Hausgemeinschaft mit dem Tod

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Aus der Reihe: Mord und Nachschlag
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Fahrig griffen Agnetas Finger nach einer Schachtel Zigaretten, schüttelten eine heraus. Gierig nahm sie den ersten Zug und goss sich aus einer halbleeren Flasche einen neuen Whisky ein.

»Es wirkt nicht. Ich versuche es schon seit Stunden, aber der erhoffte Nebel stellt sich nicht ein.« Sie trank das Glas auf ex. »Simone war in einer schwierigen Phase. Die Pubertät brach sich Bahn. Das macht aus niedlichen Mädchen zickige und anstrengende Gören. Gottwald war gereizt und aggressiv, wollte sich aber dennoch nicht überreden lassen, auf den Tag mit seiner Tochter zu verzichten. Er hat seit einiger Zeit eine neue Bettgenossin. Über kurz oder lang wird er sie genauso betrügen, wie er es mit mir getan hat. Aber mir kam es so vor, als hätten sie jetzt schon Streit gehabt.« Nach tiefem Luftholen setzte sie zornig hinzu: »Gottwald ist ein Arschloch!«

Sie schwieg.

Nach einer langen Pause erkundigte sie sich leise nach dem Wie.

»Wir wissen es noch nicht genau. Simone wird untersucht und der Rechtsmediziner findet heraus, wie sie gestorben ist.«

»Hat er … sie vergewaltigt?«, hauchte Agneta ihre nächste Frage.

Lundquist war erleichtert, ihr sagen zu können, dass er auch das nicht wusste.

»Ist Gottwald so etwas wirklich zuzutrauen? Dass er sich an der eigenen Tochter vergreift?«

»Ihm ist alles zuzutrauen!«, schrie sie plötzlich unbeherrscht. »Wenn er etwas will, dann nimmt er es sich. Da wird nicht gefragt oder gar an der Richtigkeit des eigenen Tuns gezweifelt. Lest ihr keine Zeitung? Genau so ist Gottwald, er verstellt sich nicht ein bisschen für die Presse!«

Lars und Sven wechselten einen kurzen Blick. Also doch der Gottwald Paulsson. Leiter eines Unternehmens, das Software entwickelte und Hardwarelösungen für seine Kunden nach individuellen Bedürfnissen zusammenstellte. Einer der Reichen in Schweden, dachte Knyst grimmig.

Nur das leise Prasseln des Regens gegen die Fenster war zu hören.

»Wo?«

»Sie wurde in einem der Einkaufswagen neben dem Supermarkt im Köpcenter entdeckt. Der Täter hatte sie auf eine weiche Decke gebettet. Die Kollegen suchen in der Nachbarschaft nach ihrer Tasche und der Jacke. Vielleicht hat der Mörder sie irgendwo weggeworfen, weil biologische Spuren von ihm darauf zu finden wären.«

Das Wort »Spermaspuren« verwendete er nicht.

»Biologische Spuren. Blut, Haare, Sperma, Fingerspuren, Hautpartikel. Ich sehe auch fern!«, schnappte Agneta.

Eine neue Zigarette.

»Mein Gott! Ich gehe dort auch einkaufen. Das kann ich nun nicht mehr. Am Ende schiebe ich den Wagen durch den Gang, in dem mein kleines Mädchen gelegen hat!«

Nun weinte sie doch.

Suchte hektisch nach einer Packung Papiertaschentücher, putzte sich die Nase, schniefte, schluchzte.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

»Können wir jemanden anrufen, der dir jetzt beisteht?«

»Wen denn? Alle meine Freunde waren Gottwalds Freunde. Nach der Scheidung blieben sie beim Geld. Bei mir war nichts zu holen. Seht euch doch hier um! Ich lebe vom Staat und den paar Krümeln, die Gottwald unter seinem Frühstückstisch zusammenkehrt!«

Sie schniefte wieder.

»Und nun hat er mir das Einzige genommen, was mein Leben noch lebenswert gemacht hat!«

Lundquist setzte sich zu ihr auf die Couch.

»Warum bist du so sicher, Gottwald habe Simone getötet?«, erkundigte er sich leise.

