ist viel güns­ti­ger und mäch­ti­ger: man gibt dem an­dern ei­ni­ge Schrit­te vor und macht ihn so zum Hö­ren und Be­her­zi­gen gut­wil­li­ger. So­bald er sich aber an­schickt das Ge­gen­teil zu be­wei­sen – daß die Göt­ter sich um uns be­küm­mern –, in wel­che Irr­sa­le und Dorn­ge­bü­sche muß der Arme ge­ra­ten, ganz von sel­ber, ohne die List des Un­ter­red­ners, der nur ge­nug Hu­ma­ni­tät und Fein­heit ha­ben muß, um sein Mit­lei­den an die­sem Schau­spie­le zu ver­ber­gen. Zu­letzt kommt je­ner an­de­re zum Ekel, dem stärks­ten Ar­gu­ment ge­gen je­den Satz, zum Ekel an sei­ner ei­ge­nen Be­haup­tung; er wird kalt und geht fort mit der­sel­ben Stim­mung, wie sie auch der rei­ne Athe­ist hat: "was ge­hen mich ei­gent­lich die Göt­ter an! hole sie der Teu­fel!" – In an­de­ren Fäl­len, na­ment­lich wenn eine halb phy­si­sche, halb mo­ra­li­sche Hy­po­the­se das Ge­müt ver­düs­tert hat­te, wi­der­leg­te er nicht die­se Hy­po­the­se, son­dern ge­stand ein, daß es wohl so sein kön­ne: aber es gebe noch eine zwei­te Hy­po­the­se, um die­sel­be Er­schei­nung zu er­klä­ren; viel­leicht kön­ne es sich auch noch an­ders ver­hal­ten. Die Mehr­heit der Hy­po­the­sen ge­nügt auch in un­se­rer Zeit noch, zum Bei­spiel über die Her­kunft der Ge­wis­sens­bis­se, um je­nen Schat­ten von der See­le zu neh­men, der aus dem Nach­grü­beln über eine ein­zi­ge, al­lein sicht­ba­re und da­durch hun­dert­fach über­schätz­te Hy­po­the­se so leicht ent­steht. – Wer also Trost zu spen­den wünscht, an Un­glück­li­che, Übel­tä­ter, Hy­po­chon­der, Ster­ben­de, möge sich der bei­den be­ru­hi­gen­den Wen­dun­gen Epi­kurs er­in­nern, wel­che auf sehr vie­le Fra­gen sich an­wen­den las­sen. In der ein­fachs­ten Form wür­den sie etwa lau­ten: ers­tens, ge­setzt es ver­hält sich so, so geht es uns nichts an; zwei­tens: es kann so sein, es kann aber auch an­ders sein.

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In der Nacht. – So­bald die Nacht her­ein­bricht, ver­än­dert sich un­se­re Emp­fin­dung über die nächs­ten Din­ge. Da ist der Wind, der wie auf ver­bo­te­nen We­gen um­geht, flüs­ternd, wie et­was su­chend, ver­dros­sen, weil er’s nicht fin­det. Da ist das Lam­pen­licht, mit trü­bem röt­li­chem Schei­ne, er­mü­det bli­ckend, der Nacht un­gern wi­der­stre­bend, ein un­ge­dul­di­ger Skla­ve des wa­chen Men­schen. Da sind die Atem­zü­ge des Schla­fen­den, ihr schau­er­li­cher Takt, zu der eine im­mer wie­der­keh­ren­de Sor­ge die Me­lo­die zu bla­sen scheint, – wir hö­ren sie nicht, aber wenn die Brust des Schla­fen­den sich hebt, so füh­len wir uns ge­schnür­ten Her­zens, und wenn der Atem sinkt und fast ins To­ten­stil­le erstirbt, sa­gen wir uns "ruhe ein we­nig, du ar­mer ge­quäl­ter Geist!" – wir wün­schen al­lem Le­ben­den, weil es so ge­drückt lebt, eine ewi­ge Ruhe; die Nacht über­re­det zum Tode. – Wenn die Men­schen der Son­ne ent­behr­ten und mit Mond­licht und Öl den Kampf ge­gen die Nacht führ­ten, wel­che Phi­lo­so­phie wür­de um sie ih­ren Schlei­er hül­len! Man merkt es ja dem geis­ti­gen und see­li­schen We­sen des Men­schen schon zu sehr an, wie es durch die Hälf­te Dun­kel­heit und Son­nen-Ent­beh­rung, von der das Le­ben um­flort wird, im gan­zen ver­düs­tert ist.

