Wohin die Flüsse fliessen

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Frederik Hetmann

WOHIN DIE FLÜSSE FLIESSEN

Geschichten aus der Neuen Welt von St.Louis bis San Francisco

Mit Bildern von Günther Stiller

FUEGO



- Über dieses Buch -

Das große Thema des amerikanischen Westens ist die Begegnung des Menschen mit einer ebenso grandiosen wie übermächtigen Natur und das aufeinander prallen zweier Kulturen: der naturverbundenden, magischen Welt der Indiander mit der durch Eroberungsdrang und missionarisches Sendungsbewusstsein geprägten Zivilisation der Weißen.

Frederik Hetmann erschließt mit dieser neuen, in sich vollständigen Geschichtensammlung, die inhaltlich an das Buch »Wohin der Wind weht« anknüft, ein weiteres unbekanntes Gebiet auf der Landkarte der Phantasie.

In Augenzeugenberichten, Lebensläufen, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen erzählt er von den ersten Europäern, die durch die Prärien, Wüsten und Felsengebirge nach Westen zogen, Leiden und Strapazen von Glücksrittern, Trappern, Scouts und Siedlern. Im Kontrast dazu stehen die seelenvollen Mythen, Märchen, Sagen und Lieder der Indianderstämme zwischen Missouri und Rio Grande, die der Autor in diesem Buch zusammengetragen hat. So entfaltet sich hier ein prächtiges Mosaik lebendigen Erzählgutes neben Geschichten und Liedern voller Empfindsamkeit und zeitloser Schönheit aus der amerikanischen Pionierzeit mit eindrucksvollen Grafiken von Günther Stiller.

Der vorangegangende Band mit dem Titel »Wohin der Wind weht« enthält die Folklore des Ostens uns Südens der USA: Lieder, Märchen, Legenden und Sagen, wie man sie zwischen Boston und New Orleans sang und erzählte; Hexen- und Teufelsgeschichten der Puritaner, Berichte und Familienfehden, Protestgeschichten und biblische Stoffe der Schwarzen in Amerika. Frederik Hetmann fügt das packende und handfeste Erzählgut der Pionierzeit hier zu einem lebendigen Hausbuch zusammen, das für jugendliche und erwachsene Leser interessant ist: eine poetische Collage der USA, eindrucksvoll illustriert von dem vielfach ausgezeichneten Buchgrafiker Günther Stiller.

In einer Höhle in einem engen Canyon nahe Tessajara

ist die Felskammer mit Händen bemalt,

eine Vielzahl von Händen im Zwielicht, eine Wolke

menschlicher Handflächen,

nichts mehr,

kein anderes Bild. Und keiner, der uns sagt,

ob die braunen, scheuen, stillen Menschen, die tot sind,

damit Religion oder Magie bezweckten

oder absichtslose Hervorbringungen von Kunst; aber

über den Abstand der Zeit hin

sind diese sorgfältig

gezeichneten Hände wie eine versiegelte Botschaft,

die besagt: Seht, wir waren auch

menschliche Wesen, wir hatten Hände, nicht

Pfoten. Glück auf den Weg,

ihr Volk mit geschickteren Händen,

ihr, die ihr uns ablöst in diesem Land,

erfreut euch seiner Jahreszeiten, seiner Schönheit,

bis ihr selbst abgelöst werdet durch andere,

denn ihr seid menschlich.

Robinson Jeffers

Für David con un abrazo


Gebt mir Stille, Wasser, Hoffnung,

Gebt mir Kampf, Eisen, Vulkane ...

Pablo Neruda

Buffalo Bill ist hin

der zu reiten pflegte

auf einem wasserglatt-silbernen Hengst

und runterholte einzweidreivierfünf Taubenebenmalso

Herrje

wie gefällt dir dein blauäugiger Knabe, Mister Tod.