»Weil er mich hasst. Er versucht seit unserer Scheidung, mich endgültig zu vernichten, aus seinem Leben zu tilgen. Er muss einen Unterhalt für Simone bezahlen. Doch das Kind ist nicht so dämlich wie seine Mutter. Sie hat immer wieder mal weitere Forderungen an ihn. Solche, die Geld kosten. Er knirscht sicher bei jedem Mal mit den Zähnen, wenn er löhnen soll.«

»Gottwald ist geizig?«

»Na, wie glaubst du wohl, kommt man zu Reichtum? Durch Knickerei und Geiz. Wenn du keine Krone ausgibst, legt sie sich zu den anderen auf dem Konto – so vermehren sie sich. Das ist das ganze Geheimnis!«, zischte sie bitter. »Simone hat sich von seinem Gejammer nicht beeindrucken lassen. Sie wollte nicht so enden wie ich.«

Verlegen heftete Lars seinen Blick an seine Schuhspitzen.

Ist das nun Selbstmitleid oder hält Gottwald die beiden wirklich finanziell an der kurzen Leine?, grübelte er. Wir müssen nachprüfen, ob es Unterhaltsregelungen gibt, mag sein, Agnetas Notlage ist mehr gefühlt denn real.

Die Mutter schluchzte leise, grabbelte ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch aus der Hosentasche und versuchte ungeschickt, es auseinanderzuzerren, um eine benutzbare Stelle zu finden.

»Er hasst mich. Sein ganzes Denken kreist nur um die Frage, wie er mich verletzen kann. Ich weiß, dass es ihm darum geht, mich zu zerstören, auszulöschen! Simone zu töten sähe ihm ähnlich – der letzte Schlag gegen Agneta!«

»Du hast ihn damals verlassen?«

»Ja.«

»Warum?«

Ihr verschleierter Blick traf ihn und neben Trauer und Verzweiflung erkannte Sven noch etwas anderes: Angst.

»Wir versuchen uns ein Bild zu machen. Von eurer Beziehung, von der zu Simone, von Gottwald.«

»Er war ein perverses Schwein!«, brach es aus der Mutter hervor und sie zündete sich eine weitere Zigarette an. Sven bemerkte, wie sehr ihre Hände dabei zitterten. »Ich weiß nicht, ob du über ausreichend Fantasie verfügst, dir vorzustellen, was ein Kerl wie … Gottwald … einer Frau antun kann. Sadistische Spielchen, Quälereien, Demütigungen – das volle Programm. Allein seine körperliche Überlegenheit macht Gegenwehr zwecklos. Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, war es leid, ständig Lügen zu erzählen, um die blauen Flecken zu erklären, das schon wieder geschwollene Auge, den gebrochenen Arm, die Platzwunde über der Augenbraue. Simone wuchs heran; der Gedanke, er könnte auf die Idee kommen, sich an ihr zu vergehen, gab dann den Ausschlag. Ich suchte mir professionelle Unterstützung und reichte die Scheidung ein.«

»Du hast ihn angezeigt?«, wollte Lars wissen.

Agneta schüttelte den Kopf.

»Ich wollte nur mein Kind und mich in Sicherheit bringen. Weg von Gottwald.«

»Aber hättest du ihn vor Gericht gebracht, wäre ihm sicher kein Umgangsrecht mit Simone eingeräumt worden!«

»Mir hätte doch nie jemand geglaubt! Ich habe keinem je von all dem erzählt – es war mir peinlich. Er wäre als strahlender Sieger vom Platz gegangen, und mir hätte der Richter am Ende gar das Sorgerecht für meine Tochter entzogen! Nein, nein, das durfte ich auf keinen Fall riskieren. Wir hatten eine Art Deal: Ich schweige und er lässt uns in Ruhe. Für seine Firma wäre es keine gute Publicity gewesen, hätte ich ihn … das war ihm bewusst. Deshalb musste er Simone auch immer pünktlich direkt in meine Hand abliefern. Seit der neuen Hure in seinem Leben ist er sexuell ausgelastet. Die macht wohl zu jeder Zeit die Beine breit und kriecht willig vor ihm im Dreck!«

»Hat Simone das erzählt?«

»Nicht mit diesen Worten.«

Sie schwieg, drückte die Zigarette aus, starrte auf ihre zuckenden Finger.

