Hausgemeinschaft mit dem Tod

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Aus der Reihe: Mord und Nachschlag
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Hausgemeinschaft mit dem Tod
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Steinhauer

Hausgemeinschaft mit dem Tod

Schweden-Krimi mit Rezepten


Franziska Steinhauer

Hausgemeinschaft mit dem Tod

Der dritte Fall für Sven Lundquist


Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2012 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Britta Gerloff

Umschlag: Thorsten Hartmann

unter Verwendung eines Fotos von designritter/photocase.com

Rezepte: Melanie Ristic und Roland Tauber

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net

ISBN: 978-3-941895-25-6

1

Agneta Paulsson wartete:

Ständig wanderten ihre Augen zwischen Telefon, Handy, Fenster und Wohnungstür hin und her.

30 Minuten schon.

Fast 35.

Verspätungen konnten mal vorkommen, natürlich, das war durchaus möglich. Doch normalerweise rief Simone in so einem Fall an.

Agneta seufzte.

Drückte die Zigarette mit nikotinvergilbten Fingern im längst überquellenden Aschenbecher aus.

Wollte sich mit einer Illustrierten auf die Couch setzen, schaffte es dann doch nicht und kehrte besorgt wieder zu ihrem Aussichtspunkt am Fenster zurück. Zündete sich eine neue Zigarette an.

40 Minuten über die Zeit.

Vor der Scheibe begann es zu regnen.

Der Wind blies die Tropfen klatschend gegen das Fenster. Sie sahen aus wie Tränen.

Ich könnte sie auf ihrem Handy anrufen, überlegte Agneta vernünftig, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Ihre Tochter war in einem schwierigen Alter.

»Wenn ich dich jetzt anrufe, wirfst du mir wieder wochenlang Kontrollzwang und chronisches Misstrauen vor«, flüsterte die Mutter vor sich hin und überlegte, ob sie mit 12 auch so schwierig gewesen war.

»Eher nicht!«, stellte sie energisch fest, stieß sich vom Fensterbrett ab, drückte die Glut in der Blumenerde aus und ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.

Ihre Eltern konnte sie nicht mehr danach fragen. Es war schon ein guter Tag, wenn die beiden sich noch daran erinnerten, eine Tochter zu haben.

Der Alzheimer fraß nicht nur die Erinnerungen der Betroffenen auf. Er zerstörte ihre Persönlichkeit, alles, was sie einmal waren, dachten, konnten, fühlten.

Müde strich Agneta ihre fettigen Haare aus der Stirn und wischte die feuchten Finger am Gesäß ihrer ausgeleierten Jogginghose ab.

»Claudia, wie schön dich zu sehen!«, hatte ihre Mutter beim letzten Besuch erfreut gerufen.

»Agneta. Ich bin Agneta!«

Die Mutter hatte angefangen zu weinen. War über mindestens eine Stunde nicht zu beruhigen gewesen. Beim nächsten Mal solle sie besser darauf verzichten, ihre Eltern zu korrigieren, beschied ihr die Pflegerin des Heims, es verstärke nur die allgemeine Verunsicherung, die der Demenzkranke ohnehin schon zu ertragen habe und verursache eine anhaltende Verstimmung, die den Alltag erheblich belaste. Agneta griff mit bebenden Fingern nach dem Teekessel, goss das Wasser in eine große Tasse und bewegte einen Teebeutel darin auf und ab.

55 Minuten.

»Fünf Minuten gebe ich dir noch, Gottwald. Wenn die Kleine bis dann nicht hier auf der Matte steht, fange ich an zu telefonieren!«

Sie nippte an der blutroten Flüssigkeit, verbrannte sich die Zunge.

»Claudia! Ha! Meine saubere Schwester. Seit Jahren ist sie nicht mehr hier gewesen. All die Arbeit bleibt an mir hängen, während das Madamchen sich einfach mit der Überweisung freikauft!«, fauchte Agneta zornig. »Aber Mama freut sich besonders über einen Besuch von Claudia! Tja, nun ist euch nur die ungeliebte Tochter geblieben, die andere jettet in der Welt herum. Pech auf eure alten Tage!« Sie hob den Teebecher an, als wolle sie ihnen auf die Entfernung zuprosten. »Ausgerechnet die hässliche, schmuddelige, ungepflegte Agneta.« Kein Wunder, dass es Simone bei Gottwald besser gefällt als zuhause bei ihrer Mutter, überlegte sie deprimiert. Bei Papa gibt es einen gepflegten Garten, ein modernes Haus mit Kamin und Designermöbeln, edlen Teppichen und Fernseh- und Musikanlage vom Feinsten und Teuersten. Nicht spießig und billig, abgestoßen und voller Schrammen wie bei mir. Vielleicht kann sie sich von all dem Luxus einfach nicht losreißen!

