Buch lesen: «13 Jahre»

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Friedrich Resch

13 Jahre

Widerstand und Haft im kommunistischen Rumänien


Umschlaggestaltung: Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien

Umschlagabb. Vorder- und Rückseite: Archiv des Autors

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Dieses Werk wurde vom Herausgeber zuerst in zwei Auflagen im Selbstverlag veröffentlicht. Für die vorliegende Ausgabe wurde der Originaltext einem einfachen verlagsseitigen Korrektorat unterzogen sowie vom Herausgeber mit einem Vorwort versehen.

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ISBN 978-3-99081-017-0

eISBN 978-3-99081-040-8

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© Copyright by Ares Verlag, Graz 2019

Layout: Ecotext-Verlag Mag. G. Schneeweiß-Arnoldstein, Wien

Inhalt

Vorwort

Kapitel I: Widerstand

Der Umsturz vom 23. August 1944

Unser Widerstand 1948–1951

Die Deportation in die Bărăgan-Steppe

Der 11. September 1951

Kapitel II: Bei der Securitate

Die Verhaftung

Egon und Jakob

Edis Verhaftung

Miodrag

Gerichtstermin

Andreas Verhaftung

Der Prozess

Haft in Temeschburg

Verlegung nach Bukarest-Jilava

Fort 13 Jilava

Kapitel III: Gherla

Der schwere Kerker von Gherla

Zwangsarbeit in der Fabrik

„Reeducare“

Otto – Nae Marinescu

„Sabotage“

Stalins Tod

Kapitel IV: Cavnic und Baia Sprie

Die Bleimine von Cavnic

Erste Einfahrt

Egons Tod

Weihnachtsfeier

Flugblatt

1. Mai

Unfall

Liberalisierung

Die Bleimine von Baia Sprie

Unfälle

Das Jahr 1956

Der Tod des Nea Ion

Streik

Sport

Unglück

Ende in Baia Sprie

Kapitel V: Gherla – Zarca

Wieder in Gherla

Ungarnaufstand

Wieder in der Fabrik

Verschärfte Haft

In der Zarca

Neue Zellengenossen

Rebellion

Verlegung

Kapitel VI: Periprava

Periprava-Grind

Erste Arbeitswochen – Landwirtschaft

Siebenbürger Kameraden

Meliorationsarbeiten 1961

Die „Intelbrig“

Die „Chambord“

Bauarbeiten

Meliorationsarbeiten, Dezember 1962

Schafbad

Periprava-Zentrum

Inspektion

Wieder in Grind

Ende in Grind

Die Kommission

Die Entlassung

25. 06. 1964 – Heimkehr

Die Beschattung

Vorwort

„Am 10. Mai 1944 beteiligte sich auch unsere Schule an den Veranstaltungen anlässlich des Unabhängigkeitstages, des damals wichtigsten Nationalfeiertages in Rumänien. Unter den Klängen einer Militärkapelle defilierten am Opernplatz zuerst verschiedene Einheiten der Armee, der Gendarmerie und der Feuerwehr vor einer Ehrentribüne, auf welcher Persönlichkeiten Temeschburgs und Vertreter der Deutschen Wehrmacht platzgenommen hatten. Es folgten Abordnungen der Technischen Hochschule und zuletzt der Gymnasien. Unsere Schule, die ‚Banatia‘, war mit etwa 300 Schülern vertreten, darunter als einer der Jüngsten auch ich. Wir hatten als einzige Lehranstalt unseren eigenen Musikzug. Im tadellosen Stechschritt zogen wir unter den Klängen von ‚Preußens Gloria‘, in Temeschburg ‚Banatia-Marsch‘ genannt, an der Ehrentribüne entlang. Unser Auftritt in den schmucken DJ-Uniformen und unser Musikzug wurden anschließen von den Veranstaltern in den höchsten Tönen gelobt. Ich bin in den Folgetagen mehrmals im Kino gewesen, um mich an unserem im Rahmen der Wochenschau gezeigten Marsch zu erfreuen. Bis heute bin ich stolz darauf, damals dabei gewesen zu sein.“

Diese in einer ersten Fassung der Memoiren enthaltene Episode veranschaulicht sehr treffend die Weltanschauung des Autors. Sie prägte ihn seit seiner frühesten Jugend, sie veranlasste ihn, zu handeln wie er handelte, sie half ihm, die schweren Folgen dieses Handelns zu ertragen, ohne zu zerbrechen, und ließ ihn – in abgemilderter Form – bis ins hohe Alter nicht mehr los.