»Du hast versucht, Simone vor einem Missbrauch zu beschützen. Nun bist du dir nicht sicher, ob das auch wirklich funktioniert hat.«

»Hat er sie wirklich nicht …?«, fragte sie ungläubig.

»Wir müssen noch ein paar Stunden warten. Ergebnisse kommen nicht innerhalb von Minuten«, gab Sven zurück, ohne zu erwähnen, was in dieser Zeitspanne mit Simones Körper geschehen würde.

»Man wird sie ...?«, die Mutter rang ebenfalls um eine Verschleierung des Unvorstellbaren, »… untersuchen?«

Lundquist nickte.

»Es ist notwendig. Wir müssen wissen, woran genau Simone gestorben ist«, sagte Lars Knyst unnötig scharf.

»Ich will meine Tochter sehen!«

»Natürlich. Wir müssen dich auch bitten, sie zu identifizieren«, erklärte Sven fast unhörbar. Seine Augen suchten die des Freundes, der auf der Tastatur seines Handys eine Nummer tippte.

»Nichts«, seufzte Lars enttäuscht. »Der Teilnehmer ist nicht erreichbar.«

»Bei mir geht er auch nicht ran!«, knurrte Agneta. »Er hat unsere Tochter umgebracht und nun setzt er sich ab! Mit seinem neuen demütigen Liebchen und jeder Menge Kohle. Die fangen in der Sonne ein neues Leben an und mich lassen sie einsam in der Kälte verrotten! Feiner Plan, Gottwald!«, schluchzte sie und warf sich auf die Couch.

»Wir sind dran. Er kann nicht so einfach verschwinden.« Sven war sich nicht sicher, ob sie seine Worte überhaupt gehört hatte.

»Hatte Simone enge Freundinnen?«, erkundigte sich Lars vorsichtig.

Agneta atmete schwer.

Sie richtete sich wieder auf und wischte sich mit einem Kissen über ihr Gesicht.

»Wenige. Simone hatte nicht genug Geld, um mit ihren Klassenkameradinnen mitzuhalten. Die wollen mit armen Würstchen nichts zu tun haben. Aber so zwei, drei Namen kann ich euch aufschreiben. Eine Mutter weiß nur, was man sie wissen lässt – sollte es noch andere Freunde gegeben haben, werden euch eher die Mädchen weiterhelfen können als ich.«

»Wir würden uns gern in Simones Zimmer umsehen.«

»Den Flur entlang, die letzte Tür links«, presste die Mutter mühsam hervor.

Lundquist öffnete die Tür und blieb überwältigt stehen.

»Sieht aus wie in einer teuren Boutique!«

»Erstaunlich, wo wir doch gerade gehört haben, sie habe mit den anderen finanziell nicht mithalten können«, murrte Lars, der das Gefühl hatte, belogen worden zu sein.

»Vom Vater erpresst, könnte ich mir vorstellen. Schuldgefühle. Manche versuchen sich davon freizukaufen.«

»Hm.« Knyst war nicht überzeugt.

Auf Metallständern hingen unzählige bunte Oberteile, einige Kleider und Jacken, in einem Billy-Regal hatten Hosen und Pullover sowie T-Shirts Platz gefunden.

 

»Offensichtlich war Pink ihr bevorzugter Farbton«, grunzte Lars. »Bei Jungs zum Glück nicht so angesagt.« Er trat ein, fühlte sich in der Mädchenatmosphäre deutlich unwohl. »Ein paar Hefte auf dem Schreibtisch, ein Laptop, ein paar Bücher, ein CD-Player. Kein Spielzeug – bis auf den Bären im Wohnzimmer.«

»Mit ihrer Kindheit hatte sie offensichtlich abgeschlossen.« Sven zog die oberste der Schreibtischschubladen auf. Lippenstifte und Lidschattendöschen, Kajalstifte und Mascaras rollten durcheinander. In der darunter fanden sich Hefte und ein paar Fotos. »Sieht nicht so aus, als habe sie hier ein Tagebuch rumliegen.«

»Das hat man heute nicht mehr. Weißt du, ich glaube, wir werden eher auf ihrem Laptop etwas in der Art finden. Eine Datei »Tagebuch«, oder vielleicht hatte sie einen Blog.«

Lars wies auf das ebenfalls pinkfarbene Notebook auf dem Nachttisch.

