Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann

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Der Werwolf von Hannover - Fritz Haarmann
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Franziska Steinhauer

Der Werwolf von Hannover – Fritz Haarmann

Biografischer Kriminalroman


Zu diesem Buch

Warte, warte nur ein Weilchen Frühsommer 1924. Kurz bevor für sie der Ernst des Lebens beginnen soll, brechen die Freunde Ludwig und Theo zu einer Fahrradtour auf. An der Leine entlang soll es gehen, Richtung Hannover. Doch vor ihrer Abreise erreichen sie Gerüchte über Leichenfunde aus der Stadt. Die beiden beschließen, sie zu umfahren. Doch plötzlich ist Theo verschwunden. Monate später beginnt der Prozess gegen den Hannoveraner Kaufmann Fritz Haarmann. Die Anklage lautet auf Mord in mehreren Fällen. Während des Prozesses kommen immer mehr schauerliche Details der Taten ans Licht, der Beschuldigte räumt die Tötung einer steigenden Anzahl junger Männer ein. Ludwigs Freund bleibt jedoch verschwunden. Theos Eltern reisen nach Hannover, um unter den Kleidungsstücken, die bei Haarmann und dessen Kunden sichergestellt wurden, nach denen des vermissten Sohnes zu suchen. Ein schrecklicher Verdacht steht im Raum: War Theo etwa Haarmanns letztes Opfer?

Franziska Steinhauer lebt seit 25 Jahren in Cottbus. Bei ihrem Pädagogikstudium legte sie den Schwerpunkt auf Psychologie sowie Philosophie. Ihr breites Wissen im Bereich der Kriminaltechnik erwarb sie im Rahmen eines Master-Studiums in Forensic Sciences and Engineering. Diese Kenntnisse ermöglichen es der Autorin, den Lesern tiefe Einblicke in pathologisches Denken und Agieren gewähren. Mit besonderem Geschick verknüpft Franziska Steinhauer dabei mörderisches Handeln, Lokalkolorit und Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ihre Romane zeichnen sich vor allem durch gut recherchierte Details und eine besonders lebendige Darstellung der jeweiligen Figuren aus. »Spreewaldmord« ist ihr 25. Kriminalroman.

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Spreewaldmord (2019)

Spreewald-Tiger (2018)

Der Werwolf von Hannover – Fritz Haarmann (2017)

Fluch über Rungholt (2017)

Todessehnsucht (2016)

Brandherz (2015)

Wer mordet schon in Cottbus und im Spreewald? (2014)

Die Stunde des Medicus (2014)

Kumpeltod (2013)

Zur Strecke gebracht,

zusammen mit Wolfgang Spyra (2012)

Sturm über Branitz (2011)

Spielwiese (2011)

Gurkensaat (2010)

Wortlos (2009)

Menschenfänger (2008)

Narrenspiel (2007)

Seelenqual (2006)

Racheakt (2006)

Impressum

Dieses Buch wurde vermittelt durch die

Literaturische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

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Alle Rechte vorbehalten

4. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ullstein bild – Bunk

ISBN 978-3-8392-5376-2

Lied

Warte, warte nur ein Weilchen,

bald kommt Haarmann auch zu dir.

mit dem kleinen Hackebeilchen

macht er Schabefleisch aus dir.

Aus den Augen macht er Sülze,

aus dem Hintern macht er Speck,

aus den Därmen macht er Würste


und den Rest, den schmeißt er weg.

In Hannover an der Leine,

Rote Reihe Nummer 8

wohnt der Massenmörder Haarmann,

der so manchen umgebracht.

Haarmann hat auch ein’ Gehilfen,

Grans hieß dieser junge Mann.

Dieser lockte mit Behagen

alle kleinen Jungen an.

»Haarmannlied« zur Melodie des Operettenliedes »Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt auch das Glück zu dir«. Es gibt unterschiedliche Varianten des Textes.