62 Minuten.

»So, Schluss jetzt, Gottwald, du altes Riesenarschloch! Du weißt ganz genau, was vereinbart ist! Deine Scheißspielchen gehen mir so was von auf die Nerven!«

Agneta griff zum Telefon.

Wählte Simones Handy an.

Es klingelte – und leitete nach dem sechsten Mal den Anrufer auf die Mailbox um. »Hier spricht Simone. Wahrscheinlich quatsche ich gerade mit jemand anderem. Hinterlasse deine Nummer und deinen Namen, ich rufe gleich zurück!«

Tränen drückten sich in die Augen der Mutter. Ob vor Angst, Sorge oder Wut konnte sie nicht sagen.

Bei Gottwalds Festnetzanschluss hatte sie auch kein Glück.

Niemand meldete sich – Gott sei Dank –, sie hätte sich nur ungern mit diesem Flittchen unterhalten, das nun bei ihm lebte. Sein Mobiltelefon lud sie freundlich ein, ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Von diesem Angebot machte Agneta keinen Gebrauch. Wozu auch? Er würde ohnehin nicht zurückrufen.

90 Minuten.

Die vage Sorge wurde zur Gewissheit.

Es musste etwas passiert sein.

Etwas Ernstes, Dramatisches, Tragisches!

Vielleicht hatten die beiden einen Unfall! Sofort sah sie die Bilder vor sich: Zwei Körper in sonderbar verrenkter Haltung, blutüberströmte Gesichter, leblose Gestalten, unnatürlich bleich im zuckenden Blaulicht der herbeigerufenen Rettungsmannschaft. Erkannte entsetzt das hoffnungslose Achselzucken des Notarztes!

Nervös tippte sie eine neue Nummer ein.

»Hier spricht Agneta Paulsson. Meine Tochter ist nicht nach Hause gekommen. Sie ist mit ihrem Vater, meinem Ex, unterwegs. Gottwald Paulsson. Sie meldet sich sonst immer, wenn es eine Verspätung gibt. Aber jetzt kann ich weder sie noch ihren Vater erreichen. Ich habe solche Angst! Du musst mir helfen!«

2

Karell lauschte auf die Schritte über seinem Kopf.

Agneta, dachte er beiläufig, irgendetwas beunruhigt sie. Sein Blick konzentrierte sich wieder auf das Tableau vor ihm auf dem Tisch.

Schon das dritte unheilverkündende Deck. »Sieht wirklich nicht gut aus«, murmelte er. »Schwierigkeiten stehen ins Haus. Und diesmal nicht für mich.«

Karell, der sich, seit er in diesem Carré wohnte, Barbanina nannte, seufzte. »Der Tod! Kein angenehmer Besucher«, ächzte er, als er die letzte Karte umdrehte.

Als er hier einzog, war ihm sofort aufgefallen, wie viele Frauen in den Häusern im Rund lebten. Einsame, die nie einen Partner gefunden hatten, Witwen, denen das Alleinsein nicht gut bekam, überforderte Mütter, deren Männer kein Verständnis dafür hatten, dass sie Erziehung und die Erledigung des Haushalts als Arbeit empfinden konnten und über Müdigkeit klagten, wenn der Gatte nach Hause kam. Karell hatte das Potenzial sofort erkannt. Frauen hatten stets unglaublich viele Fragen zu klären: Wird mein Sohn das Abitur schaffen? Wird meine Tochter mit diesem Mann wirklich glücklich? Geht mein Mann schon wieder fremd? Werde ich bis ins hohe Alter gesund bleiben? Warum kann ich nicht schwanger werden?

Mit diesen Problemen würden sie wohl lieber zu einer Seherin gehen als zu einem Wahrsager. Gedacht, getan. Er genoss es, seine transvestitische Seite ausleben zu dürfen, erschuf für die Kundinnen Barbanina und blieb für die Hausverwaltung Karell. Bisher hatte das Rollenspiel komplikationslos geklappt. Die Kundinnen wollten an Barbanina glauben, das schummrige Licht im Wohnzimmer ließ die bläuliche Verfärbung des Bartwuchses an Kinn und Wangen verschwinden, seidenglänzende Handschuhe bis zum Oberarm verbargen die männlich kräftigen Finger.