»Theoretisch wäre das sogar sicherer als ein Buch. Wenn der Computer passwortgeschützt ist, kann die Mutter nicht zugreifen. Wir nehmen das Gerät mit«, entschied Lundquist. »Die Kollegen finden vielleicht etwas, das uns weiterhilft.«

Die beiden Männer hatten gar nicht bemerkt, dass Agneta ihnen gefolgt war.

So schraken beide zusammen, als sie plötzlich höhnisch sagte: »Klar, nur zu! Wahrscheinlich findet ihr den Mörder zwischen den Mails! Er wird ihr wohl kaum eine Einladung zum eigenen Tod geschickt haben!«

Sie putze sich die Nase und verkündete dann laut: »Am besten fahren wir jetzt gleich zu Simone!«

»Simone wurde eindeutig von ihrer Mutter identifiziert«, stellte Lundquist fest. »Agneta Paulsson bleibt bei ihrer Behauptung, der Kindsvater, Gottwald, sei der Mörder ihrer Tochter.«

Er legte ein paar Tatortfotos auf den Tisch des Besprechungsraumes.

»Die Detailaufnahmen kommen nach.«

Stumm starrten alle auf die Bilder.

Die Grausamkeit war trotz der umfassenden Perspektive erkennbar.

»Der eigene Vater hat sie dort abgelegt?«, flüsterte Britta.

»Behauptet die Mutter.« Auch Svens Stimme war gedämpft.

Ein polyphoner Klingelton ließ alle zusammenfahren.

»Die Kollegen von der Bereitschaft sind noch einmal zu Gottwalds Adresse gefahren. Dort ist offensichtlich alles dunkel, niemand öffnet.« Knyst schob das Mobiltelefon wieder in die Jackentasche zurück.

»Was für einen Wagen fährt Paulsson eigentlich?«, erkundigte sich Ole.

»Einen weißen Porsche Cayenne. Alle Einsatzwagen sind informiert, wenn er irgendwo abgestellt wurde, werden sie ihn finden.«

»Parkhäuser?«, fragte Sven knapp. So geizig war Gottwald dann wohl doch nicht, schoss ihm durch den Kopf. Wie teuer mochte solch ein Wagen sein? 650.000 SEK? 1.300.000 SEK, nach oben offen?

»Werden gründlich gecheckt.«

Drei Stunden nach der Entdeckung von Simones Leiche behauptete Gottwalds Handy noch immer, er sei nicht erreichbar.

»Glaubst du, er ist untergetaucht?«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, knurrte Sven zurück. »Stell dir vor, Gottwald war, nachdem er Simone nach Hause gebracht hatte, im Kino. Das Telefon stellt er aus, er will nicht gestört werden. Auf dem Rückweg vergisst er, es wieder einzuschalten. Und wir verdächtigen ihn deshalb des Mordes an seiner Tochter?«

Ole runzelte die Stirn. »Vielleicht hatte er ja wirklich einen Unfall. Nicht schlimm genug, um ins Krankenhaus gebracht zu werden, aber so, dass er sich ausruhen möchte. Kopfschmerzen?«

»Klar!«, fauchte Britta. »Die Mutter erzählt uns von ihrer Angst, Gottwald könne sich an der Tochter vergreifen und die Männer hier am Tisch glauben an einen Unfall! Zögern, ihn als potenziellen Täter in Betracht zu ziehen!«

»Wenn sie wirklich angenommen hätte, das Mädchen sei in akuter Gefahr, hätte sie es nicht mit ihm gehen lassen«, warf Lars ein.

»Es gibt Männer, gegen deren Willen kannst du dich als Frau nicht so ohne weiteres auflehnen – und wie eine starke Frau kommt Agneta mir nach eurem Bericht nicht vor.«

»Britta! Wir wissen nichts, gar nichts bisher. Und schon gleich überhaupt nichts, was den Verdacht nahe legen könnte, Gottwald sei pervers. Das muss alles erst gegengecheckt werden«, stellte Sven klar.