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Wo die Leh­re von der Frei­heit des Wil­lens ent­stan­den ist. – Über dem einen steht die Not­wen­dig­keit in der Ge­stalt sei­ner Lei­den­schaf­ten, über dem an­dern als Ge­wohn­heit zu hö­ren und zu ge­hor­chen, über dem drit­ten als lo­gi­sches Ge­wis­sen, über dem vier­ten als Lau­ne und mut­wil­li­ges Be­ha­gen an Sei­ten­sprün­gen. Von die­sen vie­ren wird aber ge­ra­de da die Frei­heit ih­res Wil­lens ge­sucht, wo je­der von ih­nen am fes­tes­ten ge­bun­den ist: es ist, als ob der Sei­den­wurm die Frei­heit sei­nes wil­lens ge­ra­de im Spin­nen such­te. Wo­her kommt dies? Er­sicht­lich da­her, daß je­der sich dort am meis­ten für frei hält, wo sein Le­bens­ge­fühl am größ­ten ist, also, wie ge­sagt, bald in der Lei­den­schaft, bald in der Pf­licht, bald in der Er­kennt­nis, bald im Mut­wil­len. Das, wo­durch der ein­zel­ne Mensch stark ist, worin er sich be­lebt fühlt, meint er un­will­kür­lich, müs­se auch im­mer das Ele­ment sei­ner Frei­heit sein: er rech­net Ab­hän­gig­keit und Stumpf­sinn, Un­ab­hän­gig­keit und Le­bens­ge­fühl als not­wen­di­ge Paa­re zu­sam­men. – Hier wird eine Er­fah­rung, die der Mensch im ge­sell­schaft­lich-po­li­ti­schen Ge­bie­te ge­macht hat, fälsch­lich auf das al­ler­letz­te me­ta­phy­si­sche Ge­biet über­tra­gen: dort ist der star­ke Mann auch der freie Mann, dort ist le­ben­di­ges Ge­fühl von Freu­de und Leid, Höhe des Hof­fens, Kühn­heit des Be­geh­rens, Mäch­tig­keit des Has­sens das Zu­be­hör der Herr­schen­den und Un­ab­hän­gi­gen, wäh­rend der Un­ter­wor­fe­ne, der Skla­ve, ge­drückt und stumpf lebt. – Die Leh­re von der Frei­heit des Wil­lens ist eine Er­fin­dung herr­schen­der Stän­de.

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Kei­ne neu­en Ket­ten füh­len. – So lan­ge wir nicht füh­len, daß wir ir­gend wo­von ab­hän­gen, hal­ten wir uns für un­ab­hän­gig: ein Fehl­schluß, wel­cher zeigt, wie stolz und herrsch­süch­tig der Mensch ist. Denn er nimmt hier an, daß er un­ter al­len Um­stän­den die Ab­hän­gig­keit, so­bald er sie er­lei­de, mer­ken und er­ken­nen müs­se, un­ter der Voraus­set­zung, daß er in der Un­ab­hän­gig­keit für ge­wöhn­lich lebe und so­fort, wenn er sie aus­nahms­wei­se ver­lie­re, einen Ge­gen­satz der Emp­fin­dung spü­ren wer­de. – Wie aber, wenn das Um­ge­kehr­te wahr wäre: daß er im­mer in viel­fa­cher Ab­hän­gig­keit lebt, sich aber für frei hält, wo er den Druck der Ket­te aus lan­ger Ge­wohn­heit nicht mehr spürt? Nur an den neu­en Ket­ten lei­det er noch: – "Frei­heit des Wil­lens" heißt ei­gent­lich nichts wei­ter, als kei­ne neu­en Ket­ten füh­len.