Barbanina, die vorgeblich mit ihm verwandte Mitbewohnerin Karells, verließ das Haus praktisch nie. Der junge Mann, der ihr so unglaublich ähnelte, erledigte alle Einkäufe und Behördenbesuche, übernahm selbst Botengänge für sie.

Er selbst hatte schnell bemerkt, wie sehr sie sein eigenes Leben zu dominieren begann, spürte, wie ihm der private Karell mehr und mehr entglitt.

Die meisten älteren Damen beneideten Barbanina um diesen liebevollen Jungen, seufzten wehmütig, wenn sie an ihre eigene Brut dachten, die, einmal großgezogen, weit fortgezogen war und sich in der Regel nur dann meldete, wenn ihr das Wasser bis zum Hals stand und Rettung durch die Mutter vonnöten war.

Nur Ingmar, der Hauswart, schien etwas bemerkt zu haben.

Vor ein paar Tagen hatte Karell ihn »Transe!« zischen hören, als er an ihm vorüberging. Auf so etwas reagierte er natürlich überhaupt nicht, tat so, als sei ihm die Bedeutung des Wortes nicht geläufig oder er habe es schlicht nicht gehört. Ingmar konnte unmöglich mehr als einen Verdacht haben – von irgendeiner Form der Gewissheit war er bestimmt weit entfernt.

 

»Was nun? Die Karten sprechen eine deutliche Sprache. Soll ich Agneta wissen lassen, welche Botschaft sie haben?«

Wieder wanderten seine Augen zur Decke. Noch immer lief sie hin und her.

»Wahrscheinlich sollte ich mich besser nicht einmischen«, überlegte Karell vernünftig.

Doch Barbanina war eitel.

Sie wollte ein wenig mit ihren besonderen Fähigkeiten angeben.

So griff sie zum Telefon und brachte Karells mahnende Stimme mit einer harschen Bewegung zum Verstummen.

Er fügte sich widerstandslos.

In ihren vier Wänden gab sie den Ton an, hatte er nicht zu mucken.

3

Sven Lundquist schlief unruhig.

Drehte sich von einer auf die andere Seite, stöhnte leise.

Er hatte eindeutig einen schwerwiegenden Fehler gemacht, seine beiden Frauen gegen sich aufgebracht. Das war nicht zu leugnen.

Vorsichtig öffnete er das linke Auge und warf einen forschenden Blick zu Magda hinüber.

Sie schien zu schlafen. Doch das konnte täuschen, mochte einer dieser weiblichen Tricks sein, die sie gut beherrschte und von denen er nur wenig Ahnung hatte. Er war jedenfalls nicht sicher, ob er den gleichmäßigen Atemzügen trauen durfte.

Und das ganze Theater und Gezeter wegen eines stinkenden kleinen Hundes in einem verdreckten Korb an der Hand eines schmuddeligen jungen Mannes mit Dreadlocks!

»Ach, ist der aber süß!«, hatte Lisa gerufen und sich zu dem winzigen Flohtaxi hinuntergebeugt.

Ehe er es noch verhindern konnte, kosten alle ihre zehn Finger durch das Fell des Zwerges mit den großen dunklen Augen.

»Ja, der ist wirklich niedlich«, bestätigte auch Magda und sah den Kleinen … nein, himmelte den Kleinen an.

»Ein Hund! Der muss bei jedem Wetter ausgeführt werden. Bei Wind und Regen, selbst im tiefsten Schnee!«, warnte der Vater.

»Aber das ist doch gar kein Problem«, hatte Lisa behauptet.

»Ach, da staune ich aber! Noch sind Ferien. Aber irgendwann musst du wieder zur Schule gehen! Außerdem lockt der eigene Hund immer auch fremde an.«

»Aber nur die netten«, hatte sich an dieser Stelle das langhaarige Herrchen schmunzelnd eingemischt.

Sven Lundquist ächzte und schlug beide Augen auf.

Magda atmete noch immer ruhig und gleichmäßig.

Ihr Gesicht von ihm abgewandt.

Und so würde es auch bleiben – es sei denn, er fand den jungen Mann und kaufte ihm den haarigen Winzling mit dem verlorenen Blick ab, der dann wahrscheinlich stetig bis zur Größe einer dänischen Dogge heranwachsen würde. Liebe auf den ersten Blick. Da konnten auch die besten Argumente eines Vaters und Ehegatten nichts ausrichten.