»Er ist eine schillernde Persönlichkeit, provoziert gern mit seinen Äußerungen, ist in der Boulevardpresse stets präsent. Sein Unternehmen bietet maßgeschneiderte Softwarelösungen und Support für kleine und mittelständische Firmen an. Im letzten Jahr ist allerdings ein Einbruch zu verzeichnen – wohl als Auswirkung der Finanzkrise. Immerhin beschäftigt er 75 Mitarbeiter und hat bisher, trotz des Rückgangs der Aufträge, niemanden entlassen«, fasste Ole seine Rechercheergebnisse zusammen.

»Die bunten Gazetten berichteten von seiner Scheidung vor vier Jahren und sind nun voll von Artikeln über seine neue Liebe. Angeblich wollen er und Ingelore noch in diesem Sommer heiraten.«

Bernt stürmte ins Büro und schob sich mit einem verdutzten Gesichtsausdruck hinter den Tisch. »Oh, ich habe mich in der Zeit geirrt«, murmelte er kurzatmig.

»Nein, Bernt, wir hatten gar keine Zeit vereinbart. Gottwald ist noch immer nicht gefunden.« Lundquist nickte dem Kollegen freundlich zu.

»Ja, also dann: Ich habe die Neugierigen am Fundort des Mädchens ein bisschen ausgefragt. Agneta und Simone sind nach der Scheidung in die Wohnung an der Celsiusgatan gezogen. Den Leuten ist gleich aufgefallen, dass es sich um Sozialhilfeempfänger handeln muss. Möbel wie aus dem Sperrmüll, Klamotten schäbig. Besonders bei Agneta. Einige behaupten, sie habe zwei Jogginganzüge, mehr nicht, und beide schrecklich abgetragen, zu weit und nicht von irgendeiner Marke. Simone dagegen war durchaus schicker gekleidet. Mit modischem Outfit für die Schule. Einige der Gaffer kannten die Familie schon länger. Gottwald kam bei Männern wie Frauen nicht gut weg. Sie meinten, er sei unberechenbar und Agneta habe gerade noch rechtzeitig die Reißleine gezogen. Warum, blieb nebulös. Aber in meinen Ohren klang es so, als wäre sie sonst möglicherweise eines gewaltsamen Todes gestorben, wie man so sagt. Ein Zeuge wusste außerdem zu berichten, Gottwald nehme gern an Randalefahrten ins Ausland teil.« Er grinste.

»Neandertalererbgut!«, warf Britta grimmig ein.

»Er habe einen nahezu unstillbaren Hunger nach Sex und Gewalt. Um diese Gier zu befriedigen, fährt er manchmal zu geheimen Treffen und kloppt sich dort gnadenlos. Die Verabredung findet übers Internet statt. Nicht selten sind es über 200 Männer, die sich auf einer Waldlichtung, zum Beispiel irgendwo in Polen, die Glieder zertrümmern und die Visage zu Brei hauen. Abartig, wenn ihr mich fragt. Seine oft nicht unerheblichen Blessuren heilt er angeblich hier zu Hause aus. Nach einer Woche ist das Gesicht meist wieder vorzeigbar, der Rest wird mit einer akzeptablen Erklärung präsentiert.« Bernt schüttelte verständnislos den Kopf. »Seltsame Freizeitbeschäftigung, kann ich da nur sagen.«

»Seine Frau hat auch berichtet, er sei ausgesprochen brutal«, ergänzte Lars.

»Nun, ein Jürg Plotter weiß das auch. Seine Schwester wurde von Gottwald zu einem Vorstellungsgespräch ins Büro bestellt, man trank einen Kaffee. Plötzlich muss er wohl über die junge Frau hergefallen sein. Sie wurde so schwer verletzt, dass sie stationär im Klinikum bleiben musste. Anzeige hat sie natürlich nicht erstattet!«

Knyst versuchte es wieder unter der Handynummer von Gottwald.

»Nichts!«

»Die Namen und Adressen der Zeugen sind notiert, damit wir nachfragen können, woher sie all diese Details wissen«, beendete Bernt seine Aufzählung.