Die Mordserie des Friedrich Haarmann

In den Jahren 1923 / 1924 wurde Hannover von einer Mordserie erschüttert, deren Ausmaß den Menschen erst nach und nach bewusst wurde. Der Altkleiderhändler Fritz Haarmann, der manchen auch »Der beste Mann von Hannover« war, hatte innerhalb dieser Zeit mehr als 20 Jungs und junge Männer ermordet, ihre Leichen zerstückelt und die Knochen in die nahe Leine geworfen. Er verschaffte sich mit einem Ausweis, der ihn als Mitarbeiter des Polizeipräsidiums erscheinen ließ, Zutritt zu den Wartesälen der 1. und 2. Klasse am Bahnhof, sprach dort allein reisende Jugendliche an, lud sie ein, die Nacht bei ihm zu verbringen, lockte mit der Aussicht auf leicht verdientes Geld und eine gute Mahlzeit. Arglos gingen viele mit ihm.

»Onkel Fritze«, der homosexuell war, nahm auch junge Männer mit, die sich als »Puppenjungs« verdingten und ihre Dienste an bekannten Orten in der Stadt dieser besonderen Kundschaft anboten, in der Hoffnung auf schnelles Geld.

Erst, als im Mai / Juni 1924 einzelne Schädel in der Leine entdeckt wurden und die Unruhe in der Bevölkerung deutlichem Protestmurren wich, die Bürger gar in einer Aktion zu Pfingsten selbst den Fluss nach Knochen abfischten, kam Bewegung in die Ermittlungen. Der Wasserpegel der Leine wurde abgesenkt. Eine Suchaktion der Polizei förderte, neben einer Vielzahl anderer Knochen, die Oberschenkelknochen von 22 verschiedenen Menschen zutage.

Die Opfer: allesamt männlich im Alter zwischen zehn und 25 Jahren. Man begann, die Homosexuellenszene Hannovers gründlicher zu überwachen. Fünf bis sechs der bekannten Homosexuellen gerieten in engeren Verdacht und wurden fortan beschattet, darunter auch Fritz Haarmann.

Durch einen Zufall ging er der Polizei ins Netz.

Am 23. Juni 1924 wurde er festgenommen.

Knapp zwei Wochen nach seinem letzten Mord.

1. Kapitel

1918 Ende September / Fritz Haarmann

Es war ganz einfach.

Diesmal habe ich es wirklich besonders geschickt eingefädelt!

Die beiden waren arglos und ich viel schlauer als sie.

Erst hatte ich den einen angesprochen, dann schickte der mir auch noch seinen Freund vorbei. Besser hätte es kaum sein können.

Nicht wie damals, als der blöde kleine Widerling nach Hause gelaufen ist, um seinem Vater zu erzählen, dass ich ihn angesprochen hätte und mit in mein Zimmer nehmen wollte.

Bloß gut, dass ich die Sache vor Gericht noch klarstellen konnte! Alles nur ein Missverständnis. Der Junge muss da was in den falschen Hals gekriegt haben. Kommt ja gern vor in dem Alter.

Ins Gefängnis musste ich dennoch! Immer wieder! Nicht so schlimm, wie man meinen könnte. Inzwischen kenne ich mich da gut aus. Und die anderen haben mich auch gleich wiedererkannt. Stammen ja viele aus meinem Viertel. Ist wie in einer Familie, wo man ja den einen oder anderen Verwandten auch mal längere Zeit nicht zu Gesicht bekommt.

Ehrlich: Diesmal war es so einfach, unglaublich.

Er kam brav mit, tat, was ich mir von ihm wünschte. Alles.

War immer willig, gab nie Widerworte. Fragte nicht.

Natürlich ging es von seiner Seite aus nur um Geld.

Geht es fast immer, liegt an den schweren Zeiten – ist mir auch gleichgültig.

Ich zahlte. Und zwar gut. Beschenkte sie auch. Keiner, der bei mir über Nacht bleibt, muss etwa hungrig oder durstig in mein Bett kommen. Frühstück inklusive.

Er war ja nicht zum ersten Mal mit bei mir, wusste genau, was ich von ihm erwartete. Und auch ihn habe ich bei jedem Besuch gut versorgt. Ist eben so meine Art.

Und er war schön!

Alles war wunderbar.

Bis ich dann plötzlich aufgewacht bin. Wohl, weil sich etwas falsch anfühlte, sonst schlafe ich nämlich immer gut, tief und traumlos.

Der arme kleine Schatz – tot!