Er seufzte erneut.

Seit wann galt »niedlich« als Kriterium für die Auswahl eines neuen Familienmitglieds? Magda hatte ihn, den Witwer mit Kind, doch auch geheiratet, ohne dass auf ihn diese Bezeichnung gepasst hätte! Niedlich, pah!

Dabei war es bis zu jenem Augenblick ein schöner und entspannter Familiennachmittag gewesen.

Lisa hatte sich einen Ausflug zum Kanaltorget gewünscht. Dort stand eine der jüngsten Attraktionen Göteborgs, das Göteborgshjulet.

In 42 Glasgondeln hievte das Riesenrad bis zu 336 Gäste 60 Meter hoch über die Stadt. Ein atemberaubender Ausblick bot sich von dort. Lisa war ganz aufgeregt gewesen, ihre Augen hatten geleuchtet, ihre Wangen geglüht.

Doch von einer Sekunde auf die andere war es mit der gelösten Stimmung vorbei – genau in dem Moment, als sie den »Hundemann« hinter sich ließen.

Das Handy unter seinem Kopfkissen vibrierte.

Rasch zog er es hervor und floh auf den Flur hinaus.

»Ja, Sven Lundquist!«

»Torre Samuelsson. Wir haben die Leiche eines Kindes gefunden. Simone Paulsson. Zwölf Jahre alt. Die Mutter hatte sie am frühen Abend vermisst gemeldet.«

»Wo?«

»Einkaufszentrum in Eriksberg, in der Nähe des Carolinen-Carrés. Der Kerl hat sie in einen Einkaufswagen gelegt, wie ein Stück Käse!«, schnaubte der Kollege zornig.

Schnell schlüpfte der Hauptkommissar in seine Hose, ein Hemd und einen warmen Pullover.

»Lars? Wir müssen los. Leiche eines 12-jährigen Mädchens!«

Am anderen Ende der Leitung war lautes Stöhnen zu hören.

»Mehr weiß ich auch noch nicht. Aber sie war als vermisst gelistet – einen Namen gibt es also schon. Simone Paulsson.«

»Okay. Ich bin gleich bei dir.«

Lundquist kochte sich einen Kaffee. Die Entdeckung eines getöteten Kindes war immer eine äußerst emotionale Belastung für die ermittelnden Beamten. Das Opfer war in diesen Fällen völlig schutzlos, unschuldig und ausgeliefert. Für Lars war es das erste Mal seit der Geburt seines eigenen Kindes, dass er mit solch einem Fall konfrontiert wurde. Der Freund würde schnell feststellen, wie das den Blick auf den Fall veränderte, ihn zu einer persönlichen Angelegenheit werden ließ.

Sven fror.

Morgen würde die Presse sicher wieder über das Böse spekulieren, dem Täter einen Namen für die Ewigkeit verleihen, wie einen Orden.

»Das Böse!«, knurrte er. »Das verwenden die Reporter immer dann, wenn ihnen unfassbar erscheint, worüber sie berichten müssen. Unerklärliche Gewalt und Grausamkeit. So, als sei man schicksalhaft ausgeliefert. Vielleicht wissen sie ja nicht, dass sie damit den Täter im Grunde zum willenlosen Opfer des Bösen machen – praktisch unschuldig schuldig.« Und damit auch vor Gericht nicht schuldfähig, setzte er verbittert in Gedanken hinzu.

Eriksberg. Ein schöner Stadtteil. Zumindest für die, die in den Häuserzeilen wohnten, deren Fenster den Blick auf den Hafen freigaben. Bunte, moderne Fassade, halbhohe Wohnblocks. Meeresfeeling zum Frühstück auf dem Balkon. Die Mieter in den dahinterliegenden Häusern hatten weniger Glück. Sie rochen zwar das Meer, was mal mehr, mal weniger angenehm sein mochte, aber konnten es nicht sehen.

»Hoffentlich kriegen wir den Kerl schnell!«, murmelte er über der dampfenden Flüssigkeit, trat ans Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus.

Es regnete.

Schon wieder. Oder etwa immer noch?

Wenig später sprang er auf den Beifahrersitz eines Familienvans und Lars brauste los.