»Auf den ersten Blick wirkte Simone nicht, als sei sie brutal ermordet worden. Wenn Gewalt zur Natur von Gottwald gehört, kann er sie entweder sehr gut kontrollieren oder er war es nicht«, murrte Sven. »Wir müssen auf das Ergebnis der Obduktion warten.«

»Wer geht?«, erkundigte sich Ole.

»Ich!«, entschied Sven, ohne zu zögern. »Es ist besser, wenn ich das übernehme.«

Köpfe senkten sich, Schuhsohlen rieben unangenehm laut über den Bodenbelag.

»Sollte lieber einer machen, der keine Kinder hat«, grummelte Bernt.

»Ich gehe! Keine Diskussion!«, polterte Lundquist.

Eine längere Pause entstand.

»Gegen Mittag wieder hier. Vielleicht finden die Kollegen bis dahin Schuhe, Jacke und Tasche von Simone. Britta, es wäre gut, wir wüssten mehr über Simones Umfeld. Ole, bleib du an den Finanzen von Gottwalds Firma dran, daneben sind die Zeugen, deren Namen Bernt gelistet hat, einzubestellen. Besonders dieser Jürg und seine Schwester.«

4

Dr. Jussi Andersson wartete schon.

»Hej!«, begrüßte er den Hauptkommissar und hob kurz eine Hand als Gruß.

»Morgen.«

Der Händedruck des Rechtsmediziners war weich und doch kraftvoll – ganz anders, als Sven erwartet hatte.

»Die Kleidung des Mädchens ist bereits abgeholt worden, alle Taschen waren leer. Nicht einmal ein Taschentuch war zu finden. Absolut nichts. Gerade in dem Alter stecken sie doch ständig was ein – weil sie es rumzeigen wollen, weil es glitzert, weil sie nicht wissen, was es ist. Aber hier? Wie frisch gewaschen und ausgeschüttelt.«

»Sie war mit ihrem Vater unterwegs. Vielleicht mag der solche Sammelei nicht. Ich frage ihn danach.«

Der schmale Körper lag auf dem frostig anmutenden Edelstahltisch.

Der voll ausgeprägten Leichenstarre wegen in der gleichen Haltung, in der man ihn in den frühen Morgenstunden aus dem Wagenkorb geborgen hatte.

»Wir mussten die Drahtstäbe an einigen Stellen zerschneiden. Sonst hätten beim Herausheben Artefakte entstehen können, die eventuell fälschlich dem Tatgeschehen zugeordnet worden wären.«

Das erbarmungslose Licht der OP-Lampe leuchtete auf das Mädchen hinunter.

Lundquist schluckte hart.

An den Knien, den Armen und der Stirn hatte das sich eindrückende Drahtgeflecht ein deutlich sichtbares, weißes Gittermuster auf der sonst livide verfärbten Haut hinterlassen.

»Alle Auflageflächen zeigen das – dieses Gitter zeichnet sich abgemildert durch die Decke mehr oder weniger stark auf dem Körper ab. An Stirn und Knien besonders deutlich.«

Sven nickte kommentarlos.

»Die Untersuchung mit einer Speziallampe ist bereits abgeschlossen. Einige Fasern konnten wir sicherstellen, aber ehrlich gesagt glaube ich, dass sie nur von ihrer eigenen Kleidung stammen. Kein Blut, kein Sperma auf der Haut.«

»Keine Vergewaltigung?« Sven wollte gerade erleichtert aufatmen, da hörte er den Rechtsmediziner antworten.

»Kein Sperma auf der Haut. Alles andere klären wir jetzt. Es wird sich zeigen, ob wir Hinweise auf einen sexuell motivierten Mord finden.«

»Hast du Einstichverletzungen entdeckt?«

»Nein. Bisher nicht. Sieh mal, ihre Haut ist fast makellos. Nicht einmal ein Hämatom ist zu sehen. Allerdings findet sich am linken Unterarm eine zirkuläre, nicht unterblutete Wunde.« Sven betrachtete die beschriebene Stelle, runzelte die Stirn.