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Die Frei­heit des Wil­lens und die Iso­la­ti­on der Fak­ta. – Un­se­re ge­wohn­te un­ge­naue Beo­b­ach­tung nimmt eine Grup­pe von Er­schei­nun­gen als eins und nennt sie ein Fak­tum: zwi­schen ihm und ei­nem an­dern Fak­tum denkt sie sich einen lee­ren Raum hin­zu, sie i­so­lier­t je­des Fak­tum. In Wahr­heit aber ist all un­ser Han­deln und Er­ken­nen kei­ne Fol­ge von Fak­ten und lee­ren Zwi­schen­räu­men, son­dern ein be­stän­di­ger Fluß. Nun ist der Glau­be an die Frei­heit des Wil­lens ge­ra­de mit der Vor­stel­lung ei­nes be­stän­di­gen, ein­ar­ti­gen, un­ge­teil­ten, un­teil­ba­ren Flie­ßens un­ver­träg­lich: er setzt vor­aus, daß je­de ein­zel­ne Hand­lung iso­liert und un­teil­bar ist; er ist eine Ato­mis­ti­k im Be­rei­che des Wol­lens und Er­ken­nens. – Gera­de so wie wir Cha­rak­tere un­ge­nau ver­ste­hen, so ma­chen wir es mit den Fak­ten: wir spre­chen von glei­chen Cha­rak­teren, glei­chen Fak­ten: bei­de gibt es nicht. Nun lo­ben und ta­deln wir aber nur un­ter die­ser falschen Voraus­set­zung, daß es glei­che Fak­ta gebe, daß eine ab­ge­stuf­te Ord­nung von Gat­tun­gen der Fak­ten vor­han­den sei, wel­cher eine ab­ge­stuf­te Wer­t­ord­nung ent­spre­che: also wir i­so­lie­ren nicht nur das ein­zel­ne Fak­tum, son­dern auch wie­der­um die Grup­pen von an­geb­lich klei­nen Fak­ten (gute, böse, mit­lei­di­ge, (nei­di­sche Hand­lun­gen usw.) – bei­de Male irr­tüm­lich. – Das Wort und der Be­griff sind der sicht­bars­te Grund, wes­halb wir an die­se Iso­la­ti­on von Hand­lun­gen-Grup­pen glau­ben: mit ih­nen be­zeich­nen wir nicht nur die Din­ge, wir mei­nen ur­sprüng­lich durch sie das Wah­re der­sel­ben zu er­fas­sen. Durch Wor­te und Be­grif­fe wer­den wir jetzt noch fort­wäh­rend ver­führt, die Din­ge uns ein­fa­cher zu den­ken, als sie sind, ge­trennt von­ein­an­der, un­teil­bar, je­des an und für sich sei­end. Es liegt eine phi­lo­so­phi­sche My­tho­lo­gie in der Spra­che ver­steckt, wel­che alle Au­gen­bli­cke wie­der her­aus­bricht, so vor­sich­tig man sonst auch sein mag. Der Glau­be an die Frei­heit des Wil­lens, das heißt der glei­chen Fak­ten und der i­so­lier­ten Fak­ten, – hat in der Spra­che sei­nen be­stän­di­gen Evan­ge­lis­ten und An­walt.