»Britta und Ole kommen ins Büro und recherchieren den Hintergrund der Familie«, erklärte Sven. »Oft gibt es in diesen Fällen ein privates Motiv. Bernt hört sich am Tatort um. Es geht nicht immer um Missbrauch oder Vergewaltigung«, setzte er hinzu und fragte sich, ob er damit nicht in erster Linie sich selbst beruhigen wollte.

Lars grunzte nur unwillig.

»Ärger?«

»Der Kleine hat ein bisschen Fieber und quengelt.«

Dann schwieg er.

Stierte durch die Scheibe auf die nasse Straße.

Der Scheibenwischer quietsche.

Trotz der frühen Stunde hatten sich schon viele Schaulustige hinter der polizeilichen Absperrung versammelt. Einige schwiegen betroffen. Andere tuschelten aufgeregt, stellten erste Mutmaßungen an. Wieder andere ergingen sich stimmgewaltig in allgemeinen Tiraden über den Zustand der schwedischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert, den Verfall von Sitte und Anstand.

Sven kannte das alles von früheren Tatorten.

»Voyeure!«, knurrte er grimmig.

Er hielt Ausschau nach Torre Samuelsson.

»Hier! Ich bin Torre«, winkte ein schlanker, hochgewachsener Kollege verhalten und führte sie hinter einen aufgespannten Sichtschutz.

»Tja – ungewöhnliche Auffindesituation. Wir haben das Tuch gespannt, um die Gaffer nicht auf ihre Kosten kommen zu lassen. Die fotografieren hier sonst alles mit ihren Handys und stellen die Bilder und Videos sofort ins Netz. Eigentlich sollte man die alle wegen Behinderung der polizeilichen Ermittlungen einsperren!« Torres Gesicht, schmal und vor Erregung gerötet, zeigte deutliche Spuren des Schreckens.

»Wo liegt das Kind?«

»Komm!«

Torre führte sie in eine entlegene Ecke.

»Er hat das Mädchen in einen Einkaufswagen gelegt. Zusammengerollt wie ein Hündchen.«

Lundquist zuckte zusammen. Torres Vergleiche waren ihm zu blumig und auf tierische Vergleiche reagierte er heute allergisch.

Sie hatten den Bereich für die abgestellten Einkaufswagen erreicht.

Scheinwerfer leuchteten diesen Teil aus.

»Der Fotograf ist schon fertig. Der Rechtsmediziner kommt gerade. Dr. Jussi Andersson, glaube ich. Dort!« Torres fleischiger Finger deutete auf eine untersetzte drahtige Gestalt, die mit energischem Schritt näher kam.

Sven nickte.

Sein Blick kroch über die surreale Szene, die sich ihm bot.

Hinter sich hörte er Lars kräftig ausatmen.

Sie war deutlich zu groß für ihr letztes Bett gewesen.

Der Täter hatte den Körper auf eine rote Fleecedecke gebettet, den Stoff an Ellbogen und Knien etwas hochgezogen, als wolle er verhindern, dass sich der Draht schmerzhaft in ihre Extremitäten drücken konnte. Doch bis zur Stirn hatte die Unterlage nicht gereicht. Sven bemerkte, wie sich das Gewebe der Stirn durch die Gitter quetschte. Blutansammlungen verfärbten bereits die Wange und den Arm, auf dem der Kopf gelegen hatte. Bläulich und geschwollen sah dieser Bereich aus. Er zwang sich, jede Einzelheit zu erfassen, ignorierte das flaue Gefühl in der Magengegend, das ihn an Tatorten regelmäßig überfiel. Die grellen Lampen zerrten jedes Detail gnadenlos deutlich hervor. Die fahle Haut des Mädchens, ihre nackten mageren Beine unter dem bunten Rock, das hochgerutschte T-Shirt über der vollständig entwickelten Brust, die sorgfältig unter dem Kopf gekreuzten Arme, die langen Haare, die seitlich über das Gesicht fielen. Vielleicht hat der Täter sie mit Absicht so drapiert, damit er nicht in die Augen der Kleinen sehen musste, überlegte Lundquist. Hatte er den Mord bedauert, sich seiner Tat wegen geschämt? Hör auf, maßregelte er sich selbst, es ist viel zu früh, darüber Spekulationen anzustellen.

»Keine Schuhe?«, fragte er dann mit belegter Stimme.