Blut war nicht zu sehen – aber ich spürte einen metallischen Geschmack in meinem Mund, schwer und widerlich. Als hätte ich mal wieder Nasenbluten gehabt.

Und der Anblick!

Seine zarte, bleiche Kehle … schauderhaft.

Zahneindrücke.

Zu beiden Seiten des Halses.

Alles bläulich-violett, wie bei den Lutschflecken.

Schnell deckte ich ihn zu.

Doch dann kamen mir Zweifel. Also hob ich die Decke noch einmal an, sah gründlich nach, ob ich mich vielleicht getäuscht habe.

Nein!

Mir war auf einen Schlag kotzübel.

Was konnte ihm nur zugestoßen sein?

Wie war das nur möglich, ein so junge Kerl, voller Lachen und Lebenslust – ganz plötzlich kalt und leblos? Und der Hals?

Er hatte wenige Stunden zuvor einen vollkommen gesunden Eindruck gemacht – und doch – es war nicht zu übersehen, gab nicht den geringsten Zweifel, er war tot.

 

Ich sprang entgeistert aus dem Bett.

Von allein war ihm das nicht passiert! Unmöglich! Unvorstellbar!

Konnte es sein? Ich war schuld? Hatte etwa ich ihn getötet? Ich? Im Rausch, sexueller Gier?

Ausgeschlossen!

So etwas war ja noch nie vorgekommen!

Lautlos hastete ich zur Tür.

Überprüfte die wahrscheinlichste Variante: Es war jemand hereingekommen, während wir geschlafen hatten! Ganz bestimmt!

Abgesperrt!

Von innen. Der Schlüssel im Schloss.

Mir war schwindelig, ich musste mich an die Wand lehnen. Abwarten, bis die Welt anhalten wollte.

Wir waren also allein geblieben – die ganze Zeit!

Ich! Meine Schuld!

Wie ich es auch hin- und herwendete, es sah so aus, als hätte ich ihn umgebracht.

Das Unbegreifliche meiner Tat erreichte nur langsam mein Denken, das nichts davon wissen wollte und nicht erinnerte, wie all das geschehen sein sollte. Wie auch?

Die Stimme meiner Mutter bohrend in meinem Kopf »Fritz, sag mir, wo ist der Junge? Los, sag es mir! Wo ist dein Junge?« Unscharfe Erinnerungen. War es möglich? Dieser ist nicht der Erste?

Doch, behauptete ich mich gegen die Stimme, so etwas gab es noch nicht.

Aber wenn ich ehrlich war, konnte ich das nicht mit letzter Sicherheit sagen.

Mein Körper zitterte, als ich das Leichtgewicht aus dem Bett hob und auf den Boden legte. Tränen rannen über mein Gesicht – nein – die Wahrheit ist, ich weinte bitterlich wie ein geprügeltes Kind.

Und wusste, dass etwas geschehen musste!

Hier auf dem Boden zwischen Bett und Tisch konnte er schließlich nicht liegen bleiben. Sein Körper musste verschwinden. Und zwar am besten so, dass er für immer unsichtbar bliebe. Schon bald würde man nach ihm zu suchen beginnen. In dem Alter werden sie häufig noch von den Eltern vermisst, wenn sie nicht zum Abendessen nach Hause kommen.

Später, wenn sie etwas älter sind, lässt das schnell nach.

Der arme kleine Kerl.

In einem Stück war er nicht aus dem Zimmer zu bringen. Das Risiko war viel zu groß, dass es jemandem in der Nachbarschaft auffallen könnte. Viel zu auffällig. Und wenn man mich mit einem toten Kind über der Schulter anträfe, wäre ich schließlich um eine kluge Antwort verlegen.

Kleinteilig müsste es gehen.

Wahrscheinlich vier oder fünf Gänge, überschlug ich mit Blick auf den Jungen. Das sollte reichen, um ihn in kleinen Portionen abzuwerfen.

Ich schluchzte noch immer.

So ein hübscher Junge!

Eine Schande!

Vorsichtig breitete ich meine Decke über ihn und schob ihn so weit unters Bett, wie es nur möglich war. Bei einem flüchtigen Blick über die Einrichtung konnte einem der Leichnam entgehen.