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Die Grun­dirr­tü­mer. – Da­mit der Mensch ir­gend eine see­li­sche Lust oder Un­lust emp­fin­de, muß er von ei­ner die­ser bei­den Il­lu­sio­nen be­herrscht sein: ent­we­der glaubt er an die Gleich­heit ge­wis­ser Fak­ta, ge­wis­ser Emp­fin­dun­gen: dann hat er durch die Ver­glei­chung jet­zi­ger Zu­stän­de mit frü­he­ren und durch Gleich- oder Un­gleich­set­zung der­sel­ben (wie sie bei al­ler Erin­ne­rung statt­fin­det) eine see­li­sche Lust oder Un­lust; o­der er glaubt an die Wil­lens-Frei­heit, etwa wenn er denkt "dies hät­te ich nicht tun müs­sen", "dies hät­te an­ders aus­lau­fen kön­nen", und ge­winnt dar­aus eben­falls Lust oder Un­lust. Ohne die Irr­tü­mer, wel­che bei je­der see­li­schen Lust und Un­lust tä­tig sind, wür­de nie­mals ein Men­schen­tum ent­stan­den sein – des­sen Grun­d­emp­fin­dung ist und bleibt, daß der Mensch der Freie in der Welt der Un­frei­heit sei, der ewi­ge Wun­der­tä­ter, sei es, daß er gut oder böse han­delt, die er­staun­li­che Aus­nah­me, das Über­tier, der Fast-Gott, der Sinn der Schöp­fung, der Nicht­hin­weg­zu­den­ken­de, das Lö­sungs­wort des kos­mi­schen Rät­sels, der große Herr­scher über die Na­tur und Veräch­ter der­sel­ben, das We­sen, das sei­ne Ge­schich­te Welt­ge­schich­te nennt! – Va­ni­tas va­ni­ta­tum ho­mo.

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Zwei­mal sa­gen. – Es ist gut, eine Sa­che so­fort dop­pelt aus­zu­drücken und ihr einen rech­ten und einen lin­ken Fuß zu ge­ben. Auf ei­nem Bein kann die Wahr­heit zwar ste­hen; mit zwei­en aber wird sie ge­hen und her­um­kom­men.

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Der Mensch der Ko­mö­di­ant der Welt. – Es müß­te geis­ti­ge­re Ge­schöp­fe ge­ben, als die Men­schen sind, bloß um den Hu­mor ganz aus­zu­kos­ten, der dar­in liegt, daß der Mensch sich für den Zweck des gan­zen Wel­ten­da­seins an­sieht und die Mensch­heit sich ernst­lich nur mit Aus­sicht auf eine Welt-Mis­si­on zu­frie­den gibt. Hat ein Gott die Welt ge­schaf­fen, so schuf er den Men­schen zum Af­fen Got­tes, als fort­wäh­ren­den An­laß zur Er­hei­te­rung in sei­nen all­zu­lan­gen Ewig­kei­ten. Die Sphä­ren­mu­sik um die Erde her­um wäre dann wohl das Spott­ge­läch­ter al­ler üb­ri­gen Ge­schöp­fe um den Men­schen her­um. Mit dem Schmerz kit­zelt je­ner ge­lang­weil­te Uns­terb­li­che sein Lieb­lings­tier, um an den tra­gisch-stol­zen Ge­bär­den und Aus­le­gun­gen sei­ner Lei­den, über­haupt an der geis­ti­gen Er­find­sam­keit des ei­tels­ten Ge­schöp­fes sei­ne Freu­de zu ha­ben – als Er­fin­der die­ses Er­fin­ders. Denn wer den Men­schen zum Spa­ße er­sann, hat­te mehr Geist als die­ser, und auch mehr Freu­de am Geist. – Selbst hier noch, wo sich un­ser Men­schen­tum ein­mal frei­wil­lig de­mü­ti­gen will, spielt uns die Ei­tel­keit einen Streich, in­dem