»Nein. Auch keine Jacke.«

»Wie mag sie wohl gestorben sein«, ließ sich Lars Knyst vernehmen. Seine Stimme klang scharf. Er war in seiner professionellen Haltung nicht schnell zu erschüttern. Sven überlegte, ob die Distanz zum Tod bei seinem Freund durch die Geburt seines Sohnes sogar noch zugenommen hatte. Vielleicht wirkte das Vatersein bei ihm wie Ölzeug gegen das Grauen. »Auf den ersten Blick ist nichts zu erkennen. Blut könnte natürlich in die Decke gesickert sein. Da sie rot ist …«

»Dazu bin ich ja jetzt hier!«, klärte eine schneidende Stimme die Situation und ein Lundquist unbekanntes Gesicht schob sich in den Kegel des Scheinwerfers. »Jussi Andersson, Rechtsmedizin. Ich sehe sie mir gleich an, vielleicht kann ich sofort etwas zur Todesursache sagen. Danach nehme ich sie mit. Bericht geht an?« Seine wässrig-blauen Augen streiften den Ermittler mit einem Fischblick.

»Sven Lundquist.«

»Gut. Na, dann.« Der Rechtsmediziner strich die Haare aus dem Gesicht des Mädchens, beugte sich über den Wagen und schnüffelte lautstark. »Leichenstarre hat bereits eingesetzt«, kommentierte er Augenblicke später. »Kein Alkoholgeruch, kein Bittermandelaroma, etwas Chemisches ist allerdings schon zu bemerken. Na, mal sehen.«

»Sucht ihr in der Umgebung nach den Schuhen und der Jacke?« Sven wandte sich erneut zu Torre um.

»Ja, selbstverständlich. Läuft schon.«

»Mädchen in diesem Alter haben in der Regel auch eine Tasche bei sich. Habt ihr die irgendwo entdeckt?«

»Nein, nein. Die Tasche fehlt auch. Kein Handy, kein Schlüssel, nichts. Die Mutter hat bei ihrer Vermisstenmeldung sehr detaillierte Angaben gemacht.« Er winkte einen Kollegen aus dem Hintergrund heran und flüsterte vertraulich: »Das ist Filip. Filip Björk. Er hat die Anzeige aufgenommen. Ist seine erste Leiche.« Laut fragte er: »Gibt es Aussagen zu einer Tasche?«

Der Kollege nickte müde.

Sven musterte den spirrligen Mann skeptisch. Statt einfach zu antworten, begann der gesamte lange Körper Filips sich zu schlängeln. Selbst die Arme beteiligten sich an dieser großen Geste der Rat- und Hilflosigkeit.

»Was soll ich sagen?«, begann er mit Fistelstimme. »Als sie kam, dachte ich doch nicht eine Sekunde daran, dass etwas passiert sein könnte. Die Mutter war unglaublich aufgeregt, dabei waren ja mal gerade zwei Stunden über die vereinbarte Zeit verstrichen. Das kommt doch vor! Aber sie hat sofort Beschuldigungen gegen ihren Exmann erhoben. Hat geschrien, er habe mit Sicherheit seine Hände im Spiel. Natürlich bemühte ich mich darum, sie zu beruhigen, aber das funktionierte nicht. Und nun das!« Anklagend deutete er mit dem Kopf auf den Einkaufswagen.

 

»Es war vollkommen richtig, die Mutter erst mal zu beruhigen. Meist tauchen die Mädchen spätestens am nächsten Tag wieder auf. Müde mit einem dicken Kater! Dies hier ist der Ausnahmefall. Ich muss wissen, ob sie eine Tasche dabeihatte, eine Jacke, wie die Schuhe aussahen.« Sven Lundquist bemühte sich bewusst um einen ruhigen Ton. Der junge Mann war so schon aufgelöst genug.

»Eine bunte gewebte Tasche. Grundton rot. Eine dunkelgrüne Jacke mit bunten Patchworkanteilen. Eine dünne Regenjacke, oliv, ähnlich wie Ölzeug, die Schuhe: Sneakers von Puma, schwarz mit einem grünen Raubtier im Sprung.«

Nichts davon war bisher gefunden worden.

Ein lautes Räuspern.

Sven drehte sich um und begegnete wieder dem gefrierenden Blick des Rechtsmediziners.