»Nicht unterblutet? Also nach Eintritt des Todes entstanden, meinst du? Vielleicht trug sie ein Armband und der Täter riss es ihr vom Arm.« Er rieb sich am linken Unterarm, ertappte sich dabei und zog die Finger hastig zurück. »Du weißt schon, als Trophäe.«

»Möglich. Könnte aber auch auf dem Transport passiert sein. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass der Fundort auch Tatort war. Allerdings hat der Täter den Körper zügig zum Fundort transportiert, die Leichenflecken sind nur teilweise zur rechten Körperhälfte hin gewandert. Das tun sie nur in einem Zeitraum von wenigen Stunden.«

Jussi Andersson hob die Haare im Nacken etwas an. »Ich habe Hinweise auf die Einwirkung stumpfer Gewalt entdeckt, die bei den schlechten Lichtverhältnissen heute Morgen nicht zu bemerken waren. Hier ist deutlich eine doppelt konturierte Intrakutanblutung zu erkennen. Diese beiden Striemen. Sieht aus wie von einem sehr schmalen Metallrohr.« Er räusperte sich. »Ein hart geführter Handkantenschlag käme eventuell auch infrage.«

»Karate, Kendo? Etwas in der Art? Das würde den Kreis der Verdächtigen deutlich beschränken.«

»Wie gesagt, ein dünnes Metallrohr ist ebenfalls denkbar.«

»Warum zwei Abdrücke?«, wunderte sich der Ermittler.

»Das sind die Stellen, an denen die Waffe mit der größten Wucht auftrifft. Das Gewebe dazwischen weicht aus, der Rand wird stark gequetscht. So entsteht ober- und unterhalb des Tatwerkzeugs je ein Striemen.«

 

Andersson schickte Lundquist in den Flur hinaus. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, gab er dem Sektionsassistenten einen Wink. Schweigend griffen vier Hände zu.

Als Lundquist wenig später wieder eintrat, lag Simone ausgestreckt auf dem Rücken. Er schauderte, wollte gar nicht wissen, wie es dazu gekommen war.

Eine gefühlte Ewigkeit lang beobachtete der Ermittler mit einer Mischung aus Faszination und Abscheu die Arbeit des Rechtsmediziners. Dessen Hände eröffneten mit geübten Bewegungen den Körper des Mädchens, legten Organe frei, entnahmen und wogen sie, der Assistent dokumentierte die Gewichte, notierte Analyseanfragen.

Zwei Stunden später wusste Lundquist, wie Simone gestorben war.

Der Gerichtsmediziner hatte ruhig und präzise gearbeitet, sprach in ein Diktiergerät, das in einer Halterung über dem Seziertisch befestigt war. Seine Stimme klang angenehm, die Worte waren grausam.

»Kein Sperma in Mund und Kehle«, der zweite Mediziner untersuchte entnommenes Gewebe an einem anderen Arbeitstisch voller Gerätschaften, von denen Sven nicht hätte sagen können, um was es sich handelte.

»Todesursache ist Genickbruch. Siehst du? Der dritte, vierte und fünfte Halswirbel sind getroffen worden.«

»Und das Pulver?«

»Ich tippe auf ein Barbiturat. Erst ruhig gestellt, dann getötet.«

In das folgende Schweigen hinein fragte Sven: »Braucht man viel Kraft, um einen Genickbruch herbeizuführen?«

»Du meinst, ob auch eine Frau den Mord begangen haben könnte? Ja! Entschlossenheit ist notwendig, eine gewisse Sportlichkeit. Ich habe vor einiger Zeit einen Fachartikel gelesen, der sich mit dem Mord an einem Jugendlichen beschäftigte, den Gleichaltrige umgebracht haben. Sie ließen ihn in den Bordstein beißen und sprangen in sein Genick.«

Lundquist schüttelte sich.

»Wie alt waren die denn?«

»Zwischen vierzehn und sechzehn.«

»Da ist noch ein Detail, das für deine Ermittlungen von Bedeutung sein könnte: Das Mädchen war erst zwölf, sagst du?«, fragte Jussi Andersson plötzlich mit hochgezogenen Augenbrauen.

Sven nickte, quetschte ein »Ja, warum?« aus der Enge des Halses hervor.

»Sie hatte sexuelle Kontakte. Das Hymen ist gerissen und zwar nicht erst vor kurzem. Es gab einen Jungen in ihrem Leben!«

Der Hauptkommissar bemühte sich, diese Neuigkeit zu verarbeiten.