E. E. Cummings

Die Kaninchen sind hier so groß wie Hasen und haben die Ohren eines Esels, die Frösche haben den Körper einer Kröte und den Schwanz einer Eidechse. Die Bäume fallen bergauf, und der Blitz zuckt aus dem Erdboden hervor.

Socrates Hyacinth

Stimme oben,

Stimme des Donners,

spricht aus dem Dunkel

der Wolke;

Stimme unten,

Grashüpfers Stimme,

spricht von dem

Grün der Pflanzen.

So möge die Erde

schön sein für euch.

Scott Momaday

Lasst sehen, ist dies wirklich,

Lasst sehen, ist dies wirklich,

Lasst sehen, ist dies wirklich,

ist dieses Leben wirklich,

das ich lebe?

Ihr Götter, die ihr überall wohnt,

Lasst sehen, ist all dies wirklich.

Lied der Pawnee, Überprüfung einer Vision

Ein Buch zu zeigen, dass es einen anderen Westen gibt. Einen Westen, der anderes war als nur Spielwiese menschlicher Aggressionen, Platz für Ellbogenfreiheit, einen Westen, der anderes war als Kulisse für Männer überlebensgroß, schießwütig, blauäugig.

Ich will gern zugeben, dass ich selbst lange Zeit von dem Mythos, dessen Strahlkraft beträchtlich ist, getäuscht worden bin. Ich hatte mir eingebildet, man brauche der verfälschten, der auf Märchen geschminkten Wirklichkeit nur die tatsächliche Wirklichkeit entgegenzusetzen und alles sei wieder im Lot.

In dieser Vorstellung befangen, habe ich eine ganze Anzahl von Büchern über den Wilden Westen der USA geschrieben, von der guten alten unverwüstlichen Amerika Saga über Sheriffs, Räuber, Texas Rangers und Cowboys, Rinder, Schienenstrang bis hin zu einer Sammlung von Texten von und über Viehtreiber, Im Sattel der Cowboys. Diese Bücher haben bei aller thematischen Verschiedenheit doch eines gemeinsam: sie versuchen, den Westen authentisch zu präsentieren. Der Leser soll erfahren, »wie es wirklich war«, nachdem ihm hundertfach in der Trivialliteratur, im Film und im Fernsehen die Facetten der Illusion vorgeführt worden sind.

Ich halte heute diesen Ansatz für falsch.

Was ist damit gewonnen, dass der Leser erfährt, die Herren Revolverschützen seien nur noch etwas schmutziger, schießwütiger und im Aussehen unattraktiver gewesen, als sie uns im Film oder bei Karl May vorgestellt werden? Der Mythos bleibt, und letztlich trägt so auch ein Buch, das mit authentischem Material arbeitet, zur Konservierung und Verinnerlichung dieses Mythos bei.

Nun kann jemand aber auch fragen: Was ist schon dabei? Befriedigen Wildwestgeschichten letztlich nicht nur ein Bedürfnis nach Illusionen, das sich zwangsläufig in einer Umwelt monotoner Arbeitsabläufe und zu einem Höchstmaß gesteigerten zivilisatorischen Komforts ergibt, sind sie nicht für uns, was die Rittergeschichten für den armen Don Quijote waren?

Weil wir sozialversichert, air-conditioned und zentralgeheizt (wie lange noch?) leben, delektieren wir uns, im Sessel zurückgelehnt, an Strapazen, Gefahren und harten Lebensbedingungen, die nicht die unsrigen sind, und erleben bei allem Schauder über das Leben und Treiben damals auch noch die stolze Genugtuung, wie herrlich weit wir es doch gebracht haben.

Ganz ähnlich scheint mir die Wildwestgeschichte der Groschenromane und der durchschnittliche Wildwestfilm einen Spielraum zum Ausleben unserer sonst nicht abzuführenden Aggressionen zu bieten.