wir Men­schen we­nigs­tens in die­ser Ei­tel­keit et­was ganz Un­ver­gleich­li­ches und Wun­der­haf­tes sein möch­ten. Un­se­re Ein­zig­keit in der Welt! ach, es ist eine gar zu un­wahr­schein­li­che Sa­che! Die Astro­no­men, de­nen mit­un­ter wirk­lich ein er­dent­rück­ter Ge­sichts­kreis zu­teil wird, ge­ben zu ver­ste­hen, daß der Trop­fen Le­ben in der Welt für den ge­sam­ten Cha­rak­ter des un­ge­heu­ren Ozeans von Wer­den und Ver­ge­hen ohne Be­deu­tung ist: daß un­ge­zähl­te Gestir­ne ähn­li­che Be­din­gun­gen zur Er­zeu­gung des Le­bens ha­ben wie die Erde, sehr vie­le also, – frei­lich kaum eine Hand­voll im Ver­gleich zu den un­end­lich vie­len, wel­che den le­ben­den Aus­schlag nie ge­habt ha­ben oder von ihm längst ge­ne­sen sind: daß das Le­ben auf je­dem die­ser Gestir­ne, ge­mes­sen an der Zeit­dau­er sei­ner Exis­tenz, ein Au­gen­blick, – ein Auf­fla­ckern ge­we­sen ist, mit lan­gen, lan­gen Zeiträu­men hin­ter­drein, – also kei­nes­wegs das Ziel und die letz­te Ab­sicht ih­rer Exis­tenz. Vi­el­leicht bil­det sich die Amei­se im Wal­de eben­so stark ein, daß sie Ziel und Ab­sicht der Exis­tenz des Wal­des ist, wie wir dies tun, wenn wir an den Un­ter­gang der Mensch­heit in un­se­rer Phan­ta­sie fast un­will­kür­lich den Erd­un­ter­gang an­knüp­fen: ja wir sind noch be­schei­den, wenn wir da­bei stehn­blei­ben und zur Lei­chen­fei­er des letz­ten Men­schen nicht eine all­ge­mei­ne Welt- und Göt­ter­däm­me­rung ver­an­stal­ten. Der un­be­fan­gens­te Astro­nom sel­ber kann die Erde ohne Le­ben kaum an­ders emp­fin­den als wie den leuch­ten­den und schwe­ben­den Grab­hü­gel der Mensch­heit.

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Be­schei­den­heit des Men­schen. – Wie we­nig Lust ge­nügt den meis­ten, um das Le­ben gut zu fin­den, wie be­schei­den ist der Mensch!

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Wo­rin Gleich­gül­tig­keit not tut. – Nichts wäre ver­kehr­ter, als ab­war­ten wol­len, was die Wis­sen­schaft über die ers­ten und letz­ten Din­ge ein­mal end­gül­tig fest­stel­len wird, und bis da­hin auf die her­kömm­li­che Wei­se den­ken (und na­ment­lich glau­ben!) – wie dies so oft an­ge­ra­ten wird. Der Trieb, auf die­sem Ge­bie­te durch­aus nur Si­cher­hei­ten ha­ben zu wol­len, ist ein re­li­gi­öser Nachtrieb, nichts Bes­se­res, – eine ver­steck­te und nur schein­bar skep­ti­sche Art des "me­ta­phy­si­schen Be­dürf­nis­ses", mit dem Hin­ter­ge­dan­ken ver­kup­pelt, daß noch lan­ge Zeit kei­ne Aus­sicht auf die­se letz­ten Si­cher­hei­ten vor­han­den und bis da­hin der "Gläu­bi­ge" im Recht ist, sich um das gan­ze Ge­biet nicht zu küm­mern. Wir ha­ben die­se Si­cher­hei­ten um die al­ler­äu­ßers­ten Ho­ri­zon­te gar nicht nö­tig, um ein vol­les und tüch­ti­ges Men­schen­tum zu le­ben: eben­so­we­nig als die Amei­se sie nö­tig hat, um eine gute Amei­se