»Ist das üblich? Mit zwölf?«, fragte er etwas später ratlos. »Wie alt mag der Freund sein?«

»Heute probieren die Heranwachsenden früh allerhand aus. Drogen zum Beispiel. Aber eben auch sexuelles Handeln. Viele der 10-Jährigen haben Sexvideos auf ihren Handys, bei denen die Eltern heiße Ohren bekämen, könnten sie einen Blick darauf werfen.«

Er musterte den Ermittler nachdenklich. »Man hat mir erzählt, dass du auch eine Tochter hast. Wie alt ist sie denn?«

»Sechs. Und in vier Jahren hat sie ihren ersten Sex?« Svens Augen funkelten angriffslustig.

Der Rechtsmediziner beschloss, das Thema nicht zu vertiefen.

»Der Mageninhalt«, dozierte Dr. Jussi Andersson und wies auf eine Edelstahlschüssel, »ist ganz unverkennbar. Das ist praktisch nicht zu verwechseln. Pommes, Burger, Cola, ein Dessert. Vielleicht ein Softeis. Sie war also in einem Fast-Food-Restaurant. Die Mahlzeit wurde nicht mehr verdaut, was bedeutet, dass der Tod kurz nach dem Verzehr eintrat. Die genaue Analyse wird zeigen, was er ihr eingeflößt hat. Das Medikament befand sich wahrscheinlich in der Cola. Der Täter muss es vorher aufgelöst oder in flüssiger Form besessen haben, er konnte ja schlecht mit einem Holzspatel im Getränk des Mädchens herumrühren, bis die Tabletten sich aufgelöst hatten. Das dauert viel zu lang. Ist auffällig. Sie wäre eventuell misstrauisch geworden.«

»Weiße Krümel in der Cola? Nein, das geht nicht! Das würde ja sogar mir auffallen«, stimmte Lundquist zu.

»Ach, weißt du, manchmal ist das nur eine Frage der passenden Erklärung. Zum Beispiel könnte der Mörder eine Fritte hineinfallen lassen. ›Ach, wie ungeschickt von mir. Sieh mal, nun sind ein paar Krümel in der Cola, stört dich das?‹ und schon ist für das Kind alles klar.«

»Simone war zwölf«, wehrte Sven schwach ab.

»Ja, aber das muss ja nicht bedeuten, dass sie nicht manchen Menschen gern geglaubt hat, oder?«, grinste Jussi breit. »Meine Schwester war auch so. Was der Lehrer gesagt hat, war alles Quatsch, erst wenn unser Vater es bestätigte, wurde es wahr. Ihm und seinem Wissen hat sie bedingungslos vertraut. Aber, um wieder auf das Tablettenproblem zurückzukommen, einfacher wäre es, sie vorher aufzulösen – allerdings hast du dann eine milchig trübe Flüssigkeit, meist nicht homogen. Das Krümelproblem bleibt, sie sind nur kleiner.«

Während er sprach, räumte er einige Gerätschaften zur Seite und signalisierte dem Helfer, er könne damit beginnen, den Körper wieder zu schließen. Der zweite Mediziner beschriftete in der Zwischenzeit die letzten Proben, die zur Analyse vorbereitet werden sollten.

»Ansonsten war das Mädchen völlig gesund. Und da wir weder Sperma noch typische Hämatome entdeckt haben, ist sie wohl auch nicht Opfer einer Vergewaltigung geworden. Wir untersuchen das vaginale Gewebe noch gründlich auf Mikro-Einrisse und Spuren, die auf die Verwendung eines Kondoms schließen lassen.«

»Gibt es schon einen Verdächtigen?«, erkundigte er sich dann.

»Die Mutter hat ihren Ex-Mann beschuldigt. Sie ist fest davon überzeugt, dass der Vater das Mädchen missbraucht und danach umgebracht hat, um seiner geschiedenen Frau das größtmögliche Leid zuzufügen. Im Moment versuchen wir noch, ihn aufzuspüren. Sein Handy ist bedauerlicherweise ausgeschaltet.«

Svens Mobiltelefon brummte in der Tasche.

»Sven!«, rief Lars aufgeregt, »Wir haben Gottwald gefunden. Er ist jetzt bei sich zu Hause. Ich hole dich ab!«