Nun sollten aber Kunstprodukte, wenn sie als solche ernst genommen werden wollen, nicht lediglich zur Ersatzbefriedigung dienen, sondern wenigstens versuchen, kritisch auf das bewusstsein ihrer Zeit zu reagieren und – sei es als Utopie – neue Möglichkeiten des Reagierens auf das jeweilige Thema vorzuweisen. In einer Zeit, die so sehr wie die unsrige von Aggressionen bedroht ist, lassen sich aggressive Methoden auch nicht länger als harmlos belächeln.

In einer Welt, in der der rücksichtslose Raubbau an Bodenschätzen und eine Hybris von der Allmacht der Technik und von der Verfügbarkeit der Natur die Menschheit an den Rand einer Katastrophe geführt haben, fällt es schwer, ungebrochen jenen Fortschrittstraum, als dessen erster Akt die Eroberung und Erschließung des Westens der USA ursprünglich verstanden wurde, zu glorifizieren oder auch nur unkritisch abzuspiegeln.

Dass der Mythos vom Westen, den es zum Wohl der Menschheit in Besitz zu nehmen und auszubeuten gelte, später in einen größeren Rahmen übertragen wurde, beweisen beispielsweise jene Antworten, die der damalige US-Außenminister Kissinger 1972 in einem Interview mit der italienischen Publizistin Oriana Fallaci gegeben hat:

»Dr. Kissinger, wie erklären Sie sich den unglaublichen Superstar-Status, wie erklären Sie sich die Tatsache, dass Sie fast berühmter und populärer geworden sind als der Präsident?« »Der Hauptgrund liegt wohl in der Tatsache, dass ich immer allein gehandelt habe. Amerikaner bewundern dies ungemein. Amerikaner bewundern den Cowboy, der allein eine Karawane über Land führt, den Cowboy, der ein Dorf oder eine Stadt zu Fuß allein betritt. Allein und ohne Pistole, weil er einmal nicht schießen will. Er handelt. Das ist alles. Er setzt den Hebel an der richtigen Stelle an, zur rechten Zeit. Eine Wildwestgeschichte, wenn Sie so wollen.« »Ich verstehe. Sie sind also so eine Art Henry Fonda, unbewaffnet und bereit, mit den bloßen Fäusten für ehrenhafte Ideale zu kämpfen. Auf sich allein gestellt, tapfer.« »Nicht unbedingt tapfer. Bei diesem Cowboy bedarf es keiner Tapferkeit. Es reicht eben hin, dass er allein ist, dass er anderen zeigt, wie man ein solches Dorf betritt, wie man eine Aufgabe auf eine bestimmte Art löst. Dieser romantische überraschende Charakter gefällt mir. Allein zu handeln war immer ein Teil meines Stils oder meiner Technik, wenn Sie so wollen. Auch Unabhängigkeit. Und endlich Überzeugtheit. Ich bin immer unbedingt von der Notwendigkeit dessen, was ich tue, überzeugt.«

 

Lassen wir einmal außer acht, welche – meiner Ansicht nach erschreckenden – Rückschlüsse auf den Zustand von Demokratie gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den USA von diesem Text her möglich werden; konzentrieren wir uns allein auf die Verbindung dieser Äußerung zum Mythos, so wird klar, dass gewisse Projektionen und Illusionen von der ursprünglichen Szenerie auf einen gewissermaßen weltweiten »Wilden Westen«, der freilich auch im Nahen oder Fernen Osten liegen kann, übertragen worden sind.

Auch klar sein sollte, dass es somit beim Nachvollzug und bei der Verinnerlichung der Taten von Cowboys, Sheriffs und Indianern unter Umständen um mehr geht als um »Kinderspiele«.

Vergegenwärtigen wir uns auch noch einmal die politisch-ideologischen Züge, die dem Mythos von Anfang an innewohnten: Aus dem vollständigen Text von William Gilpins »Mission des Nordamerikanischen Volkes«, den der Leser in diesem Buches findet, lassen sich durch Isolation einiger Schlüsselworte die politischen Antriebskräfte bzw. die Ideologie der Interessengruppen, die den Mythos propagierten, klar erkennen.