»Auf den ersten Blick sage ich vorsichtig und ohne Gewähr: keine blutverdächtigen Anhaftungen oder Verfärbungen außerhalb des Körpers. Weder am Wagen, noch auf Decke oder Kleidung. Um ihre Lippen herum findet sich eine verkrustete weiße Abrinnspur. Sehr diskret, das meiste in dem zur Fleecedecke gerichteten Mundwinkel. Analyseergebnisse kann ich natürlich nicht bieten«, der Arzt, der die Statur eines Bodybuilders hatte, grinste schief, was ihn fast sympathisch erscheinen ließ, »aber ich tippe auf eine Art von Vergiftung. Möglicherweise hat der Täter ihr ein Barbiturat verabreicht, sie betäubt. Wenn man es so ausdrücken will, könnte man von einem gewaltfreien Mord sprechen. Danach legte er sie schlafen.«

»Hm. Keine Verletzungen? Demnach keine Angriffs- oder Abwehrspuren.«

»Nichts, nein, zumindest nichts, was sich eindeutig als solche erkennen lässt. Weder Risse an der Kleidung noch – bei der ersten oberflächlichen Inaugenscheinnahme – am sichtbaren Bereichs des Körpers. Im Nacken ist ein dunkler Bereich, den muss ich mir aber im Obduktionssaal genauer ansehen, hier ist schwer zu erkennen, um was es sich handeln könnte. Die Fingernägel sind lackiert, der Lack wohl nicht beschädigt. Ich werde vorsichtshalber die Hände dennoch sichern, damit ich unter ihren Nägeln nach Fremdgewebe suchen kann. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass ich bei der Sektion noch irgendwo Kampfspuren oder Verletzungen entdecke. Diese Scheinwerfer hier sind natürlich nicht optimal, kleine Wunden entgehen mir, durch die Schattenbildung entsteht die Illusion einer Verletzung. Einstiche zum Beispiel können unscheinbar wirken und sind erst unter dem Licht der OP-Lampe auszumachen. Möglicherweise hat er sie nach der Tat wieder angezogen – und ihr wollt ja wohl nicht, dass ich sie hier völlig entkleide? Blut geht gleich zur ersten Analyse, dann sehen wir weiter.«

Der Rechtsmediziner wollte sich schon umwenden und gehen, da hielt Lundquist ihn zurück.

»Halt! Der Todeszeitpunkt würde uns schon weiterhelfen.«

»Ja, das sehe ich ein. Aber wenn ich jetzt sage, vor etwa sechs Stunden mit einer Abweichung von etwa drei nach oben und unten, wäre das keine wirklich genaue Angabe, oder? Aller Wahrscheinlichkeit nach am gestrigen Abend. Nach der Obduktion! Ich schicke euch den engeren Zeitraum sofort rüber, wenn ich meine Untersuchungen abgeschlossen habe. Jede andere Aussage wäre unseriös!«

Lundquist nickte.

»Strangulationsmarken?«

»Ich glaube nicht, aber, wie gesagt, bei dem Licht ... Ich könnte nicht einmal erkennen, ob irgendwo ein Fingereindruck zu finden ist. Diese Decke ist an keiner Stelle auch nur feucht, das ist das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann.«

»Sie war heute mit ihrem Vater unterwegs. Scheidungsregelung nehme ich an. Du weißt schon, gemeinsames Sorgerecht oder irgendeine Form von Besuchsregelung. Als er sie nicht pünktlich nach Hause brachte, wurde die Mutter nervös«, fasste Sven zusammen und sah aus dem Augenwinkel, wie Filip noch eine Nuance blasser wurde.

»Habt ihr schon versucht, den Vater zu erreichen?«, erkundigte sich Lars mit gesenkter Stimme, als wolle er das Mädchen nicht stören.

»Ja, sicher. Sofort und dann in regelmäßigen Abständen auf dem Festnetz und dem Mobiltelefon. Aber es ist wohl ausgeschaltet, die Mailbox geht vor dem ersten Klingeln ran«, erklärte der junge Polizist.

»Er heißt?«

»Gottwald. Gottwald Paulsson.«

»Der Gottwald Paulsson?«

»Vielleicht. Wir wissen es noch nicht und der Name ist nicht so ungewöhnlich. Adresse steht hier auf dem Zettel, hat uns die Mutter so angegeben.« Torre reichte Lars ein grünes Stück Papier. »Eine Streife ist vorbeigefahren – niemand öffnet, kein Licht.«

Notfalls mussten sie eine Handyortung beantragen.

Solange das Mobilfunkgerät noch funktionierte.

Sven nickte Lars zu.

Das Zeichen zum Aufbruch.

»Einer muss es ihr ja schließlich sagen«, murmelte Lundquist den Kollegen beim Gehen zu und zuckte traurig mit den Schultern.