zu sein. Viel­mehr müs­sen wir uns dar­über ins Kla­re brin­gen, wo­her ei­gent­lich jene fa­ta­le Wich­tig­keit kommt, die wir je­nen Din­gen so lan­ge bei­ge­legt ha­ben: und dazu brau­chen wir die His­to­rie der ethi­schen und re­li­gi­ösen Emp­fin­dun­gen. Denn nur un­ter dem Ein­fluß die­ser Emp­fin­dun­gen sind uns jene al­ler­spit­zes­ten Fra­gen der Er­kennt­nis so er­heb­lich und furcht­bar ge­wor­den: man hat in die äu­ßers­ten Be­rei­che, wo­hin noch das geis­ti­ge Auge dringt, ohne in sie ein­zu­drin­gen, sol­che Be­grif­fe wie Schuld und Stra­fe (und zwar ewi­ge Stra­fe!) hin­ein­ver­schleppt: und dies um so un­vor­sich­ti­ger, je dunk­ler die­se Be­rei­che wa­ren. Man hat seit al­ters mit Ver­we­gen­heit dort phan­ta­siert, wo man nichts fest­stel­len konn­te, und sei­ne Nach­kom­men über­re­det, die­se Phan­tasi­en für Ernst und Wahr­heit zu neh­men, zu­letzt mit dem ab­scheu­li­chen Trump­fe: daß Glau­ben mehr wert sei, als Wis­sen. Jetzt nun tut in Hin­sicht auf jene letz­ten Din­ge nicht Wis­sen ge­gen Glau­ben not, son­dern Gleich­gül­tig­keit ge­gen Glau­ben und an­geb­li­ches Wis­sen auf je­nen Ge­bie­ten! – Al­les an­de­re muß uns nä­her­ste­hen als das, was man uns bis­her als das Wich­tigs­te vor­ge­pre­digt hat – ich mei­ne jene Fra­gen: wozu der Mensch? Wel­ches Los hat er nach dem Tode? Wie ver­söhnt er sich mit Gott? und wie die­se Ku­rio­sa lau­ten mö­gen. Eben­so­we­nig wie die­se Fra­gen der Re­li­gi­ösen ge­hen uns die Fra­gen der phi­lo­so­phi­schen Dog­ma­ti­ker an, mö­gen sie nun Idea­lis­ten oder Ma­te­ria­lis­ten oder Rea­lis­ten sein. Sie al­le­samt sind dar­auf aus, uns zu ei­ner Ent­schei­dung auf Ge­bie­ten zu drän­gen, wo we­der Glau­ben noch Wis­sen not tut; selbst für die größ­ten Lieb­ha­ber der Er­kennt­nis ist es nütz­li­cher, wenn um al­les Er­forsch­ba­re und der Ver­nunft Zu­gäng­li­che ein um­ne­bel­ter trü­ge­ri­scher Sumpf­gür­tel sich legt, ein Strei­fen des Un­durch­dring­li­chen, Ewig – Flüs­si­gen und Un­be­stimm­ba­ren. Gera­de durch die Ver­glei­chung mit dem Reich des Dun­kels am Ran­de der Wis­sens-Erde steig­t die hel­le und nahe, nächs­te Welt des Wis­sens stets im Wer­te. – Wir müs­sen wie­der gu­te Nach­barn der nächs­ten Din­ge wer­den und nicht so ver­ächt­lich wie bis­her über sie hin­weg nach Wol­ken und Nach­tun­hol­den hin­bli­cken. In Wäl­dern und Höh­len, in sump­fi­gen Stri­chen und un­ter be­deck­ten Him­meln – da hat der Mensch, als auf den Kul­tur­stu­fen gan­zer Jahr­tau­sen­de, all­zu­lan­ge ge­lebt, und dürf­tig ge­lebt. Dort hat er die Ge­gen­wart und die Nach­bar­schaft und das Le­ben und sich selbst ver­ach­ten ge­lernt – und wir, wir Be­woh­ner der lich­teren Ge­fil­de der Na­tur und des Geis­tes, be­kom­men jetzt noch, durch Erb­schaft, et­was von die­sem Gift der Ver­ach­tung ge­gen das Nächs­te in un­ser Blut mit.