Da heißt es unter anderem, es sei die »unerledigte Bestimmung des amerikanischen Volkes, den Kontinent zu unterwerfen«. Das im Englischen gebrauchte Verb ist »subdue«, und die Wortwahl ist hier bezeichnend. Dunkelheit soll in Licht verwandelt werden. Alte Nationen will man eine neue Zivilisation lehren, die Wissenschaft soll perfektioniert werden, um schließlich »to shed blessings round the world« (in etwa: solche Segnungen über die ganze Welt hinaus zu breiten). Bezeichnend ist schließlich, dass diese Aufgabe eine gottwohlgefällige, unsterbliche Mission genannt, also mit der Ausübung einer religiösen Pflicht in Zusammenhang gebracht, wird.

Es gibt hinreichend viele Zeugnisse dafür, dass jenes bewusstsein, das sich bei Gilpin so pompös-pathetisch ausdrückt, in banalerer Form in fast allen Gruppen der westwärts ziehenden Menschen (Entdecker, Trapper, Scouts, Siedler, Goldsucher, Rancher und Farmer) vorhanden gewesen ist. Bis heute hat es sich in etwas entlegeneren Gegenden der USA unverwandelt und ungebrochen erhalten. Wer auf die uns allen nur zu bekannten negativen Seiten dieses bewusstseins hinweist, darf nicht übersehen, dass die Erfüllung der damals als Mission verstandenen Aufgabe ohne eine solche Überhöhung, Stilisierung und Mythologisierung wahrscheinlich nie gelungen wäre.

Die Verklärung dessen, was einen unterwegs im Westen und am Ende des Trail erwartete, die Illusion von dem fernen Land als einem, in dem Milch und Honig fließen, waren nötig, damit sich Menschen trotz der Kunde über die schrecklichen Strapazen und Gefahren überhaupt auf den Weg machten.

Aus dieser Überhöhung und deren Zusammenstoß mit der Realität ergibt sich eine besondere Form der amerikanischen Folk-Erzählung: die Tall-Tale, die »Übertreibungsgeschichte«. Freilich hat sie auch noch einen anderen, psychologischen Antrieb, nämlich prahlerisch auftrumpfend den Schrecken aus sich herauszustellen, den einem die als übermächtig empfundenen Naturphänomene eingaben, und ihn so zu überwinden.

Nun ist zu Anfang von einem anderen Bild des amerikanischen Westens die Rede gewesen. Einem Gegenbild! Kann es das überhaupt geben?

War nicht der Westen allemal hart, grausam, primitiv, ellbogenstoßend gewalttätig? Gewiss war er das, wie auch viele Texte dieses Bandes belegen. Aber es gibt tatsächlich nicht nur andere Schattierungen in diesem bekannten Bild, sondern, wie ich meine, tatsächlich ein ganz anderes Bild, das verdrängt worden ist.

Um dieses andere Bild des amerikanischen Westens aufzufinden, müssen wir hinter das Bild des Westens vom Marlboro-Country, hinter das Bild des »Wilden Westens«, in dem Mr. Colt angeblich alle Menschen gleich machte, hinter das Bild vom »Gelobten Land«, ja selbst noch hinter das von den Spaniern geprägte Bild vom Westen als El Dorado zurückgehen.

Tun wir das, stoßen wir auf einen Westen, der höchstens an seinen Rändern vom Weißen Mann besetzt war, einem Westen, in dem Indianerstämme, die sich selbst nicht selten »das Volk« nannten, noch in einer sich selbsterhaltenden, magischen Welt lebten.

Nicht zuletzt deswegen sind in diesem Band zahlreiche Texte von Indianern aufgenommen worden, um dieses Bild vom amerikanischen Westen, um das Bild einer frühen Menschheit, wieder hervortreten zu lassen.