Ingmar sah auf seinen Verantwortungsbereich hinaus.

Verantwortungsbereich – das Wort gefiel ihm.

Es verlieh seiner Tätigkeit Wichtigkeit und Würde, so, als sei er unverzichtbar, bräche hier das blanke Chaos aus, sollte seine Aufmerksamkeit nachlassen oder seine helfende Hand etwa nicht zur Verfügung stehen. Hauswart zu sein war eben mehr, als tropfende Wasserhähne reparieren zu können.

Die beiden Männer fielen ihm sofort auf.

»Polizei!«, murmelte er ungehalten. »Wo gehen die jetzt hin?

Um diese Zeit!«

Lautlos öffnete er sein Fenster, um sich hinauslehnen zu können.

»Zu Agneta wegen Simone? Oder zu Emma wegen Ulv?«, überlegte er. »Wegen Herumlungerns kommen die sicher nicht so früh am Morgen. Die gehen zu Agneta. Simone hat was ausgefressen, ganz bestimmt. Vielleicht haben sie das nutzlose Gör irgendwo aufgegriffen – in einer privaten Sexbar oder auf dem Straßenstrich. Würde passen. So eine schamlose Schlampe!«

Der Hauswart beobachtete die Fremden, bis sie den Hauseingang erreicht hatten, in dem Agneta wohnte, dann schloss er das Fenster wieder.

»Manchmal kommt so ein mieses Weibsstück auch um. Würde mich gar nicht wundern, wenn jemand Simone gekillt hätte«, erklärte er Ansgar, dem klugen Wellensittich und setzte Kaffeewasser auf. »Dann kehrt ja vielleicht endlich Ruhe in unser Carré ein!«

Doch diese Hoffnung Ingmars sollte sich nicht erfüllen.

Agneta Paulsson stand in kindlicher Schrift auf dem angeschimmelten Namensschild.

Ihr Schatten tigerte an den Fenstern vorbei, von links nach rechts, von rechts nach links. Ab und zu hielt sie an, presste sich offensichtlich ein Telefon ans Ohr, ging dann weiter.

»Sie versucht Gottwald zu erreichen«, mutmaßte Lars.

»Oder sie ruft das Handy von Simone an«, ächzte Sven und schob seine zitternden Finger tief in die Hosentaschen.

»So eine Scheißsituation!«, fluchte der Freund. »Wenn man auch noch annehmen muss, der eigene Vater …«

»Vielleicht hat Gottwald sich umgebracht. Erweiterter Suizid. Das passiert bei Sorgerechtsfällen öfter, als man vermuten möchte. Dann wird sie sich ewig Vorwürfe machen. Nichts wäre geschehen, wenn sie Simone nicht hätte gehen lassen«, knurrte Lundquist und drückte auf den Klingelknopf.

»Wenn es wirklich der Gottwald Paulsson ist, eher nicht. Er war gerade letzten Monat wieder in den Schlagzeilen. ›Keinen Cent für die Bedürftigen‹ hat er gefordert, ›sonst erkennen die nie den Wert der eigenen Hände Arbeit‹. Emotionen würde ich bei dem nicht vermuten. Der ist kalt wie ein Eiswürfel!«

Die Frau, die sie an der Wohnungstür mit weit aufgerissenen Augen erwartete, wirkte seltsam ruhig.

»Polizei?«

»Ja. Wir würden gern reinkommen.«

»Ihr habt Simone gefunden! So ist es doch?«

Knyst schob mit einem harten Ruck die Tür zu und schloss die neugierigen Ohren der Nachbarn vom weiteren Gespräch aus.

»Es tut uns furchtbar leid, aber Simone ist tot.«

Sie weinte nicht.

Stand gefasst mit seitlich baumelnden Armen mitten im Wohnzimmer.

»Wo ist Gottwald«, fragte sie drohend. »Wo ist er?«

»Wir wissen es nicht. Er ist nicht zu erreichen«, antwortete Lundquist irritiert. Er hatte eigentlich erwartet, die Mutter würde nach dem Wo und Wie des Todes ihrer Tochter fragen.

Agneta ließ sich in eine abgewetzte Couch fallen.

»Er war heute anders als sonst. Das habe ich sofort gehört, als er anrief. Ich habe Simone geraten, ihm abzusagen, doch sie wollte nicht. Gottwald holte sie dann ab, wie üblich. Er war gestresst – ich sehe das bei ihm gleich. Sein Kinn bekommt dann tiefe Grübchen.«