Dann zog ich mich an. Verließ das Zimmer. Beschloss, zunächst bei meiner Schwester unterzukriechen, Emma Burschel. Bei ihr könnte ich in Ruhe planen, wie ich nun vorgehen würde.

Schlafen konnte ich nicht mehr in dem Zimmer, über seinem Körper.

Nein! Ausgeschlossen!

Denken auch nicht, wenn ich wusste, dass er mir dabei zuhört.

2. Kapitel

1924 im Juni

Theodor Lamm war unzufrieden.

Mehr als das, wenn er es genau bedachte. Heißer Zorn traf seine Gefühlslage besser.

Der letzte Sommer in Freiheit, so empfand er es wenigstens, lag nun vor ihm, nur noch ein paar Wochen und er musste den Betrieb seines Vaters übernehmen.

Gerade jetzt nicht eben eine verlockende Aussicht.

Nachkriegszeit. Besatzungszeit. Unsicherheiten und Unwägbarkeiten.

Wer hatte schon genug Geld, um sich neue Möbel schreinern zu lassen? Im Moment kauften die Leute am liebsten gar nichts – und die Dinge des täglichen Bedarfs erstanden sie auf dem Schleichmarkt.

Theodor seufzte schwer.

Er war das einzige Kind, hatte schlicht keine andere Wahl. Dabei wäre er so viel lieber Schauspieler geworden. Talent war bei ihm ohne Frage vorhanden! »Nach der Schreinerlehre«, hatte der Vater versprochen. Dann! Er bekäme die Möglichkeit sich auszuprobieren. Wenigstens für einige Zeit.

Und nun?

Nichts! Der Vater erlitt im Februar einen schweren Sturz und arbeiten war eine schier unlösbare Herausforderung. An manchen Tagen schaffte er es nicht einmal, die Werkstatt zu erreichen. So entschied sich, er, der Sohn, habe den Betrieb zu retten. Jetzt und sofort!

Was für eine bittere Enttäuschung! All seine Pläne – nur noch Makulatur.

Immerhin gelang es ihm, dem Vater ein paar Wochen Ferien abzutrotzen.

Ab kommendem Montag.

Doch was konnte er in der freien Zeit unternehmen?

Unschlüssig spazierte er an der Leine entlang, die hier an dicht bewachsenem Ufer vorbeizog. Ein idyllischer, geheimer Ort für Verliebte.

Damit war es allerdings erst mal vorbei.

»Seine Sabine« poussierte mit einem anderen, hatte ihn wissen lassen, sie wolle ihn nicht mehr treffen.

Natürlich sollte er eigentlich wütend auf sie sein.

Vielleicht sie sogar hassen.

Aber wenn er ehrlich zu sich war, tat es einfach nur verflixt weh!

Wie wunderbar hätten die zwei freien Wochen mit ihr an seiner Seite sein können!

Er seufzte sehnsuchtsvoll.

Rieb ein wenig Feuchtigkeit aus den brennenden Augen. Blinzelte vorwurfsvoll in die Sonne, als sei sie schuld an den Tränen gewesen.

»Theo!«, rief ihn plötzlich jemand an. »Na, das ist ja eine Überraschung! Was für ein Zufall!« Ein junger Mann sprang sportlich von seinem Rad und rannte die letzten Meter auf ihn zu.

Theo kniff die Augen zusammen.

»Ludwig? Bist du das wirklich?«, jubelte er dann glücklich und nahm den Freund aus Schultagen fest in die Arme. Klopfte ihm auf den Rücken. »Mensch Ludwig! Was tust du denn hier? Deine Mutter hat meiner erzählt, du wärst in Göttingen an der Universität!«

»Stimmt ja, immerhin fast. Ich beginne dort mit dem Medizinstudium. Aber bis dahin ist noch ein bisschen Zeit.« Das Strahlen war aus seinen Zügen wie ausradiert, als er hinzusetzte: »Das Ende der Freiheit ist nah. Das Studium soll straff und hart sein, danach muss ich in der Praxis meines Vaters mitarbeiten, sie später ganz übernehmen.«

»Oh, dann wirst du unser neuer Hausarzt!«

»Gut möglich! Wenn ich euch als junger Arzt frisch von der Uni vertrauenswürdig genug bin!«, freute sich der junge Mann sichtlich über das Zusammentreffen. »Und du? Was machst du?«

Nun verdüsterte sich Theos Miene schlagartig.