Der Autor Friedrich Eugen Resch, mein Vater, wurde am 11. 05. 1930 in Temeschburg (rumänisch: Timişoara, ungarisch: Temesvár) geboren.

Temeschburg war, obwohl als Folge des Ersten Weltkrieges zum rumänischen Königreich gehörend, eine stark von ihrer vormaligen Zugehörigkeit zur österreich-ungarischen Doppelmonarchie geprägte Stadt. Die Verwaltung war zwischenzeitlich zwar schrittweise romanisiert worden, in Handel und Gewerbe sowie im gesamten gesellschaftlichen Leben war die deutsche Minderheit jedoch noch stark vertreten.

Die politischen Entwicklungen der Dreißigerjahre in Deutschland gingen auch an den Rumäniendeutschen nicht spurlos vorüber. Das neue Selbstvertrauen nach dem enttäuschenden Ausgang des Ersten Weltkrieges, das Gefühl, Teil eines großen, die Geschichte mitbestimmenden Volkes zu sein, es war auch bei den Banater Schwaben und den Siebenbürger Sachsen vorhanden. Und, wie häufig, bei den im „kulturellen Grenzgebiet“ lebenden Deutschen teilweise ausgeprägter als bei den „Reichsdeutschen“. Die nationale Begeisterung verstärkte sich zwangsläufig mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, zumal Rumänien ab 1941 als Verbündeter an der Seite des Deutschen Reiches im Kampf gegen die Sowjetunion stand. Zehntausende junge Rumäniendeutsche meldeten sich zum Dienst im deutschen Heer und wurden überwiegend im Rahmen der Waffen-SS-Verbände eingesetzt. Die jüngere Generation, zu welcher mein Vater gehörte, wurde in deutschen Schulen wie der „Banatia“ in Temeschburg ideologisch und praktisch, etwa im Rahmen vormilitärischer Ausbildung, auf diesen Einsatz vorbereitet.

Mit der Niederlage der Wehrmacht, die – für viele völlig überraschend – in Rumänien bereits Ende 1944 erfolgte, brach für die jungen Deutschen in Rumänien eine Welt zusammen. Von einem Tag auf den anderen wurden sie, die Angehörigen einer vormals respektvoll behandelten nationalen Minderheit, zu den Parias des Landes. Als wohlhabende Bauern in den Banater Dörfern sowie in den Städten, also überwiegend dem Bürgertum angehörend, wurden sie zusätzlich zur Zielscheibe der neuen kommunistischen Machthaber, die eine Gesellschaftsordnung nach sowjetischem Vorbild – und mit den gleichen Methoden – durchzusetzen begannen.

Es folgten die Verschleppungen Zehntausender zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, die Enteignungen und die Zwangsumsiedlungen innerhalb des Landes (Bărăgan-Deportation).

Während die meisten deutschen Erwachsenen sich zähneknirschend in ihr Schicksal fügten, wagten einige Jugendliche den aktiven Widerstand. Unter ihnen auch mein Vater. Triebfeder für ihr Handeln war in den letzten Monaten des noch tobenden Krieges ihre gefestigte Weltsicht und später, nach der Kapitulation des Reiches, die irrige Annahme, dass sich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhanges Verbündete im weitesten Sinne an der Macht befänden, die – als natürliche Feinde eines kommunistischen Terrorregimes – nicht tatenlos die Knechtung aller osteuropäischen Völker mit ansehen würden. Dieser Eindruck wurde durch die westliche Propaganda, die mit Beginn des „Kalten Krieges“ einsetzte, auch kräftig geschürt. Ein weiterer großer militärischer Konflikt in naher Zukunft schien unausweichlich.