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Tie­fe Er­klä­run­gen. – Wer die Stel­le ei­nes Au­tors "tiefer er­klärt", als sie ge­meint war, hat den Au­tor nicht er­klärt, son­dern ver­dun­kelt. So ste­hen uns­re Me­ta­phy­si­ker zum Tex­te der Na­tur; ja noch schlim­mer. Denn um ihre tie­fen Er­klä­run­gen an­zu­brin­gen, rich­ten sie sich häu­fig den Text erst dar­auf­hin zu: das heißt, sie ver­der­ben ihn. Um ein ku­rio­ses Bei­spiel für Text­ver­derb­nis und Ver­dun­ke­lung des Au­tors zu ge­ben, so mö­gen hier Scho­pen­hau­ers Ge­dan­ken über die Schwan­ger­schaft der Wei­ber ste­hen. Das An­zei­chen des ste­ten Da­seins des Wil­lens zum Le­ben in der Zeit, sagt er, ist der Ko­itus; das An­zei­chen des die­sem Wil­len aufs Neue zu­ge­sell­ten, die Mög­lich­keit der Er­lö­sung of­fen­hal­ten­den Lich­tes der Er­kennt­nis, und zwar im höchs­ten Gra­de der Klar­heit, ist die er­neu­er­te Men­sch­wer­dung des Wil­lens zum Le­ben. Das Zei­chen die­ser ist die Schwan­ger­schaft, wel­che da­her frank und frei, ja stolz ein­her­geht, wäh­rend der Ko­itus sich ver­kriecht wie ein Ver­bre­cher. Er be­haup­tet, daß je­des Weib, wenn beim Ge­ne­ra­ti­ons­akt über­rascht, vor Scham ver­gehn möch­te, aber "ihre Schwan­ger­schaft, ohne eine Spur von Scham, ja mit ei­ner Art Stolz, zur Schau trägt." Vor al­lem läßt sich die­ser Zu­stand nicht so leicht mehr zur Schau tra­gen, als er sich sel­ber zur Schau trägt; in­dem Scho­pen­hau­er aber ge­ra­de nur die Ab­sicht­lich­keit des Zur-Schau-Tra­gens her­vor­hebt, be­rei­tet er sich den Text vor, da­mit die­ser zu der be­reit­ge­hal­te­nen "Er­klä­rung" pas­se. So­dann ist das, was er über die All­ge­mein­heit des zu er­klä­ren­den Phä­no­mens sagt, nicht wahr: er spricht von "je­dem Wei­be"; vie­le, na­ment­lich die jün­ge­ren Frau­en, zei­gen aber in die­sem Zu­stan­de, selbst vor den nächs­ten An­ver­wand­ten, oft eine pein­li­che Ver­schämt­heit; und wenn Wei­ber rei­fe­ren und reifs­ten Al­ters, zu­mal sol­che aus dem nie­de­ren Vol­ke, in der Tat sich auf je­nen Zu­stand et­was zu­gu­te tun soll­ten, so ge­ben sie wohl da­mit zu ver­ste­hen, daß sie noch von ih­ren Män­nern be­gehrt wer­den. Daß bei ih­rem An­blick der Nach­bar und die Nach­ba­rin oder ein vor­über­ge­hen­der Frem­der sagt oder denkt: "soll­te es mög­lich sein –", die­ses Al­mo­sen wird von der weib­li­chen Ei­tel­keit bei geis­ti­gem Tief­stan­de im­mer noch gern an­ge­nom­men. Um­ge­kehrt wür­den, wie aus Scho­pen­hau­ers Sät­zen zu fol­gern wäre, ge­ra­de die klügs­ten und geis­tigs­ten Wei­ber am meis­ten über ih­ren Zu­stand öf­fent­lich frohlo­cken: sie ha­ben ja die meis­te Aus­sicht, ein Wun­der­kind des In­tel­lekts zu ge­bä­ren, in wel­chem "der Wil­le" sich zum all­ge­mei­nen Bes­ten wie­der ein­mal "ver­nei­nen" kann; die dum­men Wei­ber hät­ten da­ge­gen al­len Grund, ihre Schwan­ger­schaft noch scham­haf­ter zu ver­ber­gen als al­les, was sie ver­ber­gen. – Man kann nicht sa­gen, daß die­se Din­ge aus der Wirk­lich­keit ge­nom­men sind. Ge­setzt aber, Scho­pen­hau­er hät­te ganz im all­ge­mei­nen dar­in recht, daß die Wei­ber im Zu­stan­de der Schwan­ger­schaft eine Selbst­ge­fäl­lig­keit mehr zei­gen, als sie sonst zei­gen, so läge doch eine Er­klä­rung nä­her zur Hand als die sei­ni­ge. Man könn­te sich ein Gak­kern der Hen­ne auch vor dem Le­gen des Eies den­ken, des In­hal­tes: Seht! Seht! Ich wer­de ein Ei le­gen! Ich wer­de ein Ei le­gen!

Altersbeschränkung:
18+
Umfang:
5253 S. 6 Illustrationen
ISBN:
9783962815295
Rechteinhaber:
Bookwire
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