»Ach, es ist halt, wie es ist«, fiel die Antwort traurig und etwas kryptisch aus.

»Und das heißt?« Ludwig ließ nicht locker, strich sich das seitlich gescheitelte Haar nach hinten.

»Na, ich bin fertig mit der Lehre. Geselle. Das Meisterstück entsteht gerade. Und nun soll ich Vaters Tischlerei und Schreinerbetrieb übernehmen«, maulte der Freund, und seine dunklen Augen bekamen einen finsteren Schimmer.

»Das ist doch das Schlechteste nicht!«, tröstete Ludwig. »Handwerker finden auch in schweren Zeiten wie diesen ihr Auskommen. Oder stimmt das nicht?«

Die jungen Männer setzten sich an den Rand des Weges. Das Rad lehnte geduldig an einem Busch.

»Der Boden des Handwerks ist nur dann golden, wenn die Kunden auch was ausgeben können. Und im Moment sieht es damit wahrlich nicht gut aus. Es wird schon weitergehen. Irgendwie.« Er schwieg. Ludwig wartete ruhig ab. Als Theo weitersprach, klang seine Stimme seltsam belegt. »Dabei wollte ich doch Schauspieler werden! Ein richtig guter! Möglich, dass ich berühmt geworden wäre. Einer, von dem man auf den Straßen spricht. Talent sei genug vorhanden, hat man mir gesagt. Lichtspielhäuser oder Theater, ich könne es überall schaffen! Tja. Nun ist es vorbei – ausgeträumt!«

Ludwig sah den Freund nachdenklich an.

»Manches erweist sich erst mit der Zeit, Theo. Du kannst auch ein wirklich guter Schreiner und Tischler sein, von dem man mit Hochachtung spricht. Wer weiß, möglich, dass du einen Stuhl oder eine Couch entwirfst, die weltweit für Aufsehen sorgen. Später wird es vielleicht Bücher über deine überaus kunstvoll gestalteten Möbel geben! Und wer weiß denn schon, was die Zukunft bringt – am Ende wird dein Traum doch noch wahr! Ihn aufzugeben, ist es viel zu früh!« Dann fragte er plötzlich aufgeregt: »Wann sollst du den Betrieb denn übernehmen? Dein Vater ist doch nicht im richtigen Alter für ein Sich-zur-Ruhe-Setzen.«

»Er kann nicht mehr gut arbeiten – hatte einen Unfall. Deshalb soll ich jetzt sofort einspringen. Ich konnte gerade noch eine freie Zeit von etwa zwei Wochen aushandeln.«

»Beginnen die zwei Wochen vielleicht in den nächsten Tagen?«

»Ja. Eigentlich wollte ich …«, er seufzte wieder, »aber die Weibsleute, na ja. Du weißt schon.«

»Gut. Wenn du jetzt keine Planung mehr hast, dann hätte ich vielleicht eine gute Idee für uns beide. Komm, wir gehen ein Stück den Fluss entlang.«

So spazierten die Freunde nebeneinander her, waren vertraut, als habe es die zeitliche Trennung durch Schule und Lehre nie gegeben. Ein jeder machte seinem Herzen Luft, und Ludwig skizzierte seine Überlegungen für die kommenden beiden Wochen.

Theodor war sofort Feuer und Flamme.

»Mit Rad und Zelt? Wunderbar! Ich bin dabei!« Nach kurzem Überlegen: »Ich habe allerdings weder das eine noch das andere!« Nach einer kurzen Pause: »Aber ich weiß, wo ich es bekommen kann!«

Er schlug ein, und Ludwig versprach, am nächsten Tag wiederzukommen, um die – wie er es nannte – Feinabstimmung zu besprechen.

3. Kapitel

1918 September / Fritz Haarmann

Als ich am nächsten Tag wiederkam, hing schon ein lästiger Geruch über dem Laden neben der Kammer. Auf dem Flur war noch nichts davon zu bemerken, aber das würde sich ändern, es war nur eine Frage der Zeit.

Irgendwie rechnete ich – völlig wider den gesunden Menschenverstand – fest damit, von ihm angesprungen zu werden, als ich die Tür langsam ein wenig aufschob. Besorgt durch den Spalt blinzelte.