Auch viele Rumänen, die im Zuge des ihnen nunmehr zugemuteten großen sozialpolitischen Experimentes schwersten Repressionen ausgesetzt waren, ließen sich von den Lippenbekenntnissen westlicher Staatführer täuschen und formierten sich zum Widerstand. Wie man heute weiß und wie die traurigen Beispiele der niedergeschlagenen Aufstände in Ostberlin, in Budapest und später in Prag belegten, war ein entschlossenes Eingreifen des Westens jedoch nie angedacht und militärisch auch gar nicht möglich.

Die zwangsläufige Folge für jene, die sich im kommunistischen Machtbereich zum aktiven Widerstand entschlossen hatten, war ihre schrittweise Zerschlagung und für die meisten der Beginn einer ungeheuerlichen Leidenszeit in dem für ausnahmslos alle kommunistischen Staaten typischen und von Alexander Solschenizyn so eindrucksvoll geschilderten Gulag-Archipel.

Der überwiegende Teil des Buches handelt von den Erfahrungen des Autors und seiner Kameraden in den annähernd dreizehn Jahren im kommunistischen Gefängnis- und Lagersystem.

Auch nach der Entlassung im Jahre 1964 ging die faktische Gefangenschaft weiter, denn ein legales Verlassen der „Sozialistischen Republik Rumänien“ war nicht oder nur sehr schwer möglich. Es glückte unserer Familie erst zweiundzwanzig Jahre später nach entsprechender Einflussnahme aus der Bundesrepublik und den USA.

In der Zwischenzeit hieß es, den real existierenden Sozialismus mit all seiner Heuchelei und seinen leeren Versprechungen zu ertragen und – soweit möglich – gute Miene zum bösen Spiel zu machen. In dieser Welt der alltäglichen Lüge, in welcher man bereits als Grundschüler verinnerlichte, dass das, was daheim gesprochen wurde, nicht außerhalb des Hauses gesagt werden durfte, bin auch ich aufgewachsen.

Mein Vater hat sich nach seiner Gefängniszeit bemüht, die nunmehr geltenden Regeln einzuhalten und sich insbesondere mit kritischen Äußerungen zurückzuhalten. Dies gelang ihm nur teilweise und entsprechend misstrauisch blieben ihm gegenüber auch die Vertreter des Regimes eingestellt, waren sie sich doch bewusst, dass sie mit all den durchgeführten Terrormaßnahmen die Menschen zwar einschüchtern und oft genug auch zerbrechen, aber niemals wirklich umerziehen konnten.

Um sich auf sinnvolle Art und Weise vom tristen Alltag abzulenken, widmete sich mein Vater schon kurz nach seiner Entlassung dem Hobby der Archäologie, einer Leidenschaft, die ihn zeitlebens nicht mehr losließ und seinem Wissensdurst und seiner ungebrochenen Abenteuerlust bestens entsprach. Auch nach der Ausreise in die Bundesrepublik im Jahre 1986 blieb er der Vorgeschichte treu und nahm in der Gegend von Freiburg im Breisgau, dem neuen Wohnort der Familie, jahrelang an archäologischen Ausgrabungen teil. Hier konnte er sich aber auch endlich anderen Epochen wie etwa der neueren deutschen Geschichte widmen und tat dies intensiv. Mit der Aufzeichnung seiner Memoiren begann er erst nach dem für uns alle überraschenden Zusammenbruch des „Ostblocks“.

Manfred Resch

Vaihingen/Enz, im November 2018

Kapitel I: Widerstand
Der Umsturz vom 23. August 1944

Wegen der steigenden Gefahr angloamerikanischer Luftangriffe auf meine Heimatstadt Temeschburg fuhr ich im Sommer 1944 viel früher als sonst zur „Sommerfrische“ nach Ferdinandsberg zu meiner Tante Nelly, der jüngeren Schwester meines Vaters, und ihrem Mann, Peter Barth, von Beruf Apotheker und ein schon damals bekannter Lyriker. Der Ort Ferdinandsberg liegt im Ostbanater Bergland und zählte nahezu 5000 Einwohner, davon mehr als 2000 Deutsche. Das dortige Hüttenwerk war zu jener Zeit als kriegswichtiges Rüstungsunternehmen eingestuft. Ihm stand ein reichsdeutscher Chefingenieur vor.

Dass die Vorsichtsmaßnahme meiner Eltern nicht unbegründet war, zeigte sich dann in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni, als der erste Luftangriff, ein britischer Nachtangriff, auf Temeschburg erfolgte. Dies erfuhren wir in Ferdinandsberg telefonisch von meinem Vater. Zwei Wochen später folgte dann ein amerikanischer Tagangriff. Obwohl das Stadtzentrum kaum betroffen war, forderte dieser zweite Angriff zahlreiche Menschenopfer. Die Bomben fielen fast ausschließlich auf die Josefsstadt, in den Bereich zwischen Hauptbahnhof und Notre-Dame-Klosterschule. Unabhängig von diesen Luftangriffen fühlten wir uns zu dieser Zeit noch relativ sicher im Banat, befand sich die Front doch noch Hunderte von Kilometern weit weg. Dann aber sollten sich plötzlich die Ereignisse überstürzen.

Am 21. August nachmittags landete ein Fieseler Storch der deutschen Luftwaffe auf dem „Gai“, einer ebenen Geländeterrasse bei Ferdinandsberg. Der Pilot blieb die Nacht über beim Flugzeug, während sein Begleiter, ein deutscher Offizier, zum Werk eilte. Am nächsten Morgen kam der Offizier in Begleitung des Chefingenieurs vom Werk. Das Flugzeug startete umgehend und flog nach Westen, vermutlich nach Temeschburg. Über die mögliche Ursache dieser plötzlichen Abreise des Chefingenieurs machte sich kaum jemand Gedanken. Doch sollten wir den Grund bald erfahren.

Am 24. August, früh am Morgen, also 48 Stunden, nachdem der Chefingenieur vom Werk abgeholt worden war, „platzte die Bombe“: In Bukarest hatte am 23. August ein Staatsstreich unter der Führung des Königs, Vertretern der bürgerlichen Parteien und der Kommunisten, die eilends quasi über Nacht aus der Illegalität geholt worden waren, stattgefunden. Marschall Antonescu, der Regierungschef, war verhaftet und die Regierung abgesetzt worden. Eine Schlüsselrolle bei diesem Staatsstreich spielten angeblich der spätere Minister Emil Bodnăraş wie auch andere aus der Sowjetunion eingeschleuste Kommunisten. General Sănătescu, der neu ernannte Regierungschef, erteilte als erstes allen Truppen den Befehl, die Kampfhandlungen gegen die Sowjets sofort einzustellen, obwohl es zwischen Rumänien und der Sowjetunion noch keinen offiziellen Waffenstillstand gab. Als Folge davon nahmen die Sowjets weiterhin rumänische Soldaten gefangen, insgesamt sollen es über 130.000 gewesen sein. Der Waffenstillstand wurde erst zwölf Tage später von den Sowjets unterschrieben.

Erstaunlich und für uns unverständlich war das Versagen des deutschen Botschafters in Bukarest, des Barons Manfred von Killinger, der anscheinend von keinem der in Rumänien tätigen deutschen Geheimdienste informiert worden war. Und dies, obwohl die geplanten Umsturzvorbereitungen, wie man später erfuhr, durchaus vielen bekannt gewesen waren. Das oben erwähnte, blitzartige Absetzen des Chefingenieurs aus Ferdinandsberg war nur eine von etlichen Aktionen, die darauf hinwiesen, dass viele Leute etwas wussten oder zumindest ahnten. Möglicherweise war selbst die damals noch unter der Führung des Admirals Canaris stehende „Abwehr“ informiert, aber nicht gewillt, der obersten deutschen Führung Gegenmaßnahmen zu ermöglichen.

Was uns erst einmal beunruhigte, war die schon am 24. August durchgesickerte Nachricht, dass Funktionäre der deutschen Volksgruppe – auch in unteren Positionen wie zum Beispiel Ortsgruppenführer – festgenommen und interniert worden waren. Exponierten Personen aus Industrie und Handel wie auch vielen deutschen Intellektuellen erging es nicht anders. Personen mit reichsdeutschem Pass, aber auch mit anderen ausländischen Pässen, deren Staaten mit dem Reich verbündet waren, wurden in den nächsten Tagen ausnahmslos interniert. Der Staatsstreich und die einsetzenden Repressalien überraschten und verunsicherten natürlich die gesamte Volksgruppe. Unsere Familie war von den erwähnten Willkürakten vorerst noch nicht betroffen; was wir aber aus dem Bekanntenkreis mitbekamen, gab ausreichend Grund, um höchst besorgt zu sein. Interessanterweise dachten nur wenige an eine Flucht vor der anrückenden Sowjetarmee, vielleicht in der naiven Hoffnung, dass die deutschen Truppen doch noch zurückkehren würden. Eine organisierte Evakuierung aller Volksdeutschen kam sowieso nicht infrage, dazu war die Front der Heeresgruppe Süd infolge des Abfalls Rumäniens viel zu schnell zusammengebrochen.

Dann kamen die Sowjets in unsere Stadt. Auf den Straßen herrschte Gesetzlosigkeit, und die brutalen Übergriffe marodierender Soldateska waren an der Tagesordnung. Parallel dazu wurde von der rumänischen Übergangsregierung auch ganz offiziell gegen die verbliebenen Volksdeutschen vorgegangen. Es gab Hausdurchsuchungen und willkürliche Beschlagnahmungen. Fahrräder, Motorräder, Kraftwagen, Radios, Telefongeräte und selbst Nähmaschinen mussten von allen Deutschen per Verordnung an die Behörden abgegeben werden.

Beispielhaft sei der Fall des Juweliers Rieger, eines Bekannten unserer Familie, erwähnt. Die Riegers bewohnten eine der schönsten und repräsentativsten Villen der Stadt in unmittelbarer Nachbarschaft des früheren deutschen Konsulatsgebäudes. Beim Einmarsch der Sowjets wurde die Villa beschlagnahmt und dort die örtliche Kommandantur eingerichtet. Die Eigentümer wurden vorerst in den Keller verbannt, von wo sie allerdings wegen der untragbaren Zustände im Haus schon bald freiwillig ganz auszogen.

Als sie nach circa 20 Monaten wieder zurück durften, hatte auch ich Gelegenheit, mir das Gebäude von innen anzusehen. Als wir das Haus erreichten und den ersten Blick ins Treppenhaus werfen konnten, war ich schon geschockt. Die Villa, bis vor zwei Jahren eine der schönsten der Stadt, mit viel Geschmack erbaut und eingerichtet, war nicht mehr wiederzuerkennen. Die Eingangstür hing in den Angeln, in der Eingangshalle mit Treppenaufgang zum Obergeschoss konnte man vor Trümmern und Unrat den Mosaikfußboden nicht mehr sehen. Alle Wände und die mit Stuck verzierten Decken waren von Einschusslöchern übersät. Bis in Kopfhöhe waren überall Blutspritzer zu sehen, und dazu prangten von den Wänden verschiedene Losungen der „Sowjet-Helden“. Die Marmortreppen waren zwar an ihren Trittflächen als solche erkennbar, da von unzähligen Stiefeln blankgescheuert, dafür waren die Stufen an ihren senkrechten Flächen dunkel besudelt. Herr Rieger erklärte uns, dass es sich um das Blut russischer Soldaten handelte, und erzählte uns seine Erlebnisse aus der Zeit, als er mit seiner Familie noch im Keller der Villa wohnte. Je weiter die Front nach Westen rückte und Temeschburg zur Etappe wurde, umso häufiger gab es Sauforgien, die regelmäßig mit wüsten Schlägereien und teilweise Schießereien der Russen untereinander endeten. Übrigens wurden in der gleichen Zeit dort und ebenso in den beiden benachbarten Villen gefangene Zivilisten, die der Agententätigkeit verdächtigt wurden, festgehalten, verhört und gefoltert. Mit der Zeit wurden die nächtlichen Sauforgien immer schlimmer. Es kam zu Schießereien im Haus, die sich anhörten, als wären Straßenkämpfe ausgebrochen. Sie endeten oft mit Verletzten und sogar toten „Tscholowecki“. Herr Rieger musste einmal mit ansehen, wie man zwei offensichtlich tote Russen an ihren Füßen die Treppe herunterschleifte. Bei jeder Stufe schlugen die Köpfe der Toten dumpf auf den Marmor. Ihr Blut, das dabei die Treppen besudelte, konnten auch wir noch sehen. Der geflügelte Satz aus der Zarenzeit „Nitschewo, jest mnogo Tscholowecki!“ („Macht nichts, es gibt genug Menschen!“) hatte in Russland offensichtlich systemübergreifend Gültigkeit.

Auch die Räume in der oberen Etage des Hauses waren in einem unbeschreiblichen Zustand. Das Parkett war überall herausgerissen und in den Öfen verheizt worden. Anfangs in den Kachelöfen, die im Haus in allen Räumen gestanden hatten, und später, als dann die Öfen mit der Zeit zertrümmert waren, in zum Teil aus leeren Benzinfässern gefertigten sogenannten Trommelöfen. Vom ehemaligen Mobiliar des Hauses standen noch einige Stücke, allerdings fast alle schwer beschädigt. Zum Beispiel erinnere ich mich noch an einen sehr großen mit Intarsien verzierten Schrank, welcher nur noch einen Türflügel hatte. Die Reste des zweiten Flügels lagen zum Teil verbrannt neben einer offenen Feuerstelle mitten im ehemaligen Speisezimmer. Tapetenreste hingen in Fetzen von den Wänden, Dekor-Elemente und Teile von Stuckverzierungen an den Zimmerdecken hatten als Zielscheiben gedient, wie an den gruppierten Einschusslöchern zu erkennen war. Obwohl keines der Fenster unbeschädigt war und viele Scheiben fehlten, stank es im ganzen Haus nach den menschlichen Exkrementen, die man an verschiedenen Stellen im Haus sehen konnte. Aber der absolute Tiefpunkt, das Badezimmer, stand uns noch bevor. Nachdem in diesem die Klosettschale zu Bruch gegangen war, hatte man offensichtlich die Badewanne als Ersatz benutzt, bis sie voll war. Und zwar hatte man zwei Bretter über die Wanne gelegt und als Sitz einen Stuhl, dessen Polster herausgeschnitten war, darübergestellt. Es war eine überzeugende Leistung. Übrigens ließ Herr Rieger das Haus in Ordnung bringen, was fast ein Jahr dauerte und eine Menge Geld kostete, um anschließend gleich wieder, diesmal von den rumänischen Behörden, enteignet zu werden. Das Haus diente ab dann für kurze Zeit als Heim der UTC (Kommunistischer Jugendverband) und wurde ab 1948 einem Gebäudekomplex eingegliedert, der das Hauptquartier der berüchtigten Securitate, der neuen Geheimpolizei, beherbergen sollte.

Wegen der völlig chaotischen Zustände in der Stadt waren alle in unserem Hause froh, als bekannt wurde, dass ein sowjetischer Oberst in der Wohnung meiner Großmutter einquartiert werde. Einen solchen Mann im Hause zu haben konnte in Zeiten, in denen man nicht einmal in den eigenen vier Wänden sicher war, eine „Lebensversicherung“ darstellen. Der Genosse Oberst Nikolaus Ribarsky sprach fließend Deutsch, war etwa 50 Jahre alt, von Beruf Ingenieur und damals mit dem Nachschub an Lebensmitteln für die Rote Armee beauftragt. Mit ihm waren wir im Haus im besten Sinne des Wortes gut versorgt. Bereits am Tor wies ein Zettel darauf hin, dass im Haus ein sowjetischer Offizier wohnt. Im Gespräch mit meinem Vater erzählte er, dass er schon zur Zeit des Ersten Weltkrieges Leutnant in der Garde des Zaren war. Er habe nach dem Ausbruch der Revolution in den Reihen der Gegenrevolutionäre gekämpft. Nach dem Zusammenbruch der Gegenrevolution sei er emigriert und seither in Rumänien gewesen, wo er studiert und gearbeitet habe. Nach der Ankunft der Roten Armee habe man ihm angeboten, in die sowjetischen Streitkräfte einzutreten, und zwar als Offizier. Er war einverstanden, bekam den Grad eines Obersten (!) und wurde mit Nachschubaufgaben betraut.

Meinem Vater schien die Geschichte allerdings nicht sehr glaubwürdig. Es war seines Erachtens höchst unwahrscheinlich, dass die Sowjets einem Emigranten Vertrauen schenkten, ihm die „Sünden“ seiner konterrevolutionären Vergangenheit verziehen und ihn innerhalb kürzester Frist auch noch die Karriereleiter hochsteigen ließen. Täglich konnte man hören, dass Leute mit vergleichbarer Biografie, oft ganze Familien, die zum Beispiel aus Bessarabien stammten, von den Sowjets ausgehoben und verschleppt wurden. Diese Leute wurden nur deswegen deportiert, weil sie im Verständnis der Sowjets als Deserteure und Verräter galten, auch wenn man ihnen nichts anderes vorwerfen konnte, als dass sie nicht unter sowjetischer Herrschaft hatten leben wollen.

Daher konnte und wollte mein Vater die Erklärungen des Obersten nicht glauben und meinte sogar, dass Ribarsky möglicherweise in Rumänien für die Sowjets spioniert habe. Das war aber vorerst alles zweitrangig. Entscheidend war, dass wir uns, solange er bei uns wohnte, in Sicherheit wussten. Tatsächlich wurden wir in den Monaten seiner Anwesenheit nicht ein einziges Mal von randalierenden Soldaten behelligt. Dafür mussten wir ihm dankbar sein. Er verließ uns etwa im Februar 1945. Beim Abschied meinte er, jetzt gehe er bald nach Österreich und nach dem Sieg über Deutschland nach Hause, also nach Russland.

Erst zehn Jahre später, als ich als Häftling in den Bleiminen von Cavnic war, sollte ich ganz überraschend wieder von Ribarsky hören. Und zwar bekam ich damals als Gehilfen einen jungen Sachsen, Michael Schobel, zugeteilt, der aus Mediasch in Siebenbürgen stammte. Als ich ihm über die Ankunft der Russen im Herbst 1944 erzählte und dabei auch Oberst Ribarsky erwähnte, sagte Misch sofort, dass auch er diesen kenne. Zu meiner Überraschung erzählte er mir, dass Ribarsky im Sommer 1944 einige Monate bei ihnen im Haus gewohnt habe. Er leitete als angestellter Ingenieur einer Baufirma den Bau einer Straße und mehrerer Brücken in der Umgebung von Mediasch. Auch Mischs Vater gegenüber erzählte er, dass er vor den Bolschewiken aus Russland geflohen sei. Bei seiner Firma galt er als Rumäne und war offensichtlich als Ingenieur sehr gut angesehen. Nach dem Umsturz vom 23. August verschwand er aber ganz plötzlich. Dabei ließ er einen Teil seines Gepäcks bei der Familie Schobel. Erst etwa einen Monat später tauchte er wieder auf, trug zur Verblüffung der Familie die Uniform eines russischen Obersten und war in Begleitung weiterer Offiziere. Die Gruppe fuhr in einem Jeep bei ihnen vor. Er begrüßte die Familie sehr herzlich und bedankte sich für das Aufbewahren seiner Habe, überreichte einige Lebensmittel als Geschenk und fuhr ab.

Mischs Vater meinte nachher, er sei überzeugt, dass Ribarsky wahrscheinlich über Jahre hinweg Agent des sowjetischen Spionagedienstes in Rumänien gewesen sei. Dabei dürfte sich seine leitende Stellung beim Straßen- und Brückenbau hervorragend zur Beschaffung von Informationen über die Verkehrswege geeignet haben. Der hohe Dienstgrad in der Roten Armee deutete ebenfalls darauf hin, dass er schon lange im Nachrichtendienst arbeitete. Möglicherweise wurde er schon Anfang der Zwanzigerjahre mit Aufträgen nach Rumänien geschickt, wo er sich getarnt als Emigrant ohne Schwierigkeiten hocharbeiten konnte. Sicher dürfte aber gewesen sein, dass in den Archiven des NKWD ein dickes Aktenbündel unter seinem Namen stand. Schließlich hatte er sich lange Jahre außerhalb der Sowjetunion aufgehalten und konnte so von der kapitalistischen Welt „kontaminiert“ worden sein.

Trotz der unsicheren und aussichtslos scheinenden Lage fanden sich viele aus dem Umfeld der Volksgruppe, die nicht gewillt waren, widerstandslos aufzugeben. So erfuhren wir zum Beispiel eines Morgens, dass in der Nacht zuvor einer größeren Gruppe gefangener deutscher Soldaten, fast alles Leichtverwundete, die Flucht gelungen war. Die Männer waren in der Fabrikstadt in einer Schule festgehalten worden. Ermöglicht wurde dieser Ausbruch durch den beherzten Einsatz einer organisierten Gruppe von Volksdeutschen. Zu ihnen gehörte etwa das Ehepaar Sticker oder die Ordensschwester Dr. Hildegardis Wulf. Sie besorgten schon seit dem Umsturz Lebensmittel und Zivilkleidung für geflohene und versprengte Soldaten, die nach Deutschland wollten, und unterstützten auch untergetauchte Volksdeutsche. Andere leisteten Hilfsdienste im Rahmen eines in Rumänien funktionierenden deutschen Nachrichtendienstes, wobei es im Wesentlichen um Beschaffung von Informationen, aber auch um die Organisierung eines neuen Umsturzes, diesmal gegen die Sowjets, ging. In diesem Netzwerk wirkte Frau Katharina Mildt, die Mutter meines besten Freundes Harry, ebenso mit wie Anton Brössner, der Vater meines Freundes Dietmar. Dietmars Onkel Wilhelm Brössner leitete die Gruppe. Im Jahre 1952 wurden alle im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten verurteilt, Frau Mildt etwa erhielt eine Haftstrafe von zwei Jahren. Die Anklage lautete in ihrem Fall auf unterlassene Anzeige (nedenunţare) einer laut Securitate staatsfeindlichen Organisation. Frau Mildt verbrachte ihre Haft in Temeschburg und in der berüchtigten Haftanstalt für Frauen Mislea, von wo sie 1954 schwer krank entlassen wurde.

Je weiter die Front nach Westen rückte, umso einschneidender wurden die gegen die Deutschen eingeleiteten Maßnahmen. Die neuen linken Medien überboten sich in ihrer Hetze gegen alles, was deutsch war. Aber auch die nationalistische rumänische Presse hatte für uns nur Schmähungen und Hetztiraden übrig. Ende Oktober verbreitete sich dann ein Gerücht, welches Anlass zu besonderer Sorge gab. Es hieß, die Behörden würden Listen mit allen Volksdeutschen für deren Deportation in die Sowjetunion erstellen. Der letzte diesbezügliche „Warnschuss“ erfolgte für uns im Dezember, als im Nachbarland Ungarn die Deportation der dortigen Deutschen nach Russland begann. Die Aushebung der Volksdeutschen aus Rumänien begann dann im Sathmarer Gebiet, also in Nordsiebenbürgen, am 2. Januar 1945 und im Banat ab dem 14. Januar, einem Sonnabend. Überall tauchten Gruppen von rumänischen und sowjetischen Soldaten mit je einem Polizisten oder einem Zivilbegleiter auf. Das Ausheben erfolgte anhand von Listen mit Namen und Adressen. Es handelte sich laut Forderungen des sowjetischen Oberkommandos um Männer im Alter zwischen 16 und 45 Jahren und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren. Ausgenommen waren Mütter mit Kindern unter einem Jahr. Gegen diese Grundsatzregel wurde freilich oft genug verstoßen.

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