»Der wichtigste Impuls hinter den Geschichten, Gedichten, ja selbst hinter der Wirtschaftsführung der Indianer«, so haben Frank Bergon und Zeese Papanikolas festgestellt, liege in der Anstrengung, die Trennungslinie zwischen dem Mythischen und Realen aufzuheben.

Weiter heißt es bei den beiden Autoren:

»Der Kojote, die Eulenspiegel- und Sinnsuchergestalt in den indianischen Mythen, ist darauf bedacht, den ihm angemessenen Platz im Universum zu finden, und zwar so, dass dieses in seiner Ganzheit nicht verletzt wird. In einem Medizinlied der Yuma-Indianer heißt es: ,Der Wasserfloh zieht die Schatten des Abends durch das Wasser hin auf sich.' Im indianischen bewusstsein hat ein am Rand der Schöpfung stehendes Geschöpf ebensoviel Gewicht wie der ganze Aspekt des Abends. Andrew Garcia, ein junger mexikanischer Händler, der 1870 durch Montana reiste, fand neben der Wegspur überall an den Bäumen die Hufe von Rehen hängen. Die Indianer hatten sie dort aufgehängt, um, wie sie erzählten, dem Reh-Volk zu verstehen zu geben, dass sie von der erlegten Jagdbeute alles aufgebraucht hatten mit Ausnahme der unbrauchbaren Hufe. Noch sahen die Indianer keine Notwendigkeit, sich umweltschützend in dem uns bekannten Sinn zu verhalten. Sie fingen Lachse während der Laichzeit im Frühjahr oder trieben Büffel über eine Klippe, denn solange Achtung gegenüber der Natur lebendig war und man durch die entsprechenden Zeremonien die Leute aus dem Tiervolk beruhigte, bestand Harmonie und der Vorrat an Lachsen und Büffeln blieb unerschöpflich. Nur wenn Tiere sinnlos getötet wurden oder wenn, wie das der Stamm der Washos glaubte, Tierreste, besonders Knochen, verschwendet wurden, zogen die Tiere fort und erlaubten es dem Menschen nicht mehr, sie zu seinem Nutzen zu töten.«

Es liegt mir fern, die Indianer als edle Wilde zu stilisieren. Festgehalten werden soll im Hinblick auf das andere Bild: Das Verhältnis der Indianer zur Natur, zu dem Land, in dem sie als Jäger, Fischer, teilweise aber auch als Ackerbauern lebten, war grundlegend anders als das der eindringenden Weißen.

Wie sich diese Auffassungen voneinander unterschieden, wird in diesem Band durch die Gegenüberstellung von indianischen und angloamerikanischen Texten mit weltanschaulichen Aussagen klargestellt.

Als weitere Annäherung an das andere Bild mag zudem hier das Zitat aus einem Essay dienen, das N. Scott Momaday, Kiowa-Indianer von Herkommen und in der Welt des Weißen Mannes Universitätsprofessor in Stanford und Romanautor, unter dem Titel »A First American Views His Land« in einer Nummer des National Geographie Magazine veröffentlicht hat. Er schreibt:

»Der amerikanische Eingeborene der Gegenwart ist ein Mensch mit einem ausgeprägten ästhetischen Wahrnehmungsvermögen, das sich in seiner Kunst, seinem Handwerk, in seinen religiösen Zeremonien, in seinen Geschichten und seinen Liedern, in seiner reichen mündlichen Überlieferung, ausdrückt. Mein Großvater Mannedaty war in seinen reiferen Jahren ein Farmer geworden. Sein Großvater war noch ein Büffeljäger gewesen. Er war ein Kiowa, und bei den Kiowas gab es keine agrarische Tradition. Aber er musste seinen Lebensunterhalt verdienen, und das alte geliebte Dasein des Herumschweifens auf der Prärie und der Büffeljagd war für immer vorbei. Selbst unter diesen Umständen aber blieben sein bewusstsein, sein Wille und sein Geist dieser Landschaft verbunden. Es gab für ihn nichts anderes. Er hätte sich nicht vorstellen können, ohne dieses Land zu leben. In Der Weg in die Rainy-Mountains habe ich eine kleine Erzählung niedergeschrieben, die zur oralen Tradition meiner Familie gehört. Sie weist hin auf etwas Wesentliches in der Einstellung der amerikanischen Eingeborenen zur Landschaft. ,Im Osten des Hauses meiner Großmutter, südlich des Pecanwäldchens, liegt eine Frau in einem wunderbaren Kleid begraben. Die Mammedatys wussten einst, wo sie begraben lag, aber heute weiß es keiner mehr. Wenn man unter dem Vordach des Hauses steht und nach Osten in Richtung auf Carnegie schaut, weiß man, dass die Grabstätte der Frau irgendwo im Blickfeld sein muss. Aber ihr Grab ist nicht näher markiert. Sie wurde in einer Kiste beigesetzt, und sie trug ein sehr schönes Kleid. Wie schön es doch war. Es war eines dieser feinen Wildledergewänder und geschmückt mit Elchszähnen und Perlen. Das Kleid liegt immer noch dort unter der Erde.' Es scheint mir, dass diese Erzählung vor allem eine Erklärung der Liebe zum Land, zur Landschaft mit ihren verschiedenen Elementen darstellt - die Frau, das Kleid und diese Ebene werden am Ende eine Wirklichkeit, Ausdruck des Schönen in der Natur. Es scheint mir eine spezifische Haltung der eingeborenen Amerikaner, die Dinge so auszudrücken ... Sie werden nicht explizit erinnert – der Name der Frau, die genaue Lage des Grabes, all das ist für den Geschichtenerzähler nicht so wichtig. Wichtig ist die Verwandlung der Frau in die Landschaft, eine Verwandlung, die noch durch die Erwähnung dieses besonders schönen und einzigartigen Gewandes, eines indianischen Kleides, besonders akzentuiert wird.«

Wer den Westen heute bereist, sich abseits der großen Straßen und touristischen Trampelpfade bewegt, wird, auch wenn er kein Indianer ist, begreifen, was Momaday meint, wenn er sagt, Land und Landschaft hätten für die Indianer eine spirituelle Dimension.

»Daraus ergibt sich logisch»«, so fährt Momaday fort, »dass in einer solchen Auffassung ein ethischer Imperativ enthalten ist. Ich denke: Insofern ich das Land, die Landschaft bin, ist es angemessen, dass ich mich im Geist der Landschaft bestätigen lasse, mich in ihm meiner vergewissere. Ich werde mein Leben in der Welt feiern und in der Welt meinen Lebenssinn erkennen. In der natürlichen Ordnung bringt sich der Mensch in die Landschaft ein. Gleichzeitig stellt die Landschaft, das Land, für ihn eine fundamentale Erfahrung dar. Der Prozess der Einbringung und der Zustimmung ist vor allem eine Funktion der Einbildungskraft. Er kommt zustande durch einen Akt der Imagination, der eine besondere Ethik hat. Wir sind, was wir uns einbilden zu sein. Der amerikanische Eingeborene ist jemand, der sich selbst auf eine ganz bestimmte Art und Weise sieht. Durch seine Erfahrung schließt diese Vorstellung von sich selbst diese enge Beziehung mit der Landschaft mit ein.«

Hier wird das Gegenbild jener von Herrschaftsansprüchen, Aggression, Sendungsbewusstsein, Besitzgier und Materialismus geprägten Mythe sichtbar. Es wäre falsch, zu behaupten, dass dieses Bild nur von den Indianern gesehen worden wäre. Es hat in der Geschichte bis heute immer wieder auch Weiße gegeben, die sich dieses anderen Bildes in Augenblicken oder dauerhaft bewusst geworden sind, die es als sinnerfüllt und mit einer Ethik, also mit einer Anweisung zum richtigen Leben, ausgestattet erkannt haben.