Alles ruhig.

Er lag, wie ich ihn verlassen hatte. Zugedeckt, so gut wie möglich unter dem Bett verborgen.

Und er war längst nicht mehr allein.

Fliegen!

Nun, das überraschte mich nicht. Ich dachte daran zu lüften, unterließ es dann zunächst. Musste aber später doch das Fenster öffnen, weil … na ja. Blut und Zersetzung. Keine gute Mischung. Und eine, die den anderen Mietern im Haus besser verborgen blieb.

Eine halbe Stunde saß ich wohl einfach da und sah ihn an.

Ich wollte nicht mit dem beginnen, was letztlich unausweichlich sein würde.

Tatsächlich war er noch immer schön. Und er sah friedlich aus.

Solange der Hals nicht zu sehen war, konnte man glauben er schlafe tief, sei vielleicht ein wenig blass.

Das galt schließlich für viele, deren Ernährungslage schlecht war, hatte in der Regel nicht mehr als das zu bedeuten.

Allerdings zeigten sich bei ihm schon an einigen Stellen violette Flecken.

Nach einer weiteren Stunde, in der ich ruhelos auf und ab gegangen war, begann ich die Dinge zu richten, die ich wohl benötigen würde.

Das kleine Küchenmesser, mit dem ich normalerweise Kartoffeln schälte, zog ich energisch über den Wetzstahl, damit es gut durchs Gewebe fahren würde. Das Gleiche tat ich mit der Schneide des etwas größeren Exemplars. Ich legte beide in einen Eimer, deckte ein Tuch darüber und gönnte mir eine Pause. Es strengt durchaus an, sich solche Handlungen vorzustellen und dabei noch den Überblick zu behalten. Jeder Fehler … ein Kopf ist schnell verloren, wenn man bei so etwas erwischt wird.

Mein kleines Beil würde ich auch brauchen, Papier, um die Päckchen zu packen, die Wachstuchtasche, um alles wegzubringen. Zur Leine. Der Fluss würde den Rest erledigen.

Ich müsste zuvor probieren, was von ihm schwimmen würde.

Fleischstücke auf dem Wasser könnten verraten, was hier entsorgt wurde, das ging also nicht.

Was, wenn ich beim Füttern der Fische beobachtet würde?

An der Brückmühle zu gefährlich.

Hinter jedem Fenster Augen, die neugierig Ausschau hielten.

Morgen.

Morgen würde ich wiederkommen und austesten, was schwamm und was nicht.

Für heute war es nun wirklich genug.

Als ich ging, die Tür sorgfältig hinter mir verschloss, war ich unendlich traurig.

Meine Schwester, Frau Burschel, fragte mich, warum ich so bleich sei. Etwa wieder krank? Und der seltsame Geruch meiner Kleidung? Woher ich käme? Ob ich mal wieder in Schwierigkeiten steckte? Was ausgefressen hätte? Sie hatte grundsätzlich viele Fragen, wenn ich bei ihr unterschlüpfen wollte.

 

Nein, beruhigte ich sie, alles in Ordnung. Ich war beim Schlachter, aber der hatte nicht viel im Angebot. Und blass sei ich ja öfter.

Die altbekannten Kopfschmerzen eben. Mit Übelkeit.

Sie nickte nur, drang nicht weiter in mich. Mir schien, sie war froh, dass ich nicht mit ihr sprechen wollte, wandte sich ab und ging summend ihrem Tagwerk nach.

Ich dagegen stellte mit vor, wie sie reagieren würde, wenn ich nun gesagt hätte, das mit dem blassen Aussehen liegt an dem toten Jungen in meinem Zimmer, der schon stinkt und den ich irgendwie loswerden muss, damit nicht der Henker mich holt. Liegt an dem bedauernswerten Kerl, den ich getötet habe – nicht mit Absicht – aber tot ist er dennoch.

Mutter hätte mich verstanden. Sie wusste, dass ich nie mit Absicht … und wenn etwas aus Versehen geschah, war man im Grunde nicht schuld, so hat sie mir das erklärt. Gott versteht das auch, dass es da einen Unterschied gibt.

Dem Jungen war das jetzt natürlich egal.

Tot ist tot.