Zugeben will ich gern, dass ich für diesen Band mit Vorliebe Texte ausgewählt habe, die das Bild der Naturschönheit und der magisch-spirituellen Naturverbundenheit des Menschen im Westen eindringlich hervortreten lassen.

Bedürfte es dazu einer Begründung, so ließe sich sagen, dass eben dieses Bild in der Tradition des Weißen Mannes über Jahrhunderte hin eher verschüttet fortlebt. Es ist ein Bild mit vielen Zwischentönen, ein Zen-Bild, das unter Pulverdampf, Yippie-Gekreisch und Messergeblitz zurücksank in einen Hintergrund von Stille.

Warum habe ich versucht, dieses Bild hervorzuheben, seine Details sichtbar werden zu lassen?

Es geht nicht – um Missverständnissen vorzubeugen – um ein »Zurück zur Natur«.

Es geht mir viel eher darum, aufzuzeigen, dass eine Einstellung des Menschen zur Natur, die vorwiegend unter dem Gesichtspunkt von Herrschaft und materieller Rücksichtslosigkeit vonstatten geht – abgesehen davon, dass sie die Menschheit durch die Auspowerung ihrer natürlichen Ressourcen in eine selbstmörderische Sackgasse führt –, ein fundamentales Bedürfnis des Menschen, nämlich das spirituelle, unberücksichtigt lässt.

 

Gewiss wird es kein Zurück mehr geben. Gewiss ist der Traum von einem solchen Zurück nur neue Illusion, die sehr bald zuschande gehen und jene, die diesen Traum träumen, in noch tieferer Enttäuschung zurücklassen wird.

Es wäre aber manches gewonnen, wenn unser Glaube an die Unabdingbarkeit immer rascheren und größeren Zuwachses an materiellen Gütern Zweifeln wiche. Zweifeln darüber, ob der Mensch ein Recht hat, Natur aus erster Hand völlig zu zerstören. Zweifel, ob die sich dabei ergebende Zuwachsrate an zivilisatorischem Komfort ungestraft weiter und weiter gesteigert werden kann. Zweifel an einem Glück, welches nur in einem Mehr und abermals Mehr an materiellem Besitz besteht.

Das große Thema der Folklore des amerikanischen Westens ist die Begegnung des Menschen mit einer ebenso grandiosen wie übermächtigen Natur. Diese Natur ist heilend und zerstörend, schön und schrecklich, aber an sich weder gut noch böse; doch allemal muss der Mensch auf sie reagieren. Er kann versuchen, sie zu beherrschen. Er kann versuchen, sich in ihr einen Platz zu bestimmen und in Balance mit den anderen ihr zugehörigen Kräften und Wesen zu leben. In diesem Spannungsfeld vollzieht sich das wahre Drama des amerikanischen Westens. Es interessiert mich nicht nur als historische Reminiszenz. Es interessiert mich als Vorgang, an dem sich für unsere Position hier und heute sinngebende Hinweise ablesen lassen.

Ganz bewusst habe ich bei der Auswahl der Texte zu diesem Band Augenzeugenberichte, Lebensläufe, Briefe, Tagebuchauszüge (die ja auch Formen des Volk-Erzählens darstellen) neben Mythen, Märchen, Sagen und Lieder gestellt. Wohin die Flüsse fliessen schließt sich als in sich abgeschlossener Band an das Buch Wohin der Wind weht an, der die Folklore des Ostens und des Südens der USA versammelte. Er wird sich mit einem bereits konzipierten Band Solange das Gras grün ist, der ausschließlich den amerikanischen Indianern gewidmet sein soll, zu einer Trilogie abrunden, in der dann sich hoffentlich jener traumhafte Entwurf einlöst, den ich am Anfang des ersten Buchs so umschrieben habe: Was ich mir vorstelle, ist dies: einen Flickenteppich aus Geschichten zu nähen, und schließlich wird daraus eine Landkarte der Fantasie.

Frederik Hetmann

Nomborn im Westerwald